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Samstag, 9. Mai 2015
BSG, 9/9a BV 196/87 vom 15.02.1988, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht



9/9a BV 196/87





Beschluß





in dem Rechtsstreit







Klägerin, Antragstellerin



und Beschwerdeführerin,



Prozeßbevollmächtigte:







Beklagter, Antragsgegner



und Beschwerdegegner.







Das Bundessozialgericht, 9. Senat, hat am 15. Februar 1988



beschlossen:







Der Antrag der Klägerin, ihr Prozeßkostenhilfe für das Ver-



fahren vor dem Bundessozialgericht zu gewähren und Rechts-



anwalt K als Prozeßbevollmächtigten beizuordnen,



wird abgelehnt.







Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der



Revision durch das Landessozialgericht Niedersachsen im



Urteil vom 14. August 1987 wird als unzulässig verworfen.







- 2 -







Kosten sind nicht zu erstatten.







G r ü n d e :







Prozeßkostenhilfe kann der Klägerin nicht gewährt werden, weil



ihre Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg



bietet (§ 73a Sozialgerichtsgesetz -SGG- iVm § 11H Abs 1 Satz 1



Zivilprozeßordnung -ZPO-).







Die Revision ist nicht durch das Bundessozialgericht (BSG) zuzu-



lassen; denn die Klägerin hat einen Beweisantrag, den das Lan-



dessozialgericht (LSG) ohne hinreichende Begründung übergangen



haben soll (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 iVm § 103), nicht form-



gerecht bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).







Einen solchen Antrag hätte sie entweder nach dem Inhalt der



Sitzungsniederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem



Berufungsgericht oder wenigstens nach dem Urteilsinhalt gestellt



oder vorher schriftlich vorgebracht und bis zum Ende der Sitzung



aufrecht erhalten haben müssen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 12). Nach



der Beschwerdebegründung ist keine dieser Voraussetzungen er-



füllt.







Die Klägerin bezieht sich lediglich auf einen mündlich gestellten



Antrag, der nicht protokolliert wurde. Sie behauptet nicht, er



sei in die Sitzungsniederschrift aufgenommen worden (§§ 153, 122







- 3 -







SGG iVm § 159 Abs 1 Satz 1, § 160 Abs 3 Nr 2 und Abs 6 ZPO), was



auch nicht zutrifft. Ein Beweisantrag, der über § 160 Abs 2 Nr 3



Halbsatz 2 SGG für die Zulassung der Revision bedeutsam wird, muß



protokolliert sein; er gehört zu den Anträgen "im weiteren Sinn",



und zwar zu den rechtserheblichen Angriffsmitteln, die in § 136



Abs 2 Satz 2 SGG neben dem "erhobenen Anspruch" (vgl dazu § 123



SGG) genannt werden. Das Beachten dieser vorgeschriebenen Förm-



lichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden (§ 165



ZPO). wenn eine Klägerin - wie im gegenwärtigen Fall - vor dem



LSG durch einen Rechtsanwalt vertreten war, ist der protokol-



lierte Antrag iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG ebenso maß-



geblich, wie wenn sie nicht rechtskundig vertreten war. Im



zweiten Fall muß das Revisionsgericht davon ausgehen, daß der



Vorsitzende des Berufungsgerichts einen gestellten Beweisantrag



hätte protokollieren lassen (§ 112 Abs 2 Satz 2 SGG iVm § 160



Abs 3 Nr 2 ZPO). Die Klägerin behauptet nicht, sie habe durch



ihren Rechtsanwalt die Protokollierung eines Beweisantrages, auf



den die Beschwerde abstellt, beantragt (§ 160 Abs 4 Satz 1 ZPO)



und dies sei abgelehnt worden (§ 160 Abs 4 Satz 2 und 3 ZPO).



Schließlich hat die Klägerin keine Protokollergänzung oder -be-



richtigung beantragt (§ 160a Abs 2 Satz 3 und § 164 ZPO).







Ein Beweisantrag, auf den sich die Klägerin jetzt bezieht, wird



auch nicht im Tatbestand des Berufungsurteils wiedergegeben



(§ 136 Abs 1 Nr 5 und Abs 2 Satz 2 SGG). Insoweit hat die Kläge-



rin keine Berichtigung des Urteils beantragt (§ 139 SGG). Eine



Prozeßhandlung, die für die Eröffnung des Revisionsverfahrens



unerläßlich wäre, muß in verfahrensrechtlich vorgeschriebener







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Form beurkundet sein, dh im Protokoll oder wenigstens im Ur-



teilstatbestand. Die Zulassung der Revision kann nicht davon ab-



hängig sein, ob sich bei einer vom Revisionsgericht zu veran-



lassenden Zeugenvernehmung die Richter, der Schriftführer oder



ein Beteiligter daran erinnern können, daß der Kläger eine wei-



tere Beweiserhebung mündlich beantragt hat.







Die Beschwerdebegründung verweist mit ihrem Bezug auf die beiden



Schriftsätze der Klägerin vom 14. März 1986 und 29. April 1986



nicht auf einen solchen Beweisantrag. Die Beschwerde wird darauf



-gestützt, daß ein Ursachenzusammenhang zwischen einer Leberschä-



digung und einer Lues-Behandlung mit arsenhaltigem Neo-Salvarsan



nicht geprüft worden sei. Zwar hat die Klägerin in den bezeich-



neten Schriftsätzen für notwendig erklärt, noch durch ein Gut-



achten zu klären, ob eine Salvarsan-Behandlung ihren Leberschaden



verursacht habe. Aber damit stellte sie kein neues Beweisthema



zur Diskussion; denn Prof. Dr. K , dessen Gutachten vom



25. Mai 1984 die Klägerin damals beanstandete und noch weiterhin



für unzureichend hält, hat auch eine Leberschädigung durch andere



Medikamente als Quecksilberpräparate zur Behandlung einer Lues



nicht als wahrscheinlich beurteilt (vgl das wörtliche Zitat in



der Beschwerdebegründung). Bei dieser Sachlage hätte die Klägerin



zu ihren schriftlichen Anträgen darlegen müssen, warum das Gut-



achten insoweit unzureichend sein sollte. Abgesehen davon wird



mit der Beschwerde nicht schlüssig geltend gemacht, nach dem



weiteren Verfahrensverlauf müsse angenommen werden, daß der Be-



weisantrag in der mündlichen Verhandlung aufrecht erhalten wurde



(BSGE 3, 284, 285; SozR 1500 § 160 Nr 12). Falls der Klägerin die







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nach ihrer schriftlichen Beweisanregung vorgenommene Sachaufklä-



rung nicht genügte, hätte ihr Prozeßbevollmächtigter im Hinblick



auf § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG zuletzt vor der mündlichen



Verhandlung oder im Termin selbst einen ergänzenden Beweisantrag



entsprechend dem jetzigen Beschwerdevorbringen ausdrücklich stel-



len müssen. Die Klägerin behauptete nicht, sie habe genau einen



derartigen Beweisantrag in der Sitzung vorgebracht. Bei dieser



Verfahrenslage durfte das LSG davon ausgehen, daß eine Begutach-



tung über eine Verursachung durch Neo-Salvarsan nicht mehr bean-



tragt wurde.







Die Kostenentscheidung entspricht § 193 SGG.

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BSG, 5 RJ 26/94 vom 12.12.1995, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT



Im Namen des Volkes



Urteil



in dem Rechtsstreit



Az: 5 RJ 26/94



Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:



gegen



Landesversicherungsanstalt Hessen,

Frankfurt, Städelstraße 28,

Beklagte und Revisionsbeklagte.



Der 5. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 12.

Dezember 1995 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. B.,

die Richter B. und Dr. F. sowie die ehrenamtliche Richterin W.

und den ehrenamtlichen Richter van S. für Recht erkannt:



Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Hessischen Landessozial-gerichts

vom 15. Oktober 1993 aufgehoben.



Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht

zurückverwiesen.



- 2 -



Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung

vorbehalten.



- 3 -



Gründe:



I



Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des

60. Lebensjahres und einer Arbeitslosigkeit von mindestens 52 Wochen in den letzten

eineinhalb Jahren an den Kläger. Streitig ist insbesondere das maßgebliche

Geburtsdatum des Klägers.



Der Kläger ist türkischer Nationalität. Er arbeitete zwischen 1969 und 1988 versi-

cherungspflichtig in der Bundesrepublik Deutschland. Bei der Erteilung der Versi-

cherungsnummer in der gesetzlichen Rentenversicherung wurde als Geburtsdatum der

10. Januar 1935 zugrunde gelegt. Seinen unter der Vorlage einer Entscheidung des

Amtsgerichts E /Türkei, wonach sein Geburtsdatum auf den 10. Januar 1930 geändert

worden war, gestellten Antrag auf Gewährung von Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs 2

der Reichsversicherungsordnung (RVO) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom

16. Februar 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 1991 ab,

weil der Kläger das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet habe.



Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts vom

14. August 1992; Beschluß des Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1993). Zur

Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Nach den Urteilen des

Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. und 14. Oktober 1992 - 5 RJ 16/92 und 5 RJ 24/92 -

habe ein Versicherter grundsätzlich keinen Anspruch darauf, daß der Versicherungsträger

ein anderes Geburtsdatum als das bei der Bildung der Versicherungsnummer

berücksichtigte verwende. Denn richtiges Geburtsdatum sei stets und auf Dauer das von

dem Versicherungsträger bei Vergabe der Versicherungsnummer zugrunde gelegte

Geburtsdatum, wenn dieses den im damaligen Zeitpunkt vom Versicherten gemachten

Angaben entspreche und mit den von ihm damals vorgelegten ausländischen Urkunden

übereinstimme. Die spätere Änderung des Geburtsdatums sei daher nicht zu

berücksichtigen; somit entfalle die Notwendigkeit weiterer Beweiserhebung. Diese

Grundsätze seien auch auf den sogenannten "Leistungsfall" zu beziehen.



Der Kläger hat die vom BSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des

§ 1248 Abs 2 RVO und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Er ist der Ansicht: Der Versicherungsträger sei bei Geltendmachung von Lei-

stungsansprüchen verpflichtet, das richtige Geburtsdatum für den Leistungsfall

festzustellen. Das in der Versicherungsnummer enthaltene Geburtsdatum des Ver-

sicherten könne nicht präjudiziell für die Festlegung des Leistungsfalls sein; so habe das

BSG im Urteil vom 29. November 1985 (4a RJ 9/85 - SozR 2200 § 1248 Nr 44) auch

entschieden, daß der Versicherungsträger stets verpflichtet sei, im Leistungsfall das



- 4 -



richtige Geburtsdatum aufgrund freier Beweiswürdigung festzustellen. Im Rahmen dieser

Beweiswürdigung komme dem durch ausländische Gerichte festgesetzten Geburtsdatum

zumindest Indizfunktion ("prima facie"-Beweis) zu. Dieses geänderte Geburtsdatum

werde auch von deutschen Behörden, zB der Ausländerbehörde, dem Arbeitsamt und der

Krankenkasse, als verbindlich anerkannt.

Der Kläger beantragt,

den Beschluß des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1993, das

Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 14. August 1992 sowie den Bescheid der

Beklagten vom 16. Februar 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom

25. Januar 1991 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter

Zugrundelegung des Geburtsdatums vom 10. Januar 1930 ab 1. Februar 1990

Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs 2 RVO zu gewähren,



hilfsweise,



den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG

zurückzuverweisen.



Die Beklagte beantragt,



die Revision zurückzuweisen.



Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die Rügen des Klägers für un-

begründet. Den vom Kläger angebotenen Zeugenbeweis sieht sie für prinzipiell nicht

geeignet an, das Geburtsdatum eines Versicherten zu beweisen, weil es sich allenfalls um

einen Beweis vom "Hörensagen" handelte. Im weiteren führt sie aus: Zeugen, die

behaupteten, im gleichen Jahr wie der Kläger geboren zu sein, könnten diese Tatsache

nicht aus eigener Kenntnis bekunden. Das Geburtsdatum der Zeugen sei ebensowenig zu

beweisen, wie das des Klägers. Wenn Eintragungen in türkische Geburtsregister falsch

sein könnten, könnten dies auch die Eintragungen hinsichtlich der Zeugen sein.



II



Die kraft Zulassung durch das BSG statthafte Revision des Klägers ist iS der Aufhebung

des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und

Entscheidung an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen

für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Das Berufungsgericht wird zum Alter des

Klägers und zu den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des vorgezogenen

Altersruhegeldes wegen Arbeitslosigkeit noch weitere Ermittlungen anzustellen haben.

Nach § 1248 Abs 2 RVO erhält Altersruhegeld auf Antrag der Versicherte, der - neben

weiteren Voraussetzungen - das 60. Lebensjahr vollendet hat. Feststellungen zum Alter



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des Klägers hat das Berufungsgericht noch nicht getroffen. Es hat das Geburtsdatum des

Klägers vielmehr der bisher für ihn vergebenen Versicherungsnummer entnommen und

ausgeführt, ein Versicherter habe grundsätzlich kein Recht darauf, daß der

Versicherungsträger ein anderes Geburtsdatum als das bei der Bildung der

Versicherungsnummer berücksichtigte verwende. Bei der Gewährung von Altersruhegeld

gemäß § 1248 Abs 2 RVO sind die anspruchsbegründenden Tatsachen im Leistungsfall

jedoch von Amts wegen unter Ausschöpfung aller erreichbaren und tauglichen

Beweismittel nach den auch sonst im sozialrechtlichen Verwaltungs- und

Gerichtsverfahren geltenden Regeln festzustellen (dazu unten noch näher). Insoweit stellt

§ 1248 Abs 2 RVO als Anspruchsgrundlage keine Ausnahme vom Modell

leistungsrechtfertigender Normen iS des § 2 Abs 1 Satz 2 des Ersten Buches

Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) dar, für die es selbstverständlich ist, daß

zur ordnungsgemäßen Leistungsabwicklung der den jeweiligen Tatbestandsmerkmalen

entsprechende Sachverhalt im Einzelfall nach §§ 20 ff des Zehnten Buches

Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) und §§ 117 ff SGG konkret und

vollständig zu ermitteln und festzuschreiben ist.



Eine Besonderheit gegenüber den allgemein gültigen Grundsätzen besteht hierbei auch

nicht in der Frage, ob und in welchem Umfang es eine Bindung an zuvor schon in

anderem rechtlichen Zusammenhang und auf andere rechtliche Verfahrensweise

vorgenommene Notierungen von Daten gibt. Greifen nicht derartige generelle

Gesichtspunkte prozeß- oder auch sozialversicherungsrechtlicher Art (zB Beweis-

sicherung nach § 76 SGG, Tatbestandswirkung, Vormerkung von Versicherungszeiten)

mit bestätigender - dh Zweifel erschwerender oder sogar ausschließender - Wirkung ein,

bleibt es für eine anspruchsbegründende Tatsache beim Grundsatz der aktuell auf den

Leistungsfall bezogenen vollen Ermittlung und Beweisführung. Der Tatsache des

Geburtsdatums eines Versicherten ist durch die Verwendung als Bestandteil der

Versicherungsnummer in dieser Hinsicht keine Sonderstellung eingeräumt.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts gibt es weder eine materiell-rechtliche

Bestimmung noch einen sonstigen Rechtssatz, wonach für den Versicherungsfall

maßgebendes Geburtsdatum stets und auf Dauer das vom Versicherungsträger bei der

Vergabe der Versicherungsnummer zugrunde gelegte Geburtsdatum ist, wenn dieses den

im damaligen Zeitpunkt von dem Versicherten gemachten Angaben entspricht und mit

den von ihm damals vorgelegten ausländischen Urkunden übereinstimmt. Die insoweit

vom LSG zitierten Urteile des erkennenden Senats vom 13. und 14. Oktober 1992 (5 RJ

16/92 und 24/92 -BSGE 71, 170 = SozR 3-5748 § 1 Nr 1 und SozVers 1993, 278)

betreffen allein den Anspruch eines Versicherten auf Berichtigung seiner bisherigen

Versicherungsnummer (Vergabe einer neuen Versicherungsnummer) bei geändertem

Geburtsdatum. In diesen Entscheidungen hat der Senat auf die Ordnungsfunktion der

Versicherungsnummer abgestellt, die lediglich dazu dient, die personenbezogene



- 6 -



Zuordnung der Daten für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe nach dem Sozi-

algesetzbuch (SGB) zu ermöglichen, § 147 des Sechsten Buches Sozialgesetz-

buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI). Hierzu hat er ausgeführt, mit der auf

die Ordnungsfunktion beschränkten Aufgabe der Versicherungsnummer sei nicht zu

vereinbaren, daß der Versicherungsträger nach ordnungsgemäßer Bildung der

Versicherungsnummer gezwungen werden solle, späterem Vorbringen des Versicherten

über die Unrichtigkeit der seinerzeit von ihm selbst gemachten Angaben nachzugehen,

um in aller Regel nur feststellen zu können, daß ein anderes Geburtsdatum allenfalls

möglich, das genaue Geburtsdatum aber ohnehin nicht feststellbar sei.



Damit hat der Senat zwar erkannt, daß sich ein "richtiges" Geburtsdatum für die Bildung

einer neuen Versicherungsnummer nach Tag, Monat und Jahr Jahrzehnte nach der

Geburt selbst im Inland in aller Regel nachträglich nicht bestimmen läßt, es sei denn

anhand der Eintragungen im Geburtenbuch oder anderer geburtsnah erstellter Urkunden.

Er hat aber auch ausgeführt, daß eine Entscheidung des Versicherungsträgers, nunmehr

bei Bildung der Versicherungsnummer ein anderes Geburtsdatum zu verwenden, nicht

vorgreiflich für eine spätere Entscheidung im Leistungsfall oder bindend für andere

Behörden sein kann, eine Divergenz zwischen dem zur Bildung der

Versicherungsnummer angenommenen Geburtsdatum und dem Geburtsdatum, das den

altersabhängigen Leistungsfall begründet, mithin grundsätzlich nicht auszuschließen ist.

Inwieweit der Versicherungsträger auch im Leistungsfall von dem bei Eintritt in die

Versicherung angegebenen Geburtsdatum ausgehen darf, hat der Senat ausdrücklich

offengelassen.



Wegen der unterschiedlichen Bedeutung des Geburtsdatums bei Bildung der Versi-

cherungsnummer (Ordnungsfunktion oder auch "Identifizierungsmerkmal", vgl Se-

natsurteil vom 12. April 1995 - 5 RJ 48/94) und im Leistungsfall (Anspruchsbegründung)

mußte der Senat deshalb bisher auch nicht entscheiden, ob er sich der Ansicht des

4. Senats im Urteil vom 29. November 1985 (4a RJ 9/85 - SozR 2200 § 1248 Nr 44)

anschließt, wonach der Versicherungsträger stets verpflichtet ist, im Leistungsfall das

richtige Geburtsdatum festzustellen, auch wenn der Versicherte vorher bei der Bildung der

Versicherungsnummer ein anderes - für den Leistungsfall ungünstigeres - Geburtsdatum

angegeben hat. Der erkennende Senat tritt nunmehr der Auffassung des 4. Senats bei.



Dem geltenden Recht läßt sich keine Grundlage dafür entnehmen, daß die inner-

staatlichen Sozialleistungsträger das Recht haben, bei der Beurteilung des Leistungsfalles

ohne Prüfung die frühere oder auch spätere Eintragung in den ausländischen

Personenstandsunterlagen zugrunde zu legen. Ergeben sich Zweifel, sind sie stets im

Wege gesonderter Tatsachenfeststellung auszuräumen. Die bereits dargelegte

Normstruktur des § 1248 Abs 2 RVO als Anspruchsgrundlage läßt keine andere

Vorgehensweise zu.



- 7 -



Für die verbindliche Feststellung von Personenstandsdaten ist weder im materiellen

Sozialrecht noch im Sozialverfahrensrecht eine die Besonderheit der Problematik

betreffende Regelung getroffen worden. Während bei einer Geburt in Deutschland das

Geburtenbuch als Personenstandsbuch den Tag der Geburt beweist (§ 1 Abs 2, § 2

Abs 2, §§ 16 ff, 60 Abs 1 Satz 1 des Personenstandsgesetzes idF der

Bekanntmachung vom 8. August 1957 ) und Personenstandsurkunden,

zu denen der Geburtsschein und die Geburtsurkunde gehören (§§ 61a, 61c, 62 PStG),

dieselbe Beweiskraft haben wie Personenstandsbücher (§ 66 PStG), kann ein

gleichwertiger Beweis gestützt bloß auf Eintragungen in ausländischen

Personenstandsbüchern nicht geführt werden. Denn die Personenstandsbuchführung ist

vom Territorialitätsprinzip beherrscht. Die deutschen Personenstandsbücher beurkunden

also nur innerstaatliche Personenstandsfälle (vgl im einzelnen BSG Urteil vom

29. November 1985 - 4a RJ 9/85 -SozR 2200 § 1248 Nr 44). Demgemäß gilt die

Beweisregel der § 60 Abs 1 Satz 1, § 66 PStG nicht für eine ausländische

Geburtsurkunde. Diese kann zwar ("geeignetes") Beweismittel sein; ihr Inhalt unterliegt im

Gerichtsverfahren aber - nicht anders als ihre Echtheit (§ 438 der Zivilprozeßordnung

) - freier richterlicher Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 SGG.



Eine erhöhte Beweiskraft erlangen ausländische Personenstandsunterlagen auch nicht

über Art 2 Abs 1 des Übereinkommens über die Erteilung gewisser für das Ausland

bestimmter Auszüge aus Personenstandsbüchern vom 27. September 1956 (BGBl II

1961, 1055; für die Bundesrepublik in Kraft ab 23. Dezember 1961 - BGBl II 1962, 42)

oder über Art 2 Abs 1 des Übereinkommens betreffend die Entscheidungen über die

Berichtigung von Eintragungen in Personenstandsbüchern (Zivilstandsregister) vom

10. September 1964 (BGBl II 1969, 445 und 446, in Kraft ab 25. Juli 1969 - BGBl II 1969,

2054). Denn entsprechende Unterlagen erhalten hierdurch nur die Beweiskraft einer

ausländischen, nicht einer deutschen öffentlichen Urkunde. Eine die Geburt des Klägers

betreffende Eintragung wird aus einem türkischen Personenstandsregister nicht in ein

deutsches Personenstandsbuch übernommen (vgl hierzu im einzelnen: BSG Urteil vom

29. November 1985 - 4a RJ 9/85 - SozR 2200 § 1248 Nr 44).



Das Urteil des türkischen Amtsgerichts E vom 28. August 1987 bindet die deutschen

Sozialleistungsträger und Gerichte nicht. Dieses Urteil ordnet eine Berichtigung des in

V /E geführten türkischen Personenstandsregisters an; es kann keine

weitergehenden Wirkungen haben, als die aufgrund dieses Urteils berichtigte Eintragung

im türkischen Personenstandsregister selbst (BSG Urteil vom 29. November 1985 - 4a RJ

9/85 - SozR 2200 § 1248 Nr 44; Urteil vom 29. Januar 1985 - 10 RKg 20/83 - SozR 5870

§ 2 Nr 40).



Unterliegt bei fehlender Bindung einer - berichtigten - Eintragung in ein türkisches

Personenstandsbuch die Feststellung des Tags der Geburt des Klägers mithin der freien



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Beweiswürdigung des deutschen Gerichts, so kann die Auffassung des LSG nicht

zutreffen, es sei - wenn auch nicht an die berichtigte zweite, so doch - an die erste

Feststellung des Geburtsdatums bei Vergabe der Versicherungsnummer gebunden. Die

erste wie die berichtigte Eintragung in türkische Personenstandsunterlagen sind in bezug

auf ihre Beweiskraft, die sie in der Bundesrepublik Deutschland entfalten, darin gleich zu

beurteilen, daß sie beide die deutschen Sozialleistungsträger und Gerichte nicht binden.



Danach mußte das angefochtene Urteil auf die Revision des Klägers aufgehoben und

dem LSG durch Zurückverweisung der Sache Gelegenheit gegeben werden zu prüfen, ob

der Vortrag des Klägers den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Beweisführung

genügt, um gegebenenfalls sodann den Geburtstag des Klägers - und daran

anschließend die Vollendung des 60. Lebensjahres - aufgrund einer Beweiserhebung, die

den allgemein dafür geltenden Regeln folgt, in freier Beweiswürdigung festzustellen.



Dabei wird es im Rahmen der Untersuchungsmaxime (§ 103 SGG) lediglich solche

Ermittlungen anzustellen haben, die nach "Lage der Sache" erforderlich sind

(Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl 1993, RdNr 7 zu § 103), dh, es hat nur, aber auch

stets zu ermitteln, soweit Sachverhalt und Beteiligtenvortrag Nachforschungen nahelegen

(BSG Beschluß vom 14. September 1955 - 10 RV 490/55 -SozR Nr 3 zu § 103). Seine

Ermittlungspflicht wird durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten beschränkt

(Meyer-Ladewig, aaO). Gerade in Fällen wie dem vorliegenden hängen die

Ermittlungsmöglichkeit und -notwendigkeit maßgeblich von der Benennung

des Beweismittels durch den Kläger - mithin seiner Mitwirkung - ab.



Beim - hier angebotenen - Zeugenbeweis wird der Beweis gemäß § 118 Abs 1 SGG iVm

§ 373 ZPO durch die Benennung der Zeugen und die Bezeichnung der Tatsachen

angetreten, über welche die Vernehmung der Zeugen stattfinden soll. Dazu wird sich das

LSG Gedanken machen müssen zur Substantiierung der Beweisbehauptung, denn die

Ablehnung des Beweises für beweiserhebliche Tatsachen ist zulässig, wenn die

Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, daß ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann

oder wenn die Bezeichnung der Tatsachen zwar in das Gewand einer bestimmt

aufgestellten Behauptung gekleidet, gleichwohl aber nur aufs Geradewohl gemacht sind.

Bei solchen gleichsam "ins Blaue" aufgestellten Behauptungen ist ein Beweisantrag

rechtsmißbräuchlich (Bundesgerichtshof , Urteil vom 15. Dezember 1994 - 7 ZR

140/93 - NJW-RR 1995, 722 ff).



Die Behauptung einer bloß vermuteten Tatsache im Prozeß ist nur dann unzulässig, wenn

der Beteiligte sie ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich aufstellt; bei der Annahme von

Willkür in dem Sinne ist Zurückhaltung geboten (BGH, Urteil vom 25. April 1995 - VI ZR

178/94 - MDR 1995, 738). Wird nämlich eine Behauptung nach schlüssigem Vorbringen

des Klägers unter Beweis gestellt, so hat das Gericht diesen Beweis dem Gebot der



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Erschöpfung der Beweismittel folgend (Art 103 Abs 1 Grundgesetz , § 118 Abs 1

SGG, § 286 ZPO) zu erheben (Bundesverfassungsgericht Beschluß vom

28. Februar 1992 - 2 BvR 1179/91 - NJW 1993, 254, 255; Beschluß vom 20. April

1982 - 1 BvR 1429/81 - BVerfGE 60, 250, 252; Bundesverwaltungsgericht

Urteil vom 11. Dezember 1981 - 4 C 71/79 - NVwZ 1982, 244).



Entschließt sich das LSG hiernach zur Erhebung des angebotenen

Beweises - gegebenenfalls durch Vernehmung der aufgebotenen Zeugen im Wege der

Rechtshilfe in der Türkei -, so hat es das Ergebnis der Beweisaufnahme iS des § 128

Abs 1 SGG frei zu würdigen. Dabei verstößt es gegen den Grundsatz der freien

Beweiswürdigung, wenn das Gericht die Glaubwürdigkeit eines Zeugen allein deshalb

verneint, weil der Zeuge einem Prozeßbeteiligten nahe steht und bei seiner Vernehmung

keine Umstände zu Tage getreten sind, die die von vornherein angenommenen Bedenken

gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen zerstreut hätten (BGH, Urteil vom 18. Januar

1995 - VIII ZR 23/94 - MDR 1995, 629). § 286 Abs 1 ZPO, der über § 202 SGG auch im

sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung findet (§ 128 Abs 1 SGG spricht - pauschaler -

nur vom "Gesamtergebnis des Verfahrens"), gebietet vielmehr, eine individuelle

Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der

Beweisaufnahme vorzunehmen. Auch die Annahme möglichen Eigeninteresses eines

aufgebotenen Zeugen führt nicht per se zur Verneinung der Glaubwürdigkeit dieses

Zeugen. Eine solche Annahme begründete eine - verfahrensrechtlich unzulässige -

abstrakte Beweisregel, die das Gesetz nicht kennt (BGH Urteil vom 3. November

1987 - VI ZR 95/87 -MDR 1988, 307 zur sogenannten Beifahrer-Rechtsprechung). Es gibt

aber keinen Erfahrungssatz des Inhalts, daß Zeugen, die einem Prozeßbeteiligten nahe

stehen, von vornherein als parteiisch und unzuverlässig zu gelten haben und ihre Aussa-

gen deswegen grundsätzlich unbrauchbar sind (BGH Urteil vom 18. Januar 1995 - VIII ZR

23/94 - MDR 1995, 629). Eine entsprechende Einschränkung der freien Beweiswürdigung

ist verfahrenswidrig (vgl hierzu Baumgärtel, Zwei wichtige BGH-Entscheidungen zu

Ausforschungsbeweis und "Behauptung ins Blaue hinein", MDR 1995, 987).



Bei seiner Beweiswürdigung wird das LSG berücksichtigen können, daß der Kläger die

Tatsache seiner früheren Geburt schon längere Zeit gewußt, der Beklagten gegenüber

aber nicht kund getan hat. Gemäß § 444 ZPO können nämlich im Falle der Vereitelung

des Urkundenbeweises Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit und den

Inhalt der Urkunde als bewiesen angesehen werden. Dieser Vorschrift wohnt der

allgemeine Rechtsgedanke inne, daß für den Fall, daß eine Partei eine Beweisführung

(teilweise) unmöglich macht, die Behauptung des Prozeßgegners zu der

beweiserheblichen Problematik als bewiesen angesehen werden kann

(Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO-Komm, 53. Aufl 1995, RdNrn 1 und 2 zu

§ 444). Eine arglistige oder auch nur fahrlässige Vereitelung einer Beweisführung durch

ein Tun oder pflichtwidriges Unterlassen (vgl BSG Urteil vom 10. August 1993 - 9/9a RV



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10/92 - NJW 1994, 1303) kann im Rahmen freier Beweiswürdigung für die Richtigkeit des

gegnerischen Vorbringens gewürdigt werden (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann,

aaO, RdNr 2). Unabdingbare Voraussetzung für eine solche Beweiswürdigung wird aber

sein, daß das pflichtwidrige Handeln oder Unterlassen den Beteiligten, der den

(vereitelten) Beweis zu führen hätte, in Beweisnot, dh in eine ausweglose Lage, gebracht

hat.



Das LSG kann ferner berücksichtigen, daß der Kläger - gestützt durch Erzählungen seiner

Eltern oder weiterer Verwandter bzw durch bestimmte Ereignisse wie die Einschulung -

möglicherweise selbst über lange Jahre davon überzeugt gewesen ist, iS des bisher

angenommenen Geburtsdatums später geboren zu sein. Dies kann unter Umständen zur

Prüfung Anlaß geben, ob in der nachträglichen Behauptung eines früheren

Geburtsdatums ein "venire contra factum proprium" liegt, etwa wenn der Kläger vorher

selbst das "alte" Geburtsdatum stets als das richtige im Geschäftsverkehr verwendet und

darauf gestützt rechtliche Vorteile genutzt hat. Denn das Verbot widersprüchlichen

Verhaltens gilt als Sonderfall des Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben auch im

Bereich des öffentlichen Rechts, insbesondere des Sozialversicherungsrechts, und

kommt in diesem Sinne sowohl für das Handeln des Versicherungsträgers als auch für

das Verhalten des Versicherten in Betracht (BSG Urteil vom 21. Juli 1981 - 7 RAr 37/80 -

nicht veröffentlicht). Die Erkenntnis widersprüchlichen Verhaltens wiederum kann bei der

Beweiswürdigung die Überzeugung rechtfertigen, daß das "neue" Geburtsdatum nur

zweckgerichtet - zur früheren Erlangung einer Sozialleistung - behauptet und die Berichti-

gung der Personenstandsdaten in der Türkei nur deswegen veranlaßt worden ist. Diese

Überzeugung könnte - allerdings unter Abwägung aller Umstände - vorliegend dadurch

gestützt werden, daß der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren angegeben hat

(Schriftsatz vom 12. März 1992), Unterlagen über einen Schulbesuch oder Zeugnisse

könnten nicht beigebracht werden, weil er keine Schule besucht habe, während er zur

Begründung seiner Revision (Schriftsatz vom 6. Juni 1994) ausführt, der Zeuge A

hätte Fragen zum gleichzeitigen Schulbesuch beantworten können.



Bei der Beweiswürdigung kann ferner Berücksichtigung finden, daß eine auffallend hohe

Zahl nachträglicher Berichtigungen ausländischer Geburtseinträge in Fällen, in denen dies

Leistungsbewerbern in der Bundesrepublik günstig erscheinen kann, vorliegt (BSG Urteil

vom 29. November 1985 - 4a RJ 9/85 - SozR 2200 § 1248 Nr 44). Wie der 4. Senat in

seinem Beschluß vom 22. Februar 1995 - 4 S (A) 5/94 - klarstellt, wird hierdurch

allerdings keine abstrakte Beweisregel begründet, die das Gesetz nicht kennt. Vielmehr

handelt es sich allein um die Berücksichtigung von Erfahrungssätzen, die das

Tatsachengericht im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung zu gewichten hat.

Soweit der 10. Senat des BSG in seinem Urteil vom 29. Januar 1985 - 10 RKg 20/83 -

(SozR 5870 § 2 Nr 40) ausführt, die aufgrund eines Urteils berichtigte Eintragung in

türkischen Personenstandsregistern habe die Vermutung der Richtigkeit für sich, ist eine



- 11 -



gesetzlich begründete Vermutung nicht gemeint, da eine solche im Gesetz nicht

ausgesprochen ist. Zu prüfen ist allerdings, ob einer solchen Berichtigung ein hoher

Beweiswert zukommt, was eine "tatsächliche Vermutung" darstellen kann. Diese Prüfung

geschieht im Rahmen der freien Beweiswürdigung des Tatsachengerichts.



Bleibt im Ergebnis der Beweiswürdigung ein non liquet, so gibt die materielle Beweislast

den Ausschlag für die Entscheidung. Sie besagt, daß ein nicht festgestelltes

Tatbestandsmerkmal so zu behandeln ist, als sei es nicht vorhanden (Meyer-Ladewig,

SGG-Komm, RdNr 19 zu § 103). Zu tragen ist der Nachteil der Unerwiesenheit von dem,

zu dessen Gunsten das Tatbestandsmerkmal im Prozeß wirkt (Meyer-Ladewig, aaO,

RdNr 6 zu § 118). Das bedeutet, daß es dann zu keiner Änderung des Geburtsdatums für

die Zwecke der Rentenversicherung kommt, wenn nicht festgestellt werden kann, daß der

Versicherte zu dem nunmehr von ihm behaupteten Zeitpunkt geboren ist.



Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung

vorbehalten.

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BSG, 5 BJ 114/85 vom 14.02.1986, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht

5b BJ 114/85

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Klägerin, Antragstellerin
und Beschwerdeführerin,
Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Beklagte, Antragsgegnerin ‘
und Beschwerdegegnerin.

Der 5b Senat des Bundessozialgerichts hat am 14. Februar
1986

beschlossen:

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Beschwerdeverfahren
vor dem Bundessozialgericht Prozeßkostenhilfe zu bewilli- '
gen und ihr ihren Prozeßbevollmächtigten beizuordnen, wird
abgelehnt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der
Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen
vom 28. Februar 1985 wird als unzulässig verworfen.



- 2 -


Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten
des Beschwerdeverfahrens nicht zu erstatten.

Gründe:

Nach § 73a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm § 11M der Zivil-
prozeßordnung (ZPO) kann einem Beteiligten für das Beschwerde-
verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) Prozeßkostenhilfe nur
dann bewilligt und ein Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigter
beigeordnet werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hin-
reichende Aussicht auf Erfolg bietet. Diese Voraussetzung liegt
hier nicht vor. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG und ebenso auch eine Abweichung des
Berufungsurteils iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG macht die Klägerin
mit der Beschwerde nicht geltend. Anhaltspunkte dafür sind auch
aus den Akten nicht erkennbar.

Der zur Beschwerdebegründung allein gerügte Verfahrensmangel iS
von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist nicht hinreichend bezeichnet. Nach
§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG muß in der Beschwerdebegründung der Ver-
fahrensmangel bezeichnet werden. Die Begründung muß - wie bei der
Verfahrensrevision (vgl § 164 Abs 2 Satz 3 SGG) - die Tatsachen
bezeichnen, die den Mangel ergeben (vgl BSG in SozR 1500 § 160a
Nr 14). Da die Beschwerdebegründung auf einen Beweisantrag ver-
weist, den die Klägerin zu Beginn des Berufungsverfahrens in
ihrer Berufungsbegründungsschrift vom 29. Mai 198U dahin ge-

- 3 -

stellt hat, erneut eine Diagnose von Dr. B. und einen Befund
von einem anderen Facharzt oder einer Klinik nach etwaigem Be- ·
obachtungsaufenthalt einzuholen, hatte sie besonderen Anlaß, nach
Durchführung der vom Landessozialgericht (LSG) angeordneten
Sachaufklärung in Gestalt der Einholung eines Befundberichts des
Dr. B. vom 19. August 198U und des nach zweitägiger sta-
tionärer Untersuchung der Klägerin erstatteten nervenfachärztli-
chen Gutachtens des Dr. F. vom 22. Januar 1985 einen An-
trag auf ergänzende Ermittlungen zu stellen, soweit ihr solche
erforderlich erschienen. Hierzu bestand insbesondere deshalb be-
sonderer Anlaß, weil das LSG dem Sachverständigen im Beweisbe-
schluß auch die Frage gestellt hatte, ob zur Klärung des medizi-
nischen Sachverhalts weitere Ermittlungen erforderlich seien, und
der Sachverständige diese Frage am Ende seines Gutachtens ver-
neint hatte. Spätestens bei Kenntnisnahme des Gutachtens mußte
die Klägerin daher auf eine etwa von ihr noch begehrte weitere
Beweiserhebung hinweisen. Da sie dies nicht getan hat, hat sie
einen Beweisantrag, über den das LSG iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG
hätte hinweggehen können, nicht mehr gestellt. Zur Beschwerdebe-
gründung hätte die Klägerin deshalb im einzelnen darlegen müssen,
daß und inwiefern für das LSG erkennbar ihr Beweisantrag aus der
Berufungsbegründungschrift durch die vom LSG angestellten Er-
mitlungen nicht erledigt war und somit bei der Entscheidung über
ihre Berufung ohne hinreichende Begründung übergangen worden ist.
Solche Darlegungen läßt die Beschwerdebegründung jedoch vermis-
sen.

Mangels der erforderlichen Erfolgsaussicht mußte daher das Gesuch

- 4 -

der Klägerin um Gewährung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung
ihres Prozeßbevollmächtigten abgelehnt werden. Zugleich war die
nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form begründete Be-
schwerde in entsprechender Anwendung des § 169 SGG durch Beschluß
ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter wegen Formmangels als
unzulässig zu verwerfen (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nrn 1 und 5;
BVerfG aaO Nr 30).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des
§ 193 SGG.

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BSG, 3 RK 3/82 vom 23.03.1983, Bundessozialgericht
BSGE 55, 37, 38 ff [BSG 23.03.1983 - 3 RK 3/82] = SozR 2200 § 194 Nr 10



Bundessozialgericht



3 RK 3/82



Verkündet am

23. März 1983



Im Namen des Volkes



Urteil



in dem Rechtsstreit



Klägerin und Revisionsklägerin,

Prozeßbevollmächtigte:



gegen



Beklagte und Revisionsbeklagte,

Prozeßbevollmächtigter:



Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche

Verhandlung vom 23. März 1983



für Recht erkannt:



Auf die Sprungrevision der Klägerin wird das Urteil des

Sozialgerichts Dortmund vom 28. September 1981 aufgehoben.



Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das

Sozialgericht zurückverwiesen.



- 2 -



Gründe:



I



Die Klägerin begehrt die Erstattung von Krankentransportkosten.



Die Klägerin wohnt in D. und ist Mitglied der Beklagten. Am

27. April 1980 erlitt sie während ihres Urlaubs im Sauerland

einen Unterschenkelbruch rechts. Sie wurde zum nächstgelegenen

Krankenhaus, dem M. -H. -Krankenhaus in W. gefahren.

Dort wurde vom Chefarzt Dr. K. (K.) die Reposition

durchgeführt und ein Transportgips angelegt. Die Klägerin wurde

am selben Tag noch liegend ins Knappschaftskrankenhaus D.

transportiert. Für diese Fahrt stellte der Kreis S. 468,-- DM

in Rechnung, die die Klägerin beglich.



Die Übernahme der Kosten für die Fahrt von W. nach D.

lehnte die Beklagte am 7. Oktober 1980 ab. Mit ihrem Widerspruch

machte die Klägerin geltend, sie sei Mutter eines vierjährigen

Kindes. Ihm wäre es wegen der Dauer einer Reise von D. nach

W. (über BO km) praktisch nicht möglich gewesen, die Klä-

gerin regelmäßig zu sehen. Eine Trennung von Mutter und Kind

wirke sich unter Berücksichtigung der psychosomatischen Zusam-

menhänge auch für den Genesungsprozeß der Mutter äußerst nach-

teilig aus.



Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Sozialgericht



- 3 -



(SG) hat ausgeführt, der Transport der Klägerin von W. nach

D. sei nicht durch die Art und Weise der erforderlichen

Krankheitsbehandlung bedingt gewesen. Die erforderliche, medizi-

nisch ausreichende und zweckmäßige Krankenhauspflege wäre im

M. -H. -Krankenhaus gesichert gewesen. Medizinisch erforder-

lich sei die Verlegung nach D. auch nicht deshalb gewesen,

weil das Verbleiben der Klägerin in W. zu psychischen

Störungen mit Krankheitswert bei dem Kind hätte führen können.

Die Möglichkeit des Eintritts einer Krankheit bei einem anderen

könne die medizinische Notwendigkeit im Hinblick auf die zu

behandelnde Krankheit des Versicherten nicht beeinflussen. Am

27. April 1980 hätten auch konkrete Hinweise darauf gefehlt, daß

die sofortige Verlegung nach D. die medizinisch einzig

geeignete Maßnahme zur Sicherstellung des Genesungsprozesses der

Klägerin gewesen wäre. Vielmehr habe der verantwortliche Chefarzt

mitgeteilt, daß eine medizinische Notwendigkeit zur Verlegung

nicht bestanden habe. Diese Notwendigkeit werde auch nicht durch

das kassenarztrechtlich vorgesehene Formular der Anordnung des

Krankentransports bestätigt, denn darin gehe es nicht um die

Frage, ob die Verlegung erforderlich sei, sondern um deren Art

und Weise. Zwar behaupte die Klägerin, das Krankenhaus habe die

Verlegung veranlaßt. Es sei aber jedenfalls nicht Aufgabe der

Krankenkasse, Kosten einer nicht medizinisch bedingten Verlegung

zu tragen. Medizinische Gründe für die Verlegung habe Dr. K.

ausdrücklich verneint.



Die Klägerin hat Sprungrevision eingelegt und macht geltend, das

kassenarztrechtlich vorgesehene Formular bestätige die Notwen-



- 4 -



digkeit der Verlegung. Auch sei der Transport der Klägerin not-

wendig gewesen wegen der gesundheitlichen Gefährdung von Mutter

und und und der Beeinträchtigung des Genesungsprozesses durch

die Trennung zwischen beiden.



Die Klägerin beantragt sinngemäß,



die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des

Sozialgerichts Dortmund vom 28. September 1981

und der Bescheide vom 7. Oktober 1980 und

3. Februar 1981 zu verurteilen, an sie 468,-- DM

nebst 4 % Zinsen ab 1. März 1981 zu zahlen.



Die Beklagte beantragt,



die Revision zurückzuweisen.



II



Die Revision ist im Sinn der Zurückverweisung der Sache an das

SG zu neuer Verhandlung und Entscheidung begründet. Anhand der

im angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen des SG kann

der Senat nicht abschließend entscheiden, ob die angefochtenen

Bescheide rechtmäßig sind, und cb der Anspruch der Klägerin be-

steht.



Nach § 194 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) übernimmt die

Beklagte die im Zusammenhang mit der Gewährung einer Leistung

der Krankenkasse erforderlichen Fahrkosten für den Versicherten.



- 5 -



Der Anspruch aus § 19A Abs 1 RV0 setzt voraus, daß die Kassen-

leistung dem Versicherten an einem bestimmten Ort zu gewähren

ist und der Transport lediglich dazu dient, ihn zu diesem Ort zu

befördern (Urteil des Senats vom 28. März 1979 in BSGE NB, 139 =

SozR 2200 § 194 RVO Nr U). Aus den Feststellungen des SG ergibt

sich nicht, ob die Beklagte der Klägerin die Krankenhausbehand-

lung in diesem Sinn gerade im Knappschaftskrankenhaus in D.

zu gewähren hatte.



Die Gewährung der stationären Behandlung im Knappschaftskranken-

haus und die dafür erforderliche Fahrt nach D. sind nicht

von Dr. K. in einer für die Beklagten verbindlichen Weise

angeordnet worden. Mit Recht hat das SG die Frage offengelassen,

ob die Fahrt von W. nach D. Q von der Klägerin oder von

Dr. K. veranlaßt worden ist. Das SG hat bindend festgestellt,

Dr. K. habe die Verlegung jedenfalls nicht aus medizinischen

Gründen veranlaßt. Wenn der Arzt die Verlegung des Versicherten

von einem Krankenhaus in ein anderes aus medizinischen Gründen

veranlaßt, mag dies die Pflicht der Krankenkasse zur Übernahme

der Transportkosten auch dann nach sich ziehen, wenn die Gründe

objektiv nicht gegeben waren. Eine derartige Verpflichtung der

Krankenkasse ist zwar nicht ausdrücklich geregelt. Es liegt aber

nahe, sie dem Grundgedanken von Vorschriften wie § 20 Abs 5 des

Bundesmantelvertrages Ärzte (BMVÄ) vom 28. August 1978 zu ent-

nehmen. Nach § 20 Abs 5 BMVÄ bleibt bei der Verordnung von Kran-

kenhauspflege die Kostenverpflichtungserklärung gegenüber dem

Krankenhaus der Krankenkasse vorbehalten. Veranlaßt der Arzt in

Notfällen ausnahmsweise von sich aus die Aufnahme in ein



- 6 -



Krankenhaus, so hat er dieses in der Verordnung besonders zu be-

gründen. Aus der Vorschrift ergibt sich aber keinerlei Anhalts-

punkt dafür, daß ein Arzt durch seine Verordnung die Kasse zu

Leistungen verpflichten könnte, die er nicht im einzelnen für

medizinisch begründet hält.



Die Kosten des Transports von W. nach D. sind von der

Beklagten auch nicht schon deshalb zu tragen, weil Dr. K. die

ärztliche Notwendigkeit der Krankenfahrt festgestellt hat. Das SG

hat festgestellt, der Arzt treffe mit dem Formular keine

Anordnung hinsichtlich des "Ob" des Transports. Damit hat das SG

eine tatsächliche Feststellung getroffen, die mit der

Sprungrevision nicht angegriffen werden kann (§ 161 Abs 4

Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Die Klägerin bezieht sich in ihrer

Revisionsbegründung insoweit auf das Urteil des

Landessozialgerichts (LSG) Rheinland-Pfalz vom 24. Januar 1980

- L 5 K 46/79 -. Darin wird ausgeführt, Chefarzt Dr. M. habe den

Transport auf einem dafür vorgesehenen Formblatt angeordnet, und

die Anordnung beziehe sich nicht lediglich auf die Art des

Transports, sondern auch auf die Durchführung selbst; das

Formblatt sei nämlich als Nachweis der ärztlichen Anordnung für

die Krankenkasse bestimmt. Das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz

enthält insoweit tatsächliche Feststellungen, wobei es noch nicht

einmal vom gleichen Formblatt ausgeht wie im Fall der Klägerin.

Für den Rechtsstreit der Klägerin gegen die Beklagte sind die

Feststellungen des LSG Rheinland-Pfalz nicht verbindlich. Die

Auslegung der formularmäßigen Erklärung durch das SG läßt auch

keinen rechtlichen Fehler erkennen. Allerdings dient das



- 7 -



Formblatt dem Nachweis für die Krankenkasse. Das SG war aber

nicht an der Auslegung gehindert, daß es nur um den Nachweis der

angeordneten Art des Transports geht. Insoweit wird die Auslegung

durch die neuen Richtlinien über die Verordnung von

Krankenfahrten, Krankentransport- und Rettungsdienstleistungen

vom 26. Februar 1982 (BAnz Beilage 32 Seite 9) bestätigt. Darin

ist die Auswahl des Beförderungsmittels eingehend geregelt. Es

wird zwar auch bestimmt, daß Ausgangs- und Zielort der Fahrt

anzugeben sind. Die Richtlinien sehen aber keine Aussage des

Arztes über den Zweck und die Notwendigkeit der Fahrt vor.



Ein Anspruch der Klägerin auf Erstattung der Fahrkosten kann sich

aber aus einem anderen Rechtsgrund ergeben. Unter den

Krankenhäusern, mit denen Verträge über die Erbringung von

Krankenhauspflege bestehen, kann der Versicherte nach § 184 Abs 2

RVO wählen. Der Versicherte bestimmt mit dieser Wahl des Kran-

kenhauses allerdings nicht den Ort der Leistung in der Weise, daß

die Bestimmung die Pflicht der Krankenkasse zur Übernahme der

Kosten für die Fahrt dorthin nach sich zieht. Vielmehr hat er

selbst die Mehrkosten zu tragen, wenn er ohne zwingenden Grund

ein anderes ale eines der nächsterreichbaren Vertragskranken-

häuser in Anspruch nimmt (§ 184 Abs 2 Satz 2 RVO). Die Vorschrift

des § 184 Abs 2 Satz 2 RVO ist im vorliegenden Fall anwendbar.

Zu dem dieser Vorschrift im ambulanten Bereich entsprechenden

§ 368d Abs 2 RVO hat der Senat bereits entschieden, daß auch die

Kosten der Fahrt zum gewählten Arzt Mehrkosten in diesem Sinn

sind, soweit sie die Kosten der Fahrt zum nächsterreichbaren Arzt

überschreiten (BSG SozR 2200 § 368d RVO Nr N). Anderes



- 8 -



Krankenhaus iS des § 184 Abs 2 Satz 2 RVO ist allerdings in der

Regel das im Krankheitsfall zuerst aufgesuchte Krankenhaus.

Indessen ist kein durchschlagender Grund erkennbar, warum die

Vorschrift nicht auch im Fall des Krankenhauswechsels, der

Verlegung von einem Krankenhaus in ein anderes angewendet werden

soll. Die Klägerin hätte je nach Art des Unfalls genausogut

unmittelbar vom Unfallort nach D. gebracht werden können.

Nach der Interessenlage kann die - offenbar nur ambulante -

Erstversorgung in W. die Erstattung der Fahrkosten nach

D. nicht ausschließen.



Die Klägerin hat das Knappschaftskrankenhaus in D. "in

Anspruch genommen", selbst wenn die Verlegung dorthin allein von

Dr. K. oder durch andere Angestellte des W. Krankenhauses

veranlaßt werden sein sollte. Inanspruchnahme bedeutet keine

bewußt ausgeübte Wahl. Der Versicherte nimmt grundsätzlich das

Krankenhaus in Anspruch, in dem er sich behandeln läßt.



Die Feststellungen des SG reichen nicht aus für eine Entscheidung

darüber, ob für die Verlegung der Klägerin von W. nach

D. ein zwingender Grund gegeben war.



Zur Übernahme der Kosten für einen solchen Weitertransport ist

die Kasse nur verpflichtet, wenn Gründe dafür in der Art und

Weise der Krankheitsbehandlung liegen (BSG SozR 2200 § 194 RVO

Nr 4). Die erforderliche, medizinisch ausreichende und zweck-

mäßige Krankenhauspflege wäre nach den bindenden Feststellungen

des SG im M. -H. -Krankenhaus in W. gesichert gewesen.



- 9 -



Mit Recht hat das SG auch dargelegt, die Gefahr von psychischen

Störungen bei dem Kind der Klägerin sei kein in der Art und

weise der Krankheitsbehandlung liegender Grund. Krankheitsbe-

handlung in diesem Sinn ist nur die Behandlung der Klägerin

selbst. Zu den gesetzlichen Aufgaben der gesetzlichen Kranken-

versicherung gehört es nicht, gesundheitliche Gefahren für

Familienangehörige des Kranken abzuwehren, auch wenn die Angehö-

rigen selbst Krankenversicherungsschutz genießen.



Zu Unrecht hat das SG keine Feststellungen darüber getroffen, ob

und in welcher Weise die Trennung von Mutter und Kind den Gene-

sungsprozeß der Mutter beeinträchtigt hätte. Das SG hat die

Sachaufklärung dazu unterlassen, weil am 27. April 1980 offen-

kundig alle konkreten Hinweise für die Notwendigkeit der Verle-

gung aus diesem Grund gefehlt haben. Darauf kommt es indessen

nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob die Notwendigkeit objek-

tiv vorgelegen hat. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom

28. März 1979 angedeutet, daß die Gefahr einer psychischen

Erkrankung des Versicherten beim Verbleib in dem Krankenhaus

außerhalb seines Wohnorts für die Entscheidung erheblich sein

könnte. Im Verhältnis einer Mutter zu ihrem vierjährigen Kind

liegt die Beeinträchtigung des Genesungsprozesses der Mutter

durch eine Trennung nicht so fern, daß das SG von einer weiteren

Sachaufklärung ohne weiteres entbunden wäre. wenn die Gefahr

ernsthaft bestanden hat, wird das SG eine etwa zu befürchtende

Verzögerung der Genesung gegen die Transportkosten abzuwägen und

auch etwaige andere Möglichkeiten der Kontaktsicherung zu

berücksichtigen haben.



- 10 -



Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des SG vorbehalten.

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Freitag, 8. Mai 2015
BSG, 2 RU 61/60 vom 29.09.1965, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht

Az.: 2 RU 61/60

Im Namen des Volkes

29. September 1965

In dem Rechtsstreit

Verkündet am

Beklagte und Revisionsklägerin,

1. ,
2. ,

Kläger und Revisionsbeklagte,

hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts auf die
mündliche Verhandlung vom 29. September 1965 durch

Senatspräsident B.
- Vorsitzender -
Bundesrichter D. und
Bundesrichter H. ,
Bundessozialrichter Dr. S. und
Bundessozialrichter H.

für Recht erkannt:

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-
Westfalen vom 24. November 1959 wird mit den ihm
zugrunde liegenden Feststellungen aufgehohen.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Ent-
scheidung an das Landessozialgericht zurückver-
wiesen.

- 2 -

Gründe:

I

Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, der Kläger zu 2) der Sohn
des Franz D. (D.). Die Kläger beanspruchen Hinterblie-
nenenentschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung
(UV). Sie sind der Auffassung, den der Tod des D. am
22. Juni 1954 die Folge eines Arbeitsunfalls vom 19. Juni 1954
sei.

Ans dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ergeben sich ua
folgende tatsächlichen Feststellungen:

Der am 3O. März 1907 geborene D. war von Beruf gelernter
Schreiner und in einem Unternehmen beschäftigt, das der be-
klagten Berufsgenossenschaft (EG) als Mitglied angehört. Er
hatte an den Tagen vor dem 19. Juni 1954 bei dem Hausbau sei-
nes Schwagers P. laufend mitgearbeitet und am 18. Juni
1954 den Polizeimeister Schl. bei schweren Arbeiten gehol-
fen und ihm zugesagt, am nächsten und übernächsten Tag wie-
der mitzuhelfen. Weder seinem Schwager noch dem Polizeimei—
ster Sch. hatte D. Angaben über körperliche Beschwerden
gerecht. An Morgen des 19. Juni 1954 ging er wie üblich zu
seiner Arbeitsstätte, ohne über irgendwelche körperlichen
Beschwerden zu klagen. Um die Mittagszeit traf der Polizei-
meister Sch. ihn auf dem Weg von der Arbeitsstätte nach
hause. Auf die Frage, ob er am Nachmittag beim Bau wieder
helfen würde, erwiderte D., er könne leider nicht, er habe
bei der Arbeit ein Brett vor sein Geschlechtsteil bekommen
und große Schmerzen. Nachdem er zur üblichen Zeit nach Hause
gakommen war, setzte er sich an den Mittagstisch und ließ
das Essen unberührt. Seiner Ehefrau sagte er nur, er habe
einen anstrengenden Tag gehabt. Er begab sich zu Bett,
stand später wieder auf, brach aber nach zwei Minuten zusam-
men und mußte ins Bett gebracht werden. Während der Nacht

- 3 -

klagte er über große Schmerzen. Am Sonntag (20. Juni 1954)
verschlimmerte sich der Zustand derart, daß der praktische
Arzt Dr. Z. gerufen werden mußte. Diesem gab D. an,
ihm sei während der Arbeit ein Brett zwischen die Beine
gefallen und gegen das Geschlechtsteil geschlagen. Der Arzt
stellte hohes Fieber fest und veranlaßte die Einweisung in
das Dreifaltigkeitshospital in Lippstadt. Dort gab D. an,
er habe am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr vom Holzlager ein
Brett holen wollen. Die Bretter seien nachgerutscht und
dabei habe sich der Penis eingeklemmt. Dem Elektromeister
W., der mit D. auf einem Zimmer lag, erzählte D., er
habe am Samstag morgen gegen 11 Uhr einen Unfall gehabt.
Er habe von einem Stapel Bohlen eine 30 mm dicke Bohle her-
ausgezogen. Der Stapel sei ihm bis in Bauchhöhe gegangen.
Beim Fallenlassen der Bohle hätte diese mit dem Ende das
Geschlechtsteil eingeklemmt. Von Montagnachmittag an ver-
schlimmerte sich der Zustand des D. Es trat hohes Fieber
und ein Brand des Penis ein. Am Dienstag, dem 22. Juni 1954
um 9.50 Uhr ist D. gestorben.

Der Chefarzt des Dreifaltigkeitshospitals, Dr. Sch.,
teilte der Beklagten noch am 22. Juni 1954 fernmündlich
mit, daß es sehr zweifelhaft sei, ob die Penisinfektion,
die zum Tode geführt habe, auf den geschilderten Unfall-
hergang am 19. Juni 1954 zurückzuführen sei. Eine Obduktion
der Leiche sei zur Aufklärung erforderlich. Am 24. Juni 1954
teilte der gleichfalls im Dreifaltigkeitshospital tätige
Arzt Dr. B. der Beklagten fernmündlich mit, daß der
Schwager des Verstorbenen vorgesprochen und mitgeteilt habe,
die Witwe werde wegen des Arbeitsunfalls Ansprüche geltend
machen.

Die Beklagte zog die Akten der Staatsanwaltschaft bei,
Landgericht Paderborn bei, die am 17. August 1954 bei ihr
eingingen. In diesen Akten befindet sich ua ein Bericht
der Kriminalpolizei in Lippstadt vom 24. Juni 1954, in dem

- 4 -

hervorgehoben wird, daß der Witwe von der BG vermutlich
Schwierigkeiten bereitet werden würden, weil die Todes-
ursache und der Betriebsunfall ziemlich unklar seien. Aus
den Akten ergibt sich weiterhin, daß das Amtsgericht in
Lippstadt der Auffassung war, der Sachverhalt und das
Ermittlungsergebnis sprachen eindeutig für einen Betriebs-
unfall, die Schuld eines anderen sei nicht ersichtlich,
und daß die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Ermitt-
lungsverfahrens verfügt hat, weil kein Verdacht einer
strafbaren Handlung vorliege.

Die Beklagte stellte noch Ermittlungen in dem Unternehmen
an, in dem D. beschäftigt gewesen war. Diese ergaben, daß
weder den Arbeitskameraden noch den Vorgesetzten von einem
Unfall etwas bekannt war und D. auch weder den Werkssani—
täter noch den Durchgangsarzt aufgesucht hatte. Aus einer
Auskunft der Betriebskrankenkasse ergibt sich, daß D. vor
dem Unfall nicht an einem Leiden erkrankt gewesen ist,
das mit einer Penisinfektion in Zusammenhang stehen könnte.

In dem Durchgangsarztbericnt des Dr. Sch. .vom 22. Juni
1954 ist als Diagnose angegeben: "Infizierte Penisverlet-
zung mit septischer Aussaat", und ausgeführt, es werde ein
Arbeitsunfall bezweifelt, da eine Infektion nach einem
Tage nicht solche Ausmaße annehmen könne; D. habe sich
die Verletzung anderswo zugezogen; eine Überprüfung werde
für unbedingt erforderlich gehalten. In einem weiteren
Gutachten vom 20. Oktober 1954 führte Dr. Sch. ua aus,
die Angaben des Patienten seien sofort unglaubwürdig gewe-
sen: es sei schlecht vorstellbar, daß beim Herabfallen
von Brettern eine isolierte Penisverletzung auftrete; man
hätte wenigstens einige Schrammen an den Oberschenkeln
erkennen müssen; auch trete bei einer Penisverletzung
erfahrungsgemäß nicht innerhalb von Stunden eine Nekrose
auf; leider sei eine Sektion unterlassen worden.

- 5 -

Durch Bescheid vom 26. November 1954 lehnte die Beklagte den
Anspruch der Witwe und des Sohnes Franz H. auf Hinter-
bliebenenentschädigung ab. Sie begründete das unter ausführ-
licher Wiedergabe des Ermittlungsergebnisses damit, daß
sowohl das Vorliegen eines Unfallereignisses als auch der
ursächliche Zusammenhang des Todes mit einem Unfallereignis
nicht hinreichend wahrscheinlich seien.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger Klage beim Sozial-
gericht (SG) Dortmund erhoben. Dieses hat ein Gutachten von
Prof. Dr. B. (Knappschaftskrankenhaus Bottrop) vom
1O. Dezember 1955 beigezogen. Das Gutachten kommt zu dem
Ergebnis, es lasse sich keine Erklärung für die Vorfälle
finden, welche auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlich-
keit erlauben, den Unfall — bei seiner Unterstellung als
gegeben — als Ursache für die Entzündung des Penis und den
weiteren Verlauf anzuerkennen. Der Unfall sei in der durch
den Elektromeister W. wiedergegebenen Form ungeeignet,
eine Einklemmung des Penis zu verursachen, und weder das
Krankheitsbild noch der Verlauf seien in eine Kausalverbin-
dung mit dem Unfall zu dringen. Außerdem hat das SG
Dr. Sch. als sachverständigen Zeugen gehört. Dieser hat
ua ausgeführt: Es seien zwar äußere Anzeichen einer trauma-
tischen Beeinflussung vorhanden gewesen, doch habe die Krank-
heit innerhalb von 24 Stunden einen derart schnellen Ver-
lauf genommen, daß sie nicht auf einen Unfall vom Vortage
zurückgeführt werden könne. Es sei anzunehmen, daß schon
vorher eine Infektion bestanden habe. Wenn man die Richtig-
keit der schwersten Darstellung des Unfalles unterstelle,
sei dieser geeignet, bei bereits vorhandener Infektion eine
erhebliche Steigerung des Krankheitsverlaufs zu bewirken.
Ohne eine solche traumatische Beeinflussung wäre D. an der
Infektion voraussichtlich nicht gestorben.

Das SG hat durch Urteil vom 2. Oktober 1956 wie folgt ent-
schieden:

- 6 -
·
Der Bescheid vom 26. November 195A wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, daß es sich bei dem Ereignis
vom 19. Juni 1954 um einen Arbeitsunfall des Ehe-
mannes der Klägerin im Sinne des § 542 der Reichs-
versicherungserdnungordnung (RVO) handelt.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen
entsprechenden Bescheid zu erteilen und die Kosten
des Verfahrens zu tragen.
·
Das SG hat als erwiesen angesehen, daß D. von einem unbeo-
bachteten Lagerplatz eine schwere Bohle abholen wollte und
daß das Abheben oder Herausstemmen aus dem Stapel und das
Herunterfallen zu einem Schlag gegen die Geschlechtsteile
bzw. einem Einklemmen des Penis geführt hat. Im Übrigen hat
es als erwiesen angesehen, daß eine bereits vor dem 19. Juni
1954 vorhandene Pensisinfektien, die normalerweise geheilt
werden wäre, durch ein in seiner Stärke nicht erwiesenes,
aber doch recht schweres Trauma eine solche Verschlimme-
rung bewirkt habe, daß in kurzer Zeit der Tod eingetreten
sei.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung beim Landes-
sozialgericht Nordrhein—Westfalen eingelegt. Das LSG
hat ein Gutachten des Dr. Sch. vom 22. November 1954
beigezogen, in dem ua ausgeführt wird, bei der Aufnahme
seien keine sicheren Anzeichen einer Verletzung im Sinne
einer Quetschung, Prellung oder Schnittverletzung festzu-
stellen gewesen; aus dem Befund sei aber der Rückschluß zu
ziehen, daß zwar eine Verletzung stattgefunden, der Zeit-
punkt aber mindestens mehrere Tage zurückgelegen haben
müsse.

In Termin zur mündlichen Verhandlung am 14. November 1959
hat das LSG den Polizeimeister Sch. den Elektromeister
W. als Zeugen und die Ärzte Dr. Z. und Dr. Sch.
als sachverständige Zeugen vernommen. Außerdem hat es den
Oberarzt Dr. K. als Sachverständigen gehört. Dieser hat ua

- 7 -

ausgeführt, auch ohne Trauma könne es jederzeit zu einer
Infektion derart, wie sie bei D. vorgelegen haben müsse,
kommen, weil praktisch immer kleine Schleimhautdefekte am
Vorhautblatt vorhanden seien. Andererseits bestehe aber
die Möglichkeit, daß durch den Unfall mikroskopische Ver-
letzungen gesetzt worden seien, die Eintrittspforten für
die Erreger gebildet hätten. Ob das der Fall sei, könne
nachträglich nicht mehr gesagt werden und wäre nur durch
eine Obduktion mit mikroskopischer Untersuchung und bak-
teriologischem Nachweis der Erreger zu klären gewesen. Ob
der Unfall die Infektion wesentlich verschlimmert habe,
hätte gleichfalls nur durch Obduktion geklärt werden kön-
nen. Hierfür wären stärkere Gefäßquetschungen und Zer-
reißungen Voraussetzung gewesen. Der Unfall könne nicht
schwer gewesen sein. Damit sei aber nicht ausgeschlossen,
daß doch oberflächliche Verletzungen gesetzt werden seien.

Durch Urteil vom 24. November 1959 hat das LSG die Beru-
fung der Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund zurück-
gewiesen und die Revision zugelassen.

Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß sich am 19. Juni 1954
gegen 11 Uhr an der Arbeitsstelle ein Arbeitsunfall ereignet
hat, indem D. beim Herausziehen einer Bohle aus einem Bret-
terstapel auf dem Holzplatz vor der Schreinerei ein Brett
gegen das Geschlechtsteil geschlagen ist. Zur Begründung
hat das LSG unter eingehender Würdigung der Beweisergebnisse
ausgeführt, bei vernünftiger Abwägung aller Umstände, die
für und gegen das von D. selbst angegebene Unfallgeschehen
sprächen, überwögen die dafür sprechenden Erwägungen in
einer solchen Weise, daß das Unfallereignis als wahrschein-
lich geschehen angenommen werden müßte.

Im übrigen hat das LSG ausgeführt: Zu welcher Gesundheits-
schädigung der Arbeitsunfall geführt habe (schwere Penis-
infektion oder Verschlimmerung), habe sich nicht mit Wahr-
scheinlichkeit feststellen lassen. Die Infektion könne ihre

- 8 -

Entstehung und ihren Verlauf unabhängig von dem Arbeits-
unfall genommen haben; bei Mitwirkung ungewöhnlich viru-
lenter Bakterien könne sie auch auf einer durch Unfall
hervorgerufenen Verletzung beruhen, und schließlich könne
eine bereits vorhanden gewesene Infektion durch das Unfall-
ereignis derart verschlimmert werden sein, daß der rasche
weitere Verlauf und der Tod eingetreten seien. Eine Wahr-
scheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit lasse
sich nicht begründen. Die Unterlagen reichten für eine
Beurteilung nicht aus, welche Krankheitserreger für den
Verlauf und den Tod verantwortlich seien und ob der Unfall
im Bereich des Penisschafts kleinste oder schwere Verlet-
zungen gesetzt habe. Obgleich danach der ursächliche Zusam-
menhang des Todes mit dem Arbeitsunfall nicht bewiesen sei,
müsse sich die Beklagte doch so behandeln lassen, als ob
dieser Beweis erbracht sei; denn die Beklagte habe schuld-
haft verursacht, daß zur Beweisführung entscheidende und
geeignete Beweismittel, nämlich die Obduktion mit Sektions—
befund, nicht zur Verfügung stehen. Die Beklagte sei von
Amts wegen zur Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet
(§§ 1545 bis 1571 RVO). Sie habe auch eine notwendige
Obduktion von Amts wegen durchzuführen. Unterlasse sie
das, so vereitle sie die Benutzung eines wesentlichen
Beweismittels und bewirke dadurch schuldhaft die Unauf-
klärbarkeit des Sachverhalts (§§ 286, 444 der Zivilprozeß-
ordnung -ZPO~; §§ 128, 202 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG—).
Für die Beweiswürdigung könnten in einem solchen Fall Folge-
rungen zu ihren Ungunsten gezogen werden. Der Beklagten sei
durch die Anrufe der Ärzte Dr. Sch. und Dr. B. be-
kannt gewesen, daß die Hinterbliebenen einen ursächlichen
Zusammenhang zwischen Tod und Arbeitsunfall behaupten und
Hinterbliebenenansprüche geltend machen würden, und es sei
ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß dieser ursäch-
liche Zusammenhang zweifelhaft sei und nur durch eine
Obduktion geklärt werden könne. Dadurch daß sie bei dieser

-·9·-

Sachlage die Obduktion nicht habe durchführen lassen, obwohl
die Leiche für diesen Zweck bereits polizeilich beschlag-
nahmt gewesen sei, habe sie gegen ihre Aufklärungspflicht
verstoßen und ein wesentliches Beweismittel vereitelt. Sie
habe also die Unaufklärbarkeit des ursächlichen Zusammen-
hangs zwischen Tod und Arbeitsunfall schuldhaft veranlaßt.
Ob die Sektion zu einem für die Klägerin günstigen Beweis-
ergebnis geführt hätte, sei in diesem Zusammenhang nicht
von Bedeutung. Der bereits angeführte Grundsatz rechtfer-
tige es, im Wege der freien Beweiswürdigung den Beweis des
ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit dem Arbeitsunfall
als gegeben anzusehen, so daß die Hinterbliebenenansprüche
begründet seien. Die Revision sei zugelassen werden, weil
die Frage grundsätzliche Bedeutung habe, welche Rechtsfol-
gen aus der unterlassenen Obduktion zu ziehen seien.

Die Beklagte, der das Urteil des LSG am 21. März 1960 zuge-
stellt worden ist, hat dagegen am 7. April 196O Revision
eingelegt. Sie beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG und des
Urteils des SG die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Sache zur erneuten Verhandlung und Entschei-
dung an das LSG zurückzuverweisen.

Zur Begründung führt die Beklagte aus, nach dem Akteninhalt
erscheine es schon zweifelhaft, ob der Vorderrichter über-
haupt zu seiner Feststellung hinsichtlich des Unfallereig-
nisses habe kommen können. Das LSG hätte auch die von ihm
erörterten Möglichkeiten nicht als gleichwertig behandeln
dürfen. Vielmehr hätte die zweite und dritte Möglichkeit
völlig zurücktreten müssen. Vor allem aber bestehe ein
Beweiswürdigungsgrundsatz, wie in das LSG annehme, im
sozialgerichtliehen Verfahren nicht, das vom Prinzip der
objektiven Beweislast beherrscht werde. Auch im Zivilprozeß

- 10 -

bestehe ein solcher uneingeschränkter Grundsatz nicht.
§ 444 ZPO setze die Absicht voraus, das Beweismittel der
Gegenseite zu entziehen. Es komme also in der Regel auf
das arglistige Verhalten einer Partei an. Außerdem habe
der Beklagten keine Unfallanzeige vorgelegen, und der
Arbeitgeberin sei von einem Betriebsunfall nichts bekannt
gewesen. Deshalb sei vom Standpunkt der Beklagten aus
nichts zu veranlassen gewesen. Man kenne den an sich schon
so belasteten Verwaltungen der Versicherungsträger nicht
zumuten, nur auf telefonische oder schriftliche Angaben
Dritter gewissermaßen ins Blaue hinein Unfallermittlungen
vorzunehmen und dabei gar eine so einschneidende Maßnahme
wie die einer Leichenöffnung zu verlangen. Die Leiche habe
sich zudem gar nicht im Gewahrsam der Beklagten befunden,
sondern der Kreispolizeibehörde. Diejenigen, die in erster
Linie an eine Obduktion hätten denken müssen, seien die
Kläger. Sie hätten sie mindestens anregen können und sollen.

Die Kläger beantragen,

die Revision als unegründet zurückzuweisen.

Sie weisen auf EuM 22. 216 und 217 hin.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und
fristgerecht eingelegt und begründet werden und somit
zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als das Urteil
des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache an das LSG
zurückverwiesen worden ist.

Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß dem Ehemann der
Klägerin am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr ein Arbeitsunfall
zugestoßen ist, indem ihm ein Brett beim Herausziehen aus
einem Bretterstapel gegen die Geschlechtsteile schlug.

- 11 -

Die Rügen, mit denen die Revision diese tatsächlichen Fest-
stellungen angreift, sind allenfalls dazu geeignet, darzutun,
daß die Würdigung der Beweise in dieser Beziehung auch zu
einem negativen Ergebnis hätte führen können; dagegen rei-
chen sie nicht aus, um schlüssig darzutun, daß das LSG bei
der Würdigung der Beweise die Grenzen seines Rechts der
freien richterlichen Überzeugungsbildung überschritten hat
(§ 128 SGG). Diese Feststellung ist deshalb für das Revi-
sionsgericht bindend (§ i63 SGG).

Das LSG hat mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß
die Beklagte verpflichtet gewesen sei, zur Aufklärung des
Sachverhalts eine Leichenöffnung zu veranlassen. Die Aus-
führungen, mit denen die Revision diese Auffassung angreift,
enthalten keine Rügen gegen die tatsächlichen Feststellun-
gen, auf denen diese Schlußfolgerung des LSG beruht, son-
dern wenden sich gegen die Rechtsauffassung des LSG, daß
das Unterbleiben der Leichenöffnung auf eine schuldhafte
Vernachlässigung der Ermittlungspflicht der Beklagten (vgl.
§§ 1571, 1572 RVO) zurückzuführen sei. Diese Rüge der
Revision ist unbegründet. Die Beklagte wußte aus den
Telefongesprächen mit den beiden Ärzten des Dreifaltigkeits-
hospitals, daß der Zusammenhang zwischen den vom Verletzten
selbst behaupteten Unfallereignis und dem Tode außerordent-
lich zweifelhaft sei und daß die Hinterbliebenen Entschä-
digungsansprüehe geltend machen wollten. Unter diesen Um-
stünden hätte die Beklagte sofort alles tun müssen, um für
eine Aufklärung des Sachverhalts zu sorgen. Daß ihr noch
keine förmliche Unfallanzeige des Unternehmers vorlag und
der Unternehmer, wie sich später ergab, von dem Unfall
nichts wußte, enthob sie dieser Verpflichtung zur Sachauf-
klärung nicht. Sie konnte sich auch insbesondere nicht etwa
darauf verlassen, daß eine Leichenöffnung von der Kriminal-
polizei, dem Amtsgericht oder der Staatsanwaltschaft veran-
laßt würde; denn für diese Stellen war nur die Frage von

- 12 -

Bedeutung, ob Anhaltspunkte für strafbare Handlungen ande-
rer Personen gegeben seien. Das LSG ist ohne Rechtsirrtum
davon ausgegangen, daß die Beklagte verpflichtet gewesen
wäre, eine Leichenöffnung zu veranlassen.

Dagegen sind nach der Auffassung des erkennenden Senats
die Rügen berechtigt, mit denen sich die Revision gegen
die rechtlichen Schlußfolgerungen wendet, die das LSG aus
diesem Umstand gezogen hat.

Hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem
Unfallereignis vom 19. Juni 1954 und der zum Tode führen-
den Sepsis hat das LSG das Ergebnis der Beweiswürdigung
wie folgt zusammengefaßt:

(a) die Infektion könne unabhängig von dem Unfall ent-
standen und ihren Verlauf auch unabhängig von ihm
genommen haben;

(b) bei Mitwirkung von ungewöhnlich virulenten Bakterien
könne die Infektion aber auch auf einer durch den
Unfall hervorgerufenen Verletzung beruhen;

(c) eine zur Zeit des Unfalls bereits vorhandene Infek-
tion könne durch den Unfall derart verstärkt und
verschlimmert werden sein, daß der weitere rasche
Verlauf und der Tod eingetreten seien.

Die ernsthaften Möglichkeiten (b) und (c) müßten ebenso in
Erwägung gezogen werden wie die Möglichkeit (a). Eine Wahr-
scheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit lasse
sich nicht begründen. Die medizinischen Unterlagen reich-
ten nicht aus, um beurteilen zu können, welche Krankheits-
erreger den ungewöhnlichen Verlauf und raschen Eintritt des
Todes verursacht hätten und ob der Unfall kleinere oder
schwere Verletzungen gesetzt habe. Diese Feststellungen
hätten sich aber mit Sicherheit durch eine Obduktion mit
mikroskopischer Untersuchung von Gewebeschnitten und
bakteriologischem Nachweis der Erreger treffen lassen.
Anschließend hat das LSG ausdrücklich ausgeführt, auf Grund
der vorliegenden und jetzt noch möglichen Beweismittel sei

- 13 -

der ursächliche Zusammenhang des Todes mit dem Arbeitsunfall
nicht bewiesen.

Das LSG ist jedoch der Auffassung, die Beklagte müsse sich
"so behandeln lassen, als ob der Beweis des ursächlichen
Zusammenhangs zwischen Unfall und Tod erbracht" sei. Da
das LSG selbst hinsichtlich dieses ursächlichen Zusammen-
hangs keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, sich
insbesondere für keine der von ihm erörterten Möglichkei-
ten entschieden hat, sind nach der Auffassung des erkennen-
den Senats die Rechtsausführungen des LSG dahin zu verste-
hen, daß das - von der Beklagten verschuldete - Fehlen des
für die Sachaufklärung entscheidenden Beweismittels der
Leichenöffnung, eine "Umkehrung" der Beweislast zur Folge
hahe und daß infolgedessen zu Lasten der Beklagten ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und
dem Tod unterstellt werden müsse, weil das Gegenteil nicht
erweislich sei. Das trifft nach der Auffassung des erken-
nenden Senats nicht zu.

Mit der Frage, welche Bedeutung es hat, wenn der zur Sach-
aufklärung verpflichtete Versicherungsträger es unterläßt,
eine Leichenöffnung zu veranlassen, und deshalb der tat-
sächliche Sachverhalt in medizinischer Hinsicht nicht oder
nur unvollständig aufklärbar ist, hat sich bereits der
8. Senat im Urteil vom 26. Juli 1961 (SozR SGG § 128 Nr.60)
befaßt. Er hat ausgeführt, daß ein solches Verschulden
nichts an der Verteilung der objektiven Beweislast (Fest-
stellungslast) ändert, sondern nur von den Tatsachen-
Instanzen im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt
werden kann. Dieses Urteil ist von Glücklich in einer aus-
führlichen Anmerkung (Sgb 1963 S. 19) kritisch besprochen
worden. Glücklich vertritt die Meinung, daß eine vorsätz-
liche oder fahrlässige Beweisvereitelung die Beweislast
dergestalt umkehre, daß nunmehr der Gegner der zunächst
beweisbelasteten Partei die Beweislast trage.

- 14 -

Es kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Beweislast-
Regel, wenn sie, wie Glücklich wohl annimmt, für den
Zivilprozeß allgemein anerkannt wäre, auf das Verfahren
der Sozialgerichtsbarkeit übertragen werden könnte, obwohl
dieses Verfahren vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht
ist und entgegen Glücklich (aaO) nach fast allgemeiner
Ansicht keine Beweisführungslast und nur in sehr beschränk-
tem Umfang eine Behauptungslast kennt (vgl. Brackmann,
Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl., Stand Juni 1965,
S. 244 m I, mit weiteren Nachweisen auch für das Verfahren
vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten). Denn auch für
den Zivilprozeß ist die Lehre von der Umkehrung der Beweis-
last im Falle der schuldhaften Beweisvereitelung keines-
wegs allgemein anerkannt. Blomeyer (Zivilprozeßrecht, 1963
S. 369 § 73 II) nimmt zwar im Falle der schuldhaften Beweis-
vereitelung eine "Umkehr der Beweis1ast" an, auch Nikisch
(Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., S. 324 § 82 VI) vertritt diese
Auffassung. Dagegen führt Schönke (Zivilprozeßrecht), auf
dessen 2. Auflage sich Glücklich beruft, in der 7. Auflage
(S. 232 § 58 am Ende) zur Frage der schuldhaften Beweis-
vereitelung ausdrücklich aus: wenn in derartigen Fällen
von einer Umkehrung der Beweislast gesprochen werde (so RGZ
60, 152), so verdecke das den wahren Sachverhalt, daß Kraft
freier Beweiswürdigung und folglich ohne jeden Zwang der
Beweis vorbehaltlich des Gegenbeweises erbracht sei (ebenso
auch Schönke/Schroeder/Niese in der 8. Aufl. S. 264 § 58 am
Ende). Völlig eindeutig sind die Ausführungen von Rosenberg
(Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 3. Aufl., S. 559 § 114
III 3 d, S. 570 § 117 II 2; Die Beweislast, 4. Aufl., S. 153
§ 12, S. 191 § 14), aus denen sich ergibt, daß seiner Auf-
fassung nach die Beweisvereitelung keinen Einfluß auf die
Verteilung der Beweislast hat. Ebenso unmißverständlich
sind zB die Ausführungen in RGZ 128, 121, 125, während
andere Entscheidungen (zB BGHZ 6, 227; RGZ 60, 152), wie
der erkennende Senat nicht verkennt, auch die Deutung

- 15 -

zulassen, das Revisionsgerieht habe der schuldhaften Beweis-
vereitelung die Wirkung einer für das Tatsachengericht ver-
bindlichen "Umkehrung der Beweislast" zumessen wollen.

Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß die Lehre von
der Umkehrung der Beweislast im Falle der schuldhaften Be-
weisvereitlung in den Vorschriften des SGG und der ZPO keine
ausreichende Stütze findet; insbesondere läßt sie sich nach
der Auffassung des erkennenden Senats nicht aus den §§ 427,
444, 446 ZPO herleiten, die nur Vorschriften für die Beweis-
würdigung enthalten (vgl. zB auch die Anmerkungen zu diesen
Paragraphen in Stein/Jonas/Schönke/Pohle, Kommentar zur ZPO,
18. Aufl.) und die Verteilung der Beweislast ebenso unver-
ändert lassen, wie das der Fall ist, wenn das Gericht sich
bei der Beweiswürdigung der Regeln des Beweises des ersten
Anscheines (Prima—facie—Beweis, vgl. zB BSG 8, 245; 1O, 46;
l2, 242, 246; 19, 52, 54) bedient. Der erkennende Senat
stimmt mit dieser Auffassung nicht nur mit dem 8. Senat
überein, sondern auch mit dem Bundesverwaltungsgericht,
das es bereits mehrfach angelehnt hat, die Lehre von der
Umkehrung der Beweislast im Falle der Beweisvereitelung
anzuerkennen (BVerwG 1O, 27O; DVBl 1964, 759 mit weiteren
Nachweisen für das Verfahren vor den allgemeinen Verwaltungs-
gerichten).

Die rechtlichen Schlußfolgerungen daraus, daß die Unmöglich-
keit, das Ergebnis einer Leichenöffnung als Beweismittel zu
benützen, auf einem Verschulden der Beklagten beruht, sind
demnach unzutreffend und nicht geeignet, das angefochtene
Urteil zu rechtfertigen. Die Rügen der Revision hiergegen
sind begründet.

Andererseits zwingt aber der Umstand, daß das LSG ausgeführt
hat, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereig-
nis und dem Tod sei nicht erwiesen, nicht zur Klageabweisung.
Denn die Entscheidung des LSG beruht nicht auf diesem Ergeb-

- 16 -

nis der Beweiswürdigung, sondern, wie dargelegt, auf der rechts-
irrtümlichen Auffassung hinsichtlich der Verteilung der Beweis-
last und somit in tatsächlicher Beziehung auf der Feststellung,
daß das Nichtbestehen eines Zusammenhangs zwischen Tod und
Unfall gleichfalls nicht bewiesen sei. Das LSG hat auf Grund
seiner Rechtsauffassung insofern von einer vollständigen und
abschließenden Beweiswürdigung abgesehen, als es den durch das
Unterbleiben der Leichenoffnung verursachten Beweisnotstand
unberücksichtigt gelassen hat.

Der erkennende Senat stimmt mit den 8. Senat darin überein, daß
dieser von der Beklagten verschuldete Beweisnotstand vom Tat-
sachenrichter im Rahmen seines Rechts der freien richterlichen
Überzeugungsbildung (§ 128 SGG) zu berücksichtigen ist. Insbeson-
dere darf der Tatsachenrichter diesem Beweisnotstand, wie der
Senat in dem einen anders gelagerten Fall betreffenden Urteil in
BSG 19, 52, 56 ausgeführt hat (vgl. auch Brackmann aaO S. 244 )
dadurch Rechnung tragen, daß er an den Beweis der Tatsachen, auf
die sich der Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen
stellt.

Da dem Revisionsgericht eine solche ergänzende Würdigung der erho-
benen Beweise verwehrt ist, mußte das angefochtene Urteil mit den
ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückver-
wiesen werden.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisions-
verfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung
vorbehalten.

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BSG, 2 RU 38/96 vom 27.05.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT



Im Namen des Volkes



Verkündet am
27. Mai 1997



Urteil



in dem Rechtsstreit



Az: 2 RU 38/96



Klägerin und Revisionsbeklagte,
Prozeßbevollmächtigte:



gegen
Bau-Berufsgenossenschaft Hamburg,
Holstenwall 8-9, 20355 Hamburg,
Beklagte und Revisionsklägerin,
Prozeßbevollmächtigter:



Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung
vom 27. Mai 1997 durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. K. , die
Richter Dr. B. und K. sowie die ehrenamtlichen
Richter B. und L.



für Recht erkannt:



Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landes-
sozialgerichts vom 7. August 1996 aufgehoben.



Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurück-
verwiesen.

-2-



Gründe:



I



In dem Rechtsstreit um Gewährung von Witwenrente streiten die Beteiligten, ob der Tod
des Ehemannes der Klägerin Folge einer Berufskrankheit (BK) der Nr 4104 der Anlage 1
zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) ist.



Der im Jahre 1944 geborene Ehemann der Klägerin (Versicherter) war nach seiner Aus-
bildung in der Zeit von September 1959 bis Oktober 1963 zum Klempner und Installateur
bis März 1971 in diesem Beruf als Geselle tätig. Nach einer Fortbildung zum Bautechniker
in der Zeit von April 1971 bis September 1972 war er im Bedachungs- und Fassadenbau
bis Juli 1976 als Bauleiter, anschließend bis Juli 1984 als Bauleiter und Abteilungsleiter,
von August 1984 bis Juni 1986 als Niederlassungsleiter, von August 1986 bis August
1987 als Vertriebsleiter sowie ab September 1987 als Oberbau- und Außendienstleiter be-
schäftigt. Während seiner Tätigkeit als Klempner hatte er asbesthaltige Materialien zu be-
arbeiten. Im Bedachungs- und Fassadenbau wurden vorwiegend Bitumen, Asbestzement-
und Betonsteinprodukte verarbeitet.



Im März 1988 trat beim Versicherten ein Doppelbildersehen mit Kopfschmerzen auf. Des-
wegen wurde er im Allgemeinen Krankenhaus B. stationär behandelt. Dabei wurde
ein fortgeschrittenes metastasiertes Bronchialkarzinom diagnostiziert.


Am 4. Mai 1988 zeigte das Krankenhaus der Beklagten an, daß beim Versicherten der
Verdacht auf das Vorliegen einer BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO bestehe. Das
daraufhin mit Schreiben vom 26. Mai 1988 an den Chefarzt der neurologischen Abteilung
des Krankenhauses gerichtete Ersuchen, im Falle des Ablebens des Versicherten vor-
sorglich eine Sektion durchzuführen, wurde mit dem Hinweis zurückgewiesen, derartige
Mitteilungen in Zukunft zu unterlassen.



Die Beklagte zog die medizinischen Unterlagen der Landesversicherungsanstalt (LVA)
der Freien und Hansestadt Hamburg bei und ermittelte im Anschluß an eine schriftliche
Auskunft des Versicherten bei seinen früheren Arbeitgebern über Art und Dauer seiner
Beschäftigungen sowie welchen Einwirkungen er dabei ausgesetzt war. Aus den Berich-
ten des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Beklagten vom 20. Oktober und
21. Dezember 1988 ergab sich ua, daß der Versicherte im September 1988 verstorben
war. Die Beklagte zog die Krankenblätter des Allgemeinen Krankenhauses B.
und der Reha-Klinik D. über die Behandlungen des Versicherten bei.


Am 30. Januar 1989 unterrichtete die Klägerin die Beklagte telefonisch, daß ihr Ehemann
am 17. September 1988 verstorben sei. Es habe eine Erdbestattung stattgefunden. Mit

- 3 -



Schreiben vom 19. Juli 1989 teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß zur Feststellung ei-
ner BK eine Obduktion erforderlich sei und fragte zugleich an, ob - sofern eine solche
nicht bereits durchgeführt worden sei - die Klägerin einer Exhumierung und Untersuchung
des Leichnams ihres Ehemannes zustimme. Diese teilte mit, daß eine Obduktion nicht
vorgenommen worden sei; sie sei nicht sicher, ob sie einer Exhumierung zustimmen
solle, da ihr Ehemann bereits vor zehn Monaten verstorben sei. Nach Ablauf einer
eingeräumten Bedenkzeit erklärte die Klägerin mit ihrer am 11. August 1989 bei der
Beklagten eingegangenen Erklärung ihr Einverständnis mit einer Exhumierung und
Untersuchung des Leichnams ihres Ehemannes.


Der Arzt für innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. S. teilte auf Anfrage
der Beklagten mit, daß eine Exhumierung sinnlos sei, weil seit dem Ableben des Versi-
cherten mehr als sechs Monate vergangen seien. Nach Einholung eines Gutachtens von
Dr. S. vom 18. April 1990 sowie einer Stellungnahme des Staatlichen Gewerbearz-
tes der Freien und Hansestadt Hamburg vom 1. Juli 1990 lehnte es die Beklagte ab, der
Klägerin Hinterbliebenenleistungen aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes zu gewähren.
Nach den ärztlichen Feststellungen könne das Vorliegen einer Asbestose nicht wahr-
scheinlich gemacht werden. Es bestehe nach dem ermittelten Sachverhalt allenfalls die
Möglichkeit einer beruflichen Krebsentstehung. Die anspruchsbegründenden Tatsachen
seien trotz umfangreicher Ermittlungen nicht bewiesen (Bescheid vom 21. August 1990
idF des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1991).


Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung eines Gutachtens mit ergänzender Stellung-
nahme von dem Arzt für innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. L. vom
18. Februar 1993/12. Oktober 1993 die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Dezember
1993).


Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Einholung eines Gutachtens des Arztes für in-
nere Medizin und Sozialmedizin Prof. Dr. W. vom 1. April 1996 das Urteil des SG
aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren
(Urteil vom 7. August 1996). Der Tod des Versicherten sei auf eine BK der Nr 4104 der
Anlage 1 der BKVO zurückzuführen. Zwar stehe nicht fest, daß der Versicherte während
seiner beruflichen Tätigkeit den Einwirkungen von Asbestfaserstaub in einem Umfang von
25 Faserjahren ausgesetzt gewesen sei. Auch die weiteren Tatbestandsalternativen einer
BK nach der Nr 4104 stünden wegen fehlender Röntgen-, computertomographischer und
feingeweblicher Untersuchungsbefunde nicht fest. Schließlich sei auch nachträglich keine
Obduktion durchgeführt worden. Der medizinische Sachverhalt könne insoweit im Nach-
hinein nicht mehr aufgeklärt werden. Nach allem steht zwar fest, daß der Versicherte an
einem Lungenkrebs verstorben sei, nicht aber, daß bei dem Versicherten eine Asbest-
staublungenerkrankung oder eine durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura
vorgelegen habe. Dies schließe jedoch nicht die Feststellung aus, daß der Versicherte in-

- 4 -



folge einer BK nach der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO verstorben sei. Wegen der be-
sonderen Umstände des Falles reiche es zur Anspruchsbegründung aus, daß bei dem
Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorgelegen habe. Denn die Beweislage sei
auf das Verhalten der Beklagten zurückzuführen. Sie habe schuldhaft versäumt, den me-
dizinischen Sachverhalt aufzuklären. Durch das Verhalten der Beklagten sei die Klägerin
in einen Beweisnotstand geraten. Diesen Umständen sei bei den Anforderungen an den
Nachweis der anspruchsbegündenden Tatsachen Rechnung zu tragen. Es sei zwar keine
Umkehr der Beweislast anzunehmen. Wenn der beweisbelastete Beteiligte durch das
schuldhafte Verhalten des Gegners in einen Beweisnotstand gerate, könne das Gericht
aber dem dadurch Rechnung tragen, daß es an den Nachweis der Tatsachen, auf die
sich der Beweisbelastete beziehe, weniger hohe Anforderungen stelle. Im vorliegenden
Falle reiche deshalb lediglich die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Asbestose aus.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens gehe das LSG davon aus, daß der Versi-
cherte möglicherweise an einer Minimalasbestose erkrankt gewesen sei. Der Versicherte
sei über eine Reihe von Jahren mit der Verarbeitung von Asbest befaßt gewesen. Das sei
die wesentliche Voraussetzung für das Entstehen einer Asbestose. Damit seien die Vor-
aussetzungen für die Bejahung einer BK iS der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO erfüllt.
Dem stehe auch nicht die Annahme entgegen, daß der Versicherte nach Aktenlage Rau-
cher gewesen sei.



Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte, daß das LSG zu Unrecht
die fehlenden bzw nicht festgestellten Tatbestände der BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur
BKVO meine dadurch ersetzen zu können, daß es der Beklagten eine schuldhafte Be-
weisverhinderung anlaste. Die Begründung des LSG laufe im Ergebnis darauf hinaus, daß
es zu Lasten der Beklagten eine Umkehr der Beweislast vorgenommen habe. Diese Fol-
gerung sei aber mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) unvereinbar. Im
vorliegenden Fall habe entgegen der Auffassung des LSG eine schuldhafte Beweisverei-
telung durch die Beklagte nicht vorgelegen. Selbst wenn die Beklagte sofort tätig gewor-
den wäre und die erforderlichen Genehmigungen eingeholt hätte, hätte die Obduktion erst
nach einem Zeitraum von fünf bis sechs Monaten nach dem Ableben des Versicherten
durchgeführt werden können. Das LSG gehe aber selbst davon aus, daß eine Obduktion
spätestens "bis zu sechs Monaten" nach dem Tode hätte durchgeführt werden müssen,
um eine Asbestose oder eine asbestbedingte Veränderung der Pleura nachweisen zu
können. Unabhängig davon begegne die Beweisführung des LSG durchgreifenden Be-
denken. Es unterstelle, daß bei dem Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorge-
legen habe. Alsdann gewähre das LSG der Klägerin eine weitere Beweiserleichterung
aufgrund des Beweisnotstandes und sehe die Möglichkeit des Vorhandenseins einer As-
bestose, die es mangels konkreter Nachweise und Anhaltspunkte selbst unterstellt habe,
als ausreichend an. Das LSG komme also im Ergebnis entgegen der Rechtsprechung
des BSG zu einer Umkehr der Beweislast. Das LSG habe daher nicht nur die
Rechtsprechung des BSG, sondern auch die nicht vorhandenen Tatsachen verfälscht, um

- 5 -



zu dem von ihm gewünschten Ergebnis zu kommen. Das LSG hätte auch berücksichtigen
müssen, daß der Versicherte ein starker Raucher gewesen sei und nach seinen eigenen
Angaben 20 Zigarillos pro Tag geraucht habe.



Die Beklagte beantragt,



das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. August 1996
aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts
Itzehoe vom 16. Dezember 1993 zurückzuweisen.



Die Klägerin beantragt,



die Revision zurückzuweisen.



Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Entgegen der Ansicht der Beklagten habe
das LSG keineswegs eine Umkehr der Beweislast vorgenommen. Unverständlich sei
auch der Vortrag der Beklagten darüber, daß eine schuldhafte Beweisvereitelung durch
sie nicht vorgelegen habe.



II



Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuhe-
ben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzu-
verweisen ist. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über den
Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung
zu entscheiden.



Der Anspruch der Klägerin richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversiche-
rungsordnung (RVO), da die von ihr geltend gemachte BK ihres Ehemannes vor dem In-
krafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) am 1. Januar 1997
eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes , § 212
SGB VII).



Der Anspruch auf Witwenrente besteht gemäß § 589 Abs 1 RVO "bei" Tod durch Arbeits-
unfall. Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein Unfall, den ein Versicherter bei
einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Ar-
beitsunfall gilt nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind die Krankheiten,
welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung bezeichnet und die sich ein Versi-
cherter bei einer versicherten Tätigkeit zugezogen hat.



Das LSG hat die Voraussetzungen für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente im vorlie-
genden Rechtsstreit als erfüllt angesehen, weil der Tod des Versicherten auf eine BK der

- 6 -



Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO zurückzuführen sei. Das LSG hat dabei auf die BK der
Nr 4104 idF der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992
(BGBl I, S 2343) abgestellt, die nach Art 2 Abs 1 dieser Verordnung am 1. Januar 1993 in
Kraft getreten ist. Nach der Rückwirkungsklausel des Art 2 Abs 2 dieser Verordnung
könnte sie jedoch nur angewandt werden, wenn der Versicherungsfall erst nach dem
31. März 1988 eingetreten ist. Dies war vorliegend aber nicht der Fall, weil sich der Versi-
cherte bereits ab dem 22. März 1988 wegen des Bronchialkarzinoms in stationärer Be-
handlung befand. Es kann daher hier ungeprüft bleiben, ob die Einwirkung einer kumulati-
ven Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren nachgewie-
sen ist. Somit ist die frühere Fassung der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO maßgebend.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO vom 22. März 1988
(BGBl I, S 400) oder deren Vorgängerin, die BKVO idF der Änderungsverordnung vom
8. Dezember 1976 (BGBl I, S 3329), anzuwenden ist, da der hier einschlägige Tatbe-
stand, Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) in Verbindung mit Lungenkrebs, der
BK der Nr 4104 im Wortlaut zwar verändert wurde, inhaltlich aber keine Änderungen
erfahren hat. Nach der Fassung der BK der Nr 4104 der Anlage 1 der BKVO vom
22. März 1988 zählt als BK "Lungenkrebs in Verbindung mit
Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder mit durch Asbeststaub verursachter
Erkrankung der Pleura".


Die Voraussetzungen der Nr 4104 in der hier maßgebenden Fassung stehen nach An-
sicht des LSG nicht fest, weil wegen fehlender Röntgen-, computertomographischer oder
feingeweblicher Befunde nicht festgestellt werden kann, daß bei dem Versicherten eine
Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder eine durch Asbeststaub verursachte Er-
krankung der Pleura vorlag. Auch eine Obduktion oder rechtzeitig durchgeführte Exhu-
mierung und Untersuchung des Leichnams, wodurch eine Klärung, ob eine Asbeststaub-
erkrankung vorgelegen hat, möglich gewesen wäre, sei nicht durchgeführt worden. We-
gen der besonderen Umstände des Falles reiche es zur Anspruchsbegründung aus, daß
bei dem Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorgelegen habe. Denn die Beweis-
lage sei auf das Verhalten der Beklagten zurückzuführen, die es schuldhaft versäumt ha-
be, den medizinischen Sachverhalt aufzuklären.


Die Ausführungen, mit denen die Beklagte sich gegen die Auffassung des LSG wendet,
das Unterbleiben der Obduktion bzw der rechtzeitigen Exhumierung und Untersuchung
des Leichnams des Versicherten sei auf eine schuldhafte Vernachlässigung ihrer Ermitt-
lungspflicht (§ 20 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuches ) zurückzuführen, sind
unbegründet. Sie hat nach den Feststellungen des LSG bereits im Oktober 1988 und spä-
ter noch einmal im Dezember 1988 erfahren, daß der Versicherte im September 1988
verstorben war, ohne unverzüglich Ermittlungen hinsichtlich des medizinischen Sachver-
halts anzustellen. Der Beklagten oblag es im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht auch
festzustellen, ob Rechtsnachfolger iS des § 56 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) und

- 7 -



Hinterbliebene iS des § 589 RVO vorhanden waren. Schon deshalb ist der Hinweis der
Revision unbeachtlich, der Beklagten seien Angehörige des Versicherten nicht bekannt
gewesen.


Vor allem übersieht die Beklagte, daß der Vorwurf des LSG, ihre Pflicht zur Amtsermitt-
lung dahingehend, ob beim Versicherten eine Asbeststaublungenerkrankung bzw eine
durch Asbeststaub verursachte Erkrankung des Zwerchfelles vorlag, verletzt zu haben,
sich auch auf den Zeitraum vor dem Tode des Versicherten bezieht. Nach den Feststel-
lungen des LSG war der Beklagten bereits seit dem 4. Mai 1988 durch die Anzeige des
Allgemeinen Krankenhauses B. bekannt, daß beim Versicherten der Verdacht des
Vorliegens einer BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO bestand, ohne daß von ihr - vor
allem in Hinblick auf den ihr bekannten Gesundheitszustand des Versicherten - unver-
züglich die erforderlichen medizinischen Untersuchungen und Begutachtungen veranlaßt
wurden. Hinzu kommt, daß im Falle rechtzeitiger Ermittlungen der Klägerin ggf für das
Feststellungsverfahren über ihre Hinterbliebenenansprüche die Rechtsvermutung des
§ 589 Abs 2 Satz 2 RVO zugute gekommen wäre. Auch diese mögliche Rechtsvermutung
der Klägerin wurde durch das Verhalten der Beklagten vereitelt.


Dagegen sind nach der Auffassung des erkennenden Senats die Rügen der Revision be-
rechtigt, mit denen sie sich gegen die Schlußfolgerungen wendet, die das LSG aus dem
von der Beklagten verschuldeten Beweisnotstand der Klägerin gezogen hat. Das LSG
geht entsprechend der Rechtsprechung des BSG (BSGE 24, 25; 41, 297, 300; BSG SozR
Nr 60 zu § 128 SGG) und der Literatur (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 103 RdNrn 18,
19; § 128 RdNr 18; Bley in Gesamt-Komm, § 128 SGG Anm 4a ff; Krasney/Udsching,
Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, III, RdNrn 29, 159) von dem Grund-
satz aus, daß bei einem Beweisnotstand, auch wenn er auf einer fehlerhaften Beweiser-
hebung oder sogar auf einer Beweisvereitelung durch denjenigen beruht, dem die Uner-
weislichkeit der Tatsachen zum prozessualen Vorteil gereicht, keine Umkehr der Beweis-
last eintritt. Vielmehr sind die Tatsachengerichte in einem derartigen Fall berechtigt, im
Rahmen der vielfältigen Möglichkeiten der Beweiswürdigung (s ua Baumgärtel, Beweis-
lastpraxis im Privatrecht, 1996, S 152 ff) an den Beweis der Tatsachen, auf die sich der
Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen zu stellen (BSGE 24, 25). An die-
ser, auch vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) geteilten Rechtsauffassung
(BVerwGE 10, 270) hält der Senat trotz der beachtlichen abweichenden Ausführungen
von Keller (SGb 1995, 474) fest. Auch Keller geht zutreffend und in Übereinstimmung mit
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) davon aus, einem Beweisnotstand
jedenfalls zunächst einmal im Rahmen der Beweiswürdigung Rechnung zu tragen. Die
Fälle, in denen nach der Rechtsprechung des BGH eine Beweislastumkehr zu prüfen ist
(vgl Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, Band 1, 2. Aufl 1991, § 823 II RdNr 51, § 823
Anhang C II RdNrn 33, 64 und Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 267 ff,
297), unterscheiden sich wesentlich von denen, die dem vorliegenden Fall entsprechen (s

- 8 -



auch Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 266, RdNr 453). Insbesondere
kommt es weder im Rahmen der Amtsermittlungspflicht der Sozialleistungsträger (s
BVerwGE 10, 270, 272) noch grundsätzlich für die geltend gemachten materiell-
rechtlichen Ansprüche der Versicherten darauf an, ob einem der Beteiligten - oder in der
gesetzlichen Unfallversicherung dem Arbeitgeber - ein Verschulden trifft (vgl Baumgärtel
aaO § 823 Anhang C II RdNr 33; s auch BGH NJW 1985, 1774, 1775 und 1992, 754,
755). Eine gegenüber der Berücksichtigung des Beweisnotstandes im Rahmen der Be-
weiswürdigung sichere Handhabung bietet auch eine Beweislastumkehr nicht, deren Ein-
tritt ebenfalls nicht generell bei fehlerhafter Beweiserhebung oder Beweisvereitelung, son-
dern in diesen Fällen je nach den Umständen des Einzelfalls flexibel gestaltet sein
(Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 266 RdNr 453) und als letzte der sich
an die Beweiswürdigung anschließenden Maßnahmen eintreten soll (s auch BGHZ 72,
132, 139; Baumgärtel Handbuch aaO § 823 II RdNr 51, § 823 Anhang C II RdNr 64 und
Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 297 RdNr 508).


Die ständige Rechtsprechung des BSG, die sich im Ergebnis nicht zwangsläufig von de-
nen der Gegenmeinung und der Rechtsprechung des BGH unterscheiden muß, vermag
auch bei Beweisnotstand den in diesem Zusammenhang vom Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) betonten Grundsätzen - insbesondere des fairen Verfahrens und der Waffen-
gleichheit - wirksam zu beachten (s BVerfGE 52, 131, 153, 158; 54, 148, 157; s auch
BGHZ aaO; BVerfG DVBl 1991, 154; Reinhardt NJW 1994, 93). Es bleibt dem Tatsa-
chengericht im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung überlassen, je nach
den Besonderheiten des maßgebenden Einzelfalls schon einzelne Beweisanzeichen, im
Extremfall ein Indiz ausreichen zu lassen für die Feststellung einer Tatsache oder der dar-
aus abgeleiteten Bejahung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.
Hätte das LSG im Hinblick auf den Beweisnotstand der Klägerin aufgrund der gesamten
Umstände des vorliegenden Falles die Voraussetzungen der BK Nr 4104 und die Wahr-
scheinlichkeit des Kausalzusammenhangs zwischen dieser BK und dem Tod des Versi-
cherten bejaht, so wäre dies revisionsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden gewe-
sen.



Die demgegenüber vom LSG aus den angeführten Grundsätzen gezogene rechtliche
Schlußfolgerung, daß schon die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Asbestose beim
Versicherten ausreiche, ist unzutreffend (s auch BGH NJW 1990, 1721). Denn die Be-
fugnis der Tatsachengerichte, im Falle eines unverschuldeten Beweisnotstands ange-
sichts der konkreten Umstände des Einzelfalles an den Beweis weniger hohe Anforde-
rungen zu stellen, basiert auf dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
(§ 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ). Dieser Grundsatz bezieht sich nur auf
die zu würdigenden Tatsachen; er schließt nicht die Befugnis ein, das Beweismaß zu ver-
ringern oder frei darüber zu entscheiden, ob die Gewißheit erforderlich oder die Wahr-
scheinlichkeit ausreicht oder sogar die Möglichkeit genügt, damit eine Tatsache als fest-

- 9 -



gestellt oder der Kausalzusammenhang als gegeben angesehen werden kann. Die zu-
grunde zu legenden Beweismaßstäbe sind anders als die Beweiswürdigung im engeren
Sinn revisionsgerichtlich nachprüfbar (vgl Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Aufl
1994, § 108 VwGO RdNr 5).


Das LSG ist aufgrund seiner Rechtsauffassung von einem anderen Beweismaßstab bei
der Beurteilung des Kausalzusammenhangs ausgegangen und hat darauf seine Beweis-
würdigung ausgerichtet. Dem Revisionsgericht ist eine eigene Würdigung der Beweise
verwehrt. Deshalb mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneu-
ten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

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BSG, 2 RU 18/85 vom 10.04.1986, Bundessozialgericht
SG Bremen S 11 J 117/82 vom 11.04.1984
LSG Bremen L 1 J 15/84 vom 13.12.1984
BSG 2 RU 15/85 vom 30.04.1986, BSGE 60, 87 - 96

Bundessozialgericht

2 RU 15/85

Im Namen des Volkes

Verkündet am

30. April 1986

in dem Rechtsstreit

Klägerin und Revisionsbeklagte,

Prozeßbevollmächtigter

gegen

1.

Beklagte,

2.

Beklagter und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

beigeladen:

l.

Prozeßbevollmächtigter:

2.

- 2 -

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche
Verhandlung am 30. April 1986

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Beklagten zu 2) wird das Teilurteil
des Landessozialgerichts Bremen vom 13. Dezember 1984
geändert, soweit der Beklagte zu 2) zur Zahlung eines Be-
trages in Höhe von 297,10 DM für den Monat Juni 1981 an die
Klägerin verurteilt worden ist.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialge-
richts Bremen vom 11. April 1984 wird auch insoweit zu-
rückgewiesen, als sie die Klage gegen den Beigeladenen zu 2)
für den Monat Juni 1981 betrifft.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Streitig ist, ob die Beklagten von den der Beigeladenen zu 1)
zustehenden Renten Teilbeträge auf Grund eines Pfändungs- und

- 3 -

Uberweisungsbeschlusses an die klagende Bank abzuführen haben,
obwohl die Beigeladene zu 1) zuvor zwei Abtretungserklärungen
hinsichtlich des pfändbaren Teils der ihr zustehenden Rentenan-
sprüche unterschrieben hatte.

Die Beigeladene zu 1) bezieht als Witwe des durch einen Arbeits-
unfall am 25. Mai 1971 verstorbenen Versicherten H.
G. sowohl eine Witwenrente von der Beklagten zu 1) (: LVA
für das Saarland) als auch von dem Beklagten zu 2) (: GUV für das
Saarland); die Höhe der von der Beklagten zu 1) bezogenen Wit-
wenrente betrug - nach dem Stand vom 1. Januar 1981 - 237,10 DM
monatlich, die Höhe der von dem Beklagten zu 2) bezogenen Wit-
wenrente - ebenfalls nach dem Stand vom 1. Januar 1981 -
1.104,80 DM monatlich. Die Kinder der Beigeladenen zu 1) M.
geb. am 5. Juni 1966, und C. , geb. am 9. Dezember 1970,
bezogen Waisenrenten, und zwar von der Beklagten zu 1) in der
Gesamthöhe von 305,80 DM monatlich sowie von dem Beklagten zu 2)
in der Gesamthöhe von 1.104,80 DM monatlich (Stand: 1. Januar
1981).

Unter dem Datum vom 28. Mai 1979 unterzeichnete die Beigeladene
zu 1) eine formularmäßige Abtretungserklärung, mit der sie zur
Sicherung eines ihr von der Beigeladenen zu 2) gewährten Kredits
den pfändbaren Teil ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Ansprüche
gegen den Beklagten zu 2) auf Zahlung der ihr zustehenden Rente
bzw Pension gemäß § 53 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner
Teil - (SGB I) unwiderruflich an die Beigeladene zu 2) abtrat.
Hiervon unterrichtete die Beigeladene zu 2) den Beklagten zu 2)

- 4 -

mit Schreiben vom 13. Juli 1979. Außer dieser Erklärung befindet
sich in den Akten des Beklagten zu 2) eine weitere von der Bei-
geladenen zu 1) unterzeichnete, wörtlich gleichlautende formu-
larmäßige Abtretungserklärung - ebenfalls vom 28. Mai 1979 -, in
der ein Schuldner jedoch nicht bezeichnet ist.

Mit Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß des Amtsgerichts Saar-
brücken vom 18. Februar 1981, der der Beklagten zu 1) am
25. Februar 1981 und dem Beklagten zu 2) am M. März 1981 zuge-
stellt wurde, pfändete die Klägerin wegen einer Forderung in Höhe
von 21.778,37 DM zuzüglich Zinsen und Kosten die gegenüber den
Beklagten bestehenden Rentenansprüche der Beigeladenen zu 1). In
dem Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß ordnete das Amtsgericht
gemäß § 850c Abs 4 der Zivilprozeßordnung (ZPO) an, daß die Kin-
der der Beigeladenen zu 1), M. und C. , bei der Berech-
nung des pfändbaren Teils des Einkommens nicht zu berücksichtigen
seien; außerdem verfügte es zugleich die Zusammenrechnung der
gepfändeten Renten gemäß § 850e Nr 2 und 2a ZPO. Die Beklagten
verständigten sich daraufhin am 5. März 1981 dahingehend, daß
die Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung weiterhin
in voller Höhe an die Beigeladene zu 1) auszuzahlen und der
gesamte pfändbare Teil aus der Witwenrente der Unfallversicherung
zu entnehmen sei. Durch einen weiteren Beschluß vom 3. Juni
1981, welcher der Beklagten zu 1) am 15. Juni 1981 und dem Be-
klagten zu 2) am 12. Juni 1981 zugestellt wurde, änderte das
Amtsgericht den Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß dahingehend
ab, daß der Beigeladenen zu 1) von den zusammengerechneten Renten
in Anlehnung an die Sozialhilferichtlinien gemäß § 54 Abs 3 SGB I

- 5 -

ein unpfändbarer Betrag in Höhe von 1.000,-- DM monatlich ver-
bleiben sollte.

Der Beklagte zu 2) zahlte daraufhin auf Grund der ihm vorliegen-
den Abtretungserklärungen vom 28. Mai 1979 ab Juni 1981 an die
Beigeladene zu 2) einen Betrag in Höhe von 3A1,90 DM monatlich
aus, und zwar unter Berücksichtigung der Anordnungen des Pfän-
dungs- und Uberweisungsbeschlusses sowie des Beschlusses vom
3. Juni 1981. Der Beigeladenen zu 1) verblieben danach von den
zusammengerechneten Renten in der Gesamthöhe von 1.341,90 DM ab
Juni 1981 ihre gesamte Witwenrente aus der Rentenversicherung in
Höhe von 237,10 DM monatlich sowie ein Teil ihrer Witwenrente aus
der Unfallversicherung in Höhe von 762,90 DM monatlich, insgesamt
der vom Amtsgericht Saarbrücken festgesetzte unpfändbare Betrag
in Höhe von 1.000,-- DM monatlich. Zahlungen auf Grund des
Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses an die Klägerin lehnte der
Beklagte zu 2) durch seine Schreiben vom 27. Mai, 14. Juli und
27. November 1981 ab.

Das Sozialgericht (SG) Bremen hat die hiergegen gerichtete Klage
auf Auszahlung der auf Grund des Pfändungs- und Uberweisungsbe—
schlusses pfändbaren Rentenbeträge abgewiesen (Urteil vom
11. April 198U). Durch Teilurteil hat das Landessozialgericht
(LSG) Bremen auf die Berufung der Klägerin das erstinstanzliche
Urteil abgeändert und den Beklagten zu 2) verurteilt, an die
Klägerin für den Monat Juni 1981 297,10 DM als pfändbaren Betrag
zu zahlen. Im übrigen hat es die Klage gegen den Beklagten zu 2)
bezüglich des Monats Juni 1981 und die Klage gegen die Beklagte

- 6 -

zu 1) in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 13. Dezember
1984). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Von den
Renten des Monats Juni 1981 seien nach dem Pfändungs- und Über-
weisungsbeschluß (vom 18. Februar 1981) sowie dem Beschluß vom
3. Juni 1981 der über 1.000,-- DM hinausgehende Teil, insgesamt
341,90 DM, pfändbar. Die zeitlich früher vorgenommene Abtretung
genieße gegenüber der späteren Pfändung zwar Vorrang, dieser
Vorrang setze sich aber nur in Höhe von 44,80 DM zugunsten der
Beigeladenen zu 2) durch. Rechtsgrundlage der Abtretung sei § 53
Abs 3 SGB I. § 53 Abs 2 Nr 2 SGB I sei schon deshalb nicht anzu-
wenden, weil es an ausdrücklichen Feststellungen der Beklagten
fehle, daß die Übertragung der Rentenanteile im wohlverstandenen
Interesse der Beigeladenen zu 1) liege. wirksam abgetreten sei
nur der gegenüber dem Beklagten zu 2) bestehende Rentenanspruch,
der gemäß § 53 Abs 3 SGB I iVm § 8500 ZPO in der ab 1. Januar
1981 geltenden Fassung sowie der dazugehörigen Tabelle des § 850c
Abs 3 ZPO unter Berücksichtigung der Unterhaltsgewährung der
Beigeladenen zu 1) für ihre beiden Kinder in Höhe von 44,80 DM
pfändbar und somit abtretbar gewesen sei. Der Beklagte zu 2)
müsse an die Klägerin den Differenzbetrag von 297,10 DM zwischen
dem gepfändeten (= 341,90 DM) und dem abgetretenen Betrag (:
44,80 DM) abführen. Nicht wirksam abgetreten sei dagegen der
Rentenanspruch der Beigeladenen zu 1) gegenüber der Beklagten
zu 1). Die von der Beigeladenen zu 1) unterzeichnete Abtretungs-
erklärung, in der ein Drittschuldner nicht benannt sei, verstoße
gegen das Bestimmtheitsgebot, zumal die Forderung gegen die Be-
klagte zu 1) bereits bestanden habe und insoweit individuali-
sierbar gewesen sei. Der Rentenanspruch gegenüber der Beklagten

- 7 -

zu 1) sei im übrigen ohnehin in vollem Umfang unpfändbar und so-
mit unabtretbar gewesen, weil dieser unter dem damals unpfändba-
ren Grundbetrag in Höhe von 559,-- DM monatlich gelegen habe. Die
Zusammenrechnung der beiden Renten wie auch die Nichtberücksich-
tigung der beiden Kinder der Beigeladenen zu 1) für die Berech-
nung des unpfändbaren Teils des Einkommens wirke nur zugunsten
der Klägerin, nicht der Beigeladenen zu 2). Es fehle insbesondere
eine Verweisungsvorschrift, nach der eine solche Zusammenrechnung
verschiedener Einkünfte bzw die Nichtberücksichtigung unter-
haltsberechtigter Personen auch etwa vorhandenen Abtretungsgläu-
bigern zugute komme. Selbst wenn ein Abtretungsgläubiger ein den
§§ 8500 Abs U und 850e Nrn 2 und 2a ZPO entsprechendes Antrags-
recht haben sollte, fehle es an einem entsprechenden Antrag der
Beigeladenen zu 2). Zudem beeinträchtige die Erhöhung des pfänd-
baren Betrages zugunsten der vorrangigen Abtretungsgläubiger den
Schutz des Schuldners, den die §§ 53 ff SGB I im Auge hätten.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte zu 2) hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er rügt die
Verletzung von Bundesrecht und begründet dies zunächst damit, daß
die Klage wegen Verstoßes gegen § 54 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG) unzulässig sei. Die Klägerin sei in der Lage gewesen, im
einzelnen das pfändbare Renteneinkommen ziffernmäßig anzugeben.

Auch komme vorliegend nicht eine Leistungsklage, sondern eine
Anfechtungsklage in Betracht, da es sich bei seinen Schreiben vom
27. Mai und 14. Juli 1981 um Verwaltungsakte gehandelt habe.

Die Pfändung der Klägerin auf Grund des Pfändungs- und Überwei-
sungsbeschlusses sei im übrigen ins Leere gegangen. Nach dem

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Prioritätsprinzip gehe eine zeitlich frühere Abtretung einer
späteren Pfändung vor. Im Gegensatz zur Auffassung des LSG liege
eine wirksame Abtretung auch der gegenüber der Beklagten zu 1)
bestehenden Rentenansprüche der Beigeladenen zu 1) vor. Maßgeb-
lich hierfür sei allein der Wille der Parteien des Abtretungs-
Vertrages. Da die Abtretung gemäß § 398 des Bürgerlichen Gesetz-
buches (BGB) nicht an eine bestimmte Form gebunden sei, sei
hierfür auf alle Umstände abzustellen. Die Tatsache, daß die
Beigeladene zu 1) neben der Abtretungserklärung bezüglich der
Rentenansprüche gegenüber dem Beklagten zu 2) eine weitere Ab-
tretungserklärung unterzeichnet habe, habe nur den Sinn, weitere
Rentenleistungen an die Beigeladene zu 2) abzutreten. Hierfür
komme es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH)
allein darauf an, ob die abgetretene Forderung genügend indi-
vidualisierbar sei, wofür die Bezeichnung des Drittschuldners in
der schriftlichen Urkunde nicht erforderlich sei. Die Wirksamkeit
der Abtretung sei nach § 53 Abs 3 SGB I zu beurteilen. Diese Re-
gelung bezwecke ebenso wie die des § 54 SGB I vor allem den
Schutz des Leistungsempfängers davor, durch die Abtretung oder
Pfändung sozialhilfebedürftig zu werden. Die Frage der Sozial-
hilfebedürftigkeit werde aber auch bei einer Abtretung nicht wie
jede einzelne Sozialleistung gesondert ermittelt, sondern richte
sich danach, ob dem Sozialleistungsempfänger insgesamt genug zum
Leben bleibe. Unabhängig von einem konkreten Antrag der Beige-
ladenen zu 2) habe der Beklagte zu 2) daher die Arbeitseinkommen
und Sozialleistungen zusammenzurechnen. Die Wirkung der Zusam-
menrechnung gemäß § 850e Nr 2a ZPO trete also unabhängig davon
ein, ob ein späterer Pfandgläubiger im Verfahren vor dem Voll-

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streckungsgericht einen entsprechenden Antrag stelle oder nicht.

Dies gelte ebenso für die Nichtberücksichtigung der unterhalts-
berechtigten Kinder gemäß § 8500 Abs 4 ZPO. Der Beklagte zu 2)
habe sich im Rahmen seiner Prüfung nach § 53 Abs 3 SGB I insofern
an die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts halten können,
weil hierdurch die tatsächlichen Umstände iS des § 850c Abs 4 ZPO
zutreffend berücksichtigt worden seien.

Der Beklagte zu 2) beantragt,

das Urteil des LSG Bremen vom 13. Dezember
198M aufzuheben und die Berufung der Klägerin
zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision des Beklagten zu 2) zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, daß die Schreiben des Beklagten zu
2) vom 27. Mai und 1A. Juli 1981 keine Verwaltungsakte, sondern
lediglich Anfragen an die Klägerin seien. Die somit allein in
Betracht kommende Leistungsklage, zu deren Stellung das SG an-
stelle einer Feststellungsklage zudem ausdrücklich aufgefordert
habe, sei trotz fehlender genauer Bezifferung des geforderten
Geldbetrages hinreichend konkretisiert und damit zulässig. Zudem
sei nicht nachgewiesen, daß die Abtretung der Rentenansprüche der
Beigeladenen zu 1) zugunsten der Beigeladenen zu 2) bereits am
26. Mai 1979 wirksam geworden sei. Die von der Beigeladenen zu
1) unterzeichneten Abtretungserklärungen tragen zwar das Datum
vom 28. Mai 1979, es sei aber nicht erkennbar, ob und wann dié

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Beigeladene zu 2) diese Abtretungserklärungen angenommen habe. Da
die Beigeladene zu 2) ihren Sitz in Koblenz habe, die Abtre-
tungserklärungen jedoch in Saarbrücken unterschrieben worden
seien, hätten diese als einseitiges Angebot zu wertenden Erklä-
rungen nach § 147 Abs 2 BGB nur innerhalb einer Zeitspanne von
einer Woche oder mehr angenommen werden können. Ein nicht recht-
zeitig angenommenes Angebot stelle rechtlich ein nullum dar.

Diese zeitlich unklaren Verhältnisse seien insbesondere deshalb
von Bedeutung, weil die Beigeladene zu 1) auch ihr (der Klägerin)
gegenüber die Rentenansprüche abgetreten habe. Diese Abtretungs-
erklärung, die sich auf dem von der Beigeladenen zu 1) am
1. Juni 1979 unterzeichneten Kreditantrag befinde, sei von ihr
am 15. Juni 1979 angenommen worden. Die ihr (der Klägerin) ge-
genüber vorgenommene Abtretung sei somit am 15. Juni 1979 und
damit zu einem Zeitpunkt wirksam geworden, als die Abtretungen
zugunsten der Beigeladenen zu 2) noch nicht wirksam gewesen
seien.

Der Beklagte zu 2) hat zur Frage der Wirksamkeit des zwischen den
Beigeladenen zu 1) und 2) geschlossenen Abtretungsvertrages mit
Schriftsatz vom 24. Juni 1985 Stellung genommen. Dieser Ab-
tretungsvertrag sei am 28. Mai 1979, dem Tage der Unterzeichnung
zustande gekommen. Für die Beigeladene zu 2) sei in Saarbrücken
ein Vertreter tätig gewesen, so daß es nicht auf deren Ge-
schäftssitz in Koblenz ankomme. Dieser Vertreter habe der Beige-
ladenen zu 1) sowohl ein Darlehen gewähren als auch mit dieser
Verträge über die Abtretung von Rentenansprüchen schließen kön-
nen.

- 11 -

Die Beklagte zu 1) beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladenen zu 1) und 2) stellen keinen Antrag.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die
Schriftsätze vom 23. April 1985, 8. Mai 1985, 12. Juni 1985,
22. Juni 1985 und 5. Juli 1985 Bezug genommen.

II

Die zulässige Revision des Beklagten zu 2) ist begründet.
Die Klägerin begehrt mit der von ihr erhobenen Klage von den Be-
klagten zu 1) und 2) in Ausführung des Pfändungs- und Überwei-
sungsbeschlusses vom 18. Februar 1981 sowie des Beschlusses vom
3. Juni 1981 Zahlung des pfändbaren Teils der Renteneinkommen
ier Beigeladenen zu 1).

Da nur der Beklagte zu 2) Revision eingelegt hat, hat der Senat
auch nur über das Urteil des LSG zu entscheiden, soweit es die
gegen den Beklagten zu 2) gerichtete Klage betrifft. Das LSG hat
hierüber gemäß § 202 SGG iVm § 301 ZPO durch Teilurteil ent-
schieden, indem es über einen Teil des geltend gemachten An-
spruchs, nämlich nur für den Monat Juni 1981 entschieden und die
Entscheidung für den übrigen Zeitraum dem Schlußurteil vorbehal-
ten hat. Gegenstand der revisionsrechtlichen Prüfung ist daher

- 12 -

nur der Klageanspruch gegen den Beklagten zu 2) für den Monat
Juni 1981. Der von der Klägerin gegenüber dem Beklagten zu 2)
geltend gemachte weitergehende Anspruch für den übrigen Zeitraum
ist noch in der Berufungsinstanz anhängig und damit der Prüfung
durch den erkennenden Senat entzogen.

Das LSG hat zutreffend den Rechtsweg zu den Gerichten der So-
zialgerichtsbarkeit bejaht. Die Klägerin macht die Ansprüche der
Beigeladenen zu 1) auf die Hinterbliebenenrenten aus der ge-
setzlichen Renten- und Unfallversicherung im eigenen Namen gel-
tend, soweit sie ihr aufgrund der Pfändung zur Einziehung über-
wiesen sind. Da die Rechtsnatur eines Anspruchs durch seine
Pfändung und Überweisung nicht geändert wird und der Streit um
Rente aus der gesetzlichen Unfall- oder Rentenversicherung eine
öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der
Sozialversicherung iS des § 51 Abs 1 SGG ist, ist der Sozial-
rechtsweg gegeben (vgl ua BSGE 18, 76, 78; 53, 182, 183; SozR
1200 § 5A Nr 6; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung,
10. Auflg, S 187u).

Die von der Klägerin erhobene echte Leistungsklage ist gemäß § 54
Abs 5 SGG zulässig. Hiernach kann die Verurteilung zu einer Lei-
stung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt
werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Ein sol-
cher Fall liegt jedenfalls dann vor, wenn - wie hier - zwischen
den Beteiligten nicht streitig ist, ob und in welcher Höhe der
Schuldnerin (: Beigeladene zu 1) Rentenleistungen aus der ge-
setzlichen Renten- und Unfallversicherung zustehen, sondern le-

- 13 -

diglich die Frage umstritten ist, ob und ggf welcher Teil der
Sozialleistungen aufgrund der Pfandung an die Pfändungsgläubige-
rin auszuzahlen ist. Bei dieser Sachlage bedurfte es keiner er-
neuten Regelung durch einen Verwaltungsakt, so daß vor Erhebung
der echten Leistungsklage auf Zahlung des pfändbaren Betrages der
Witwenrenten die Durchführung eines Vorverfahrens nicht erfor-
derlich wer (BSG 30zR 1200 § 5M Nr 5 S b, 7; BSGE 18, 76, 77 f).

Hieran ändern auch die beiden Schreiben des Beklagten zu 2) vom
27. Mai und 14. Juli 1482 nichts. Zwar ist es für die Wertung
einer Verwaltungshandlung als Verwaltungsakt unerheblich, ob die
Behörde zu seinem Erlaß befugt gewesen ist oder ob sie im kon-
kreten Fall überhaupt hoheitlich tätig werden durfte. Für das
Vorliegen eines Verwaltungsakts reicht es aus, daß der äußeren
Erscheinungsform nach eine hoheitliche Maßnahme zur Regelung ei-
nes Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts vorliegt.

Entscheidend hierfür ist, daß das Verwaltungshandeln seinem ln-
halt nach die Merkmale des § 31 SGB X erfüllt und erkennbar den
Willen der Benörde ausdrückt, auf dem Gebiet des öffentlichen
Rechts einen Einzelfall verbindlich zu regeln (vgl ua BSGE 15,
7b, 78 mwN; 19, 123, 124; Schneider-Danwitz in RVO/SGB-Gesamt-
Kommentar, Stand Dezember 1981, § 31 SGB X Anm 7 mwN;
Schröder-Printzen/Engelmann, SGB X, 1981, § 31 Anm 1,2). In
diesem Sinne ist der Beklagte zu 2) gegenüber der Klägerin jedoch
nicht tätig geworden. Die beiden Schreiben vom 27. Mai und
14. Juli 1981 sind - im Gegensatz zur Auffassung der Revision -
nicht als Verwaltungsakte zu werten, de sie ihrem Inhalt nach
nicht die Voraussetzungen des § 31 BGB X erfüllen. Das Schreiben
vom 27. Mai 1981 beinhaltet lediglich eine Darstellung des

- 14 -

Rechtsstandpunktes des Beklagten zu 2), mit dem das Zahlungsbe-
gehren der Klägerin abgelehnt wurde. Mit dem weiteren Schreiben
vom 14. Juli 1981 wiederholt der Beklagte zu 2) unter Bezugnahme
auf sein vorhergehendes Schreiben vom 27. Mai 1981 lediglich
diesen ablehnenden Rechtsstandpunkt. Da somit ein Verwaltungsakt
des Beklagten zu 2) nicht erforderlich war und auch nicht vor-
liegt, war die Durchführung eines Vorverfahrens und mithin die
Erhebung einer Anfechtungsklage nicht notwendig; die Klägerin hat
daher hier zutreffend eine Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG
erhoben.

Entgegen der Auffassung des Beklagten zu 2) ist diese Leistungs-
klage zulässig, obwohl die Klägerin ihren Antrag nicht im ein-
zelnen beziffert hat. Zwar gilt auch im sozialgerichtlichen Ver-
fahren als Zulässigkeitsvoraussetzung das Erfordernis eines be-
stimmten Klageantrages (Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl 1981, § 92
Anm 5); hieraus folgt jedoch nicht, daß bei einer auf eine Geld-
leistung gerichteten Klage der geforderte Geldbetrag genau be-
ziffert werden müßte (Meyer-Ladewig, aaO, § 92 Anm 5; anderer
Ansicht wohl Bley in RVO/SGB-Gesamtkomm, Stand Juli 1983, § 54
SGG Anm 11c). Dieser in anderen Rechtsgebieten anerkannte Grund-
satz (vgl für die Zivilgerichtsbarkeit ua BGH NJW 1982, 340f mwN;
für die Verwaltungsgerichtsbarkeit BVerwGE 12, 189 und Hess VGH
Hess VGRspr 1977, 62, 63; Eyermann/Fröhler, VwGO, 8. Aufl 1980,
§ 82 Rdn 4; Kopp, VwG0, 7. Auflage 1986, § 82 Rdn 10), nach dem
dem Bestimmtheitsgebot jedenfalls dann genügt ist, wenn neben
einer hinreichend genauen Darlegung des anspruchsbegründenden
Sachverhalts wenigstens die ungefähre Höhe des verlangten Be-

- 15 -

trages angegeben wird, gilt auch im sozialgerichtlichen Verfah-
ren, zumal § 130 SGG bei einer auf eine Geldleistung gerichteten
echten Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs 5 SGG die Verurtei-
lung dem Grunde nach erlaubt, und zwar ohne daß - wie nach § 111
VwGO und auch § 304 ZPO erforderlich - der Anspruch dem Grunde
und der Höhe nach streitig ist. Aus der Befugnis zum Erlaß eines
Grundurteils nach § 130 SGG ergibt sich konsequenterweise, daß
ein entsprechender, hierauf gerichteter, nicht bezifferter Kla-
geantrag zulässig ist.

Die danach zulässige Leistungsklage ist hinsichtlich des gegen-
über dem Beklagten zu 2) geltend gemachten Klageanspruchs für den
Monat Juni 1981 jedoch unbegründet. Das LSG hat den Beklagten
zu 2) zu Unrecht zur Zahlung von 297,10 DM für den Monat Juni
1981 verurteilt.

Dies ergibt sich aus den Wirkungen der hier vorliegenden nach-
einander erfolgten Abtretung und Pfändung der Rentenansprüche der
Beigeladenen zu 1). Hat ein Leistungsberechtigter seine Sozial-
leistungsansprüche an einen Dritten abgetreten, so gilt im Falle
des Zusammentreffens dieser Abtretung mit einer zeitlich nach-
folgenden Pfändung das Prioritätsprinzip, soweit es sich bei dem
Abtretungsgläubiger und dem Pfändungsgläubiger - wie hier bei der
Beigeladenen zu 2) und der Klägerin - nicht um bevorrechtigte
Unterhaltsberechtigte handelt (vgl Brackmann aaO S 738 m; von
Maydell in GK-SGB I, 2. Aufl 1981, § 53 Rz 41; Heinze in
Bochumer Kommentar, SGB AT, 5 53 Rz 40; SGB I, Allgemeiner Teil,
BfA/VDR, 6. Aufl 1983, § 53 Anm 8.3). Ist also ein Anspruch auf

- 16 -

Sozialleistungen nach dem SGB zunächst in den Grenzen des § 860c
ZPO abgetreten, so kommt bei einer nachfolgenden Pfändung der
Pfändungsgläubiger nur insoweit zum Zuge, als die Sozialleistung
von der vorausgegangenen Abtretung nicht erfaßt war. Gemäß § 398
Satz 2 BGB wird nämlich der Zessionar mit der Abtretung einer
Forderung eines Schuldners neuer Gläubiger des Drittschuldners,
so daß die Forderung nicht mehr zum Vermögen des Schuldners
gehört (Stöber, Forderungspfändung, 7. Auflage 1984, Rdnr 764,
1248; BAGE 41, 297, 300; OLG Hamm Rechtspfleger 1978, 186), dh,
die Klägerin als nachrangige Pfändungsgläubigerin kann mit ihrer
Pfändung nur insoweit Erfolg haben, als die Witwenrentenansprüche
der Beigeladenen zu 1) nicht wirksam an die Beigeladene zu 2)
abgetreten sind. Die Beigeladene zu 1) hat aber von der ihr für
den Monat Juni 1981 zustehenden Witwenrente aus der gesetzlichen
Unfallversicherung einen Betrag - wie unten noch näher darzulegen
ist - in Höhe von 378,70 DM wirksam an die Beigeladene zu 2) ab-
getreten.

Zutreffend hat das LSG die Wirksamkeit der Abtretung der Witwen-
rentenansprüche nicht nach Maßgabe des § 53 Abs 2 Nr 2 SGB I,
sondern nach § 53 Abs 3 SGB I beurteilt. Danach können Ansprüche
auf laufende Geldleistungen, die - wie die Witwenrenten der Bei-
geladenen zu 1) - der Sicherung des Lebensunterhalts dienen, in
anderen Fällen übertragen und verpfändet werden, soweit sie den
für Arbeitseinkommen geltenden unpfändbaren Betrag übersteigen.

§ 53 Abs 2 Nr 2 SGB I, wonach Ansprüche auf Geldleistungen über-
tragen und verpfändet werden können, wenn der zuständige Lei-
stungsträger feststellt, daß die Übertragung und Verpfändung im

- 17 -

wohlverstandenen Interesse des Berechtigten liegt, ist hier schon
deshalb nicht einschlägig, weil es an einer entsprechenden Fest-
stellung des wohlverstandenen Interesses durch die Beklagte zu 1)
und den Beklagten zu 2) fehlt, die zudem durch Verwaltungsakt zu
erfolgen hat (allg Ansicht vgl ua BSG SozR 1200 § 53 Nr 2 S 0;
Hauck/Haines, SGB I, K § 53 Rz 8 aE., Heinze in Bochumer Kom-
mentar, SGB AT, § 53 Rz 21). Die Beigeladene zu 1) konnte somit
ihre gegenüber den Beklagten zu 1) und 2) bestehenden Witwen-
rentenansprüche an die Beigeladene zu 2) gemäß § 53 Abs 3 SGB I
wirksam nur innerhalb der für Arbeitseinkommen geltenden Pfän-
dungsgrenzen abtreten. Die Pfändbarkeit von Arbeitseinkommen er-
gibt sich aus § 850c Abs 1 ZPO in der hier anzuwendenden Fassung
des Artikels 1 Nr 6 des M. Gesetzes zur Änderung der Pfändungs-
freigrenzen vom 28. Februar 1978 (BGBl I S 333) sowie der maß-
gebenden Tabelle zu § 8500 Abs 3 ZPO (: Anlage zu § 850c ZPO idF
des Art 1 Nr 9 des M. Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfrei-
grenzen, Umbenennung mit Wirkung vom 1. Januar 1981 in Anlage 2
durch Art 1 Nr 13 des Gesetzes über die Prozeßkostenhilfe vom
13 Tuni 1980 — BGBl I S 677). Der pfändungsfreie Betrag ist
dabei, sofern — wie hier - verschiedene Ansprüche gegen ver-
schiedene Schuldner abgetreten werden, für jeden Anspruch geson-
dert nach § 850c ZPO zu ermitteln (Stein/Jonas/Münzberg, ZPO,
20. Aufl aaO, § 850e Rdnr 19, 32; s. auch Grunsky in ZIP 1983,
908, 909).

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat die Beigeladene
zu 1) am 28. Mai 1979 hinsichtlich ihres gegenüber dem Beklagten
zu 2) bestehenden Witwenrentenanspruches eine formularmäßige Ab-

- 13 -

tretungserklärung zu Gunsten der Beigeladenen zu 2) unterzeich-
net. Hiervon hat die Beigeladene zu 2) den Beklagten zu 2) mit
Schreiben vom 13. Juli 1979 in Kenntnis gesetzt, so daß davon
auszugehen ist, daß die Abtretungserklärung der Beigeladenen zu
1) spätestens zu diesem Zeitpunkt von der Beigeladenen zu 2) an-
genommen (vgl §§ 147 bis 152 BGB) und somit der zwischen den
Beigeladenen zu 1) und 2) geschlossene Abtretungsvertrag eben-
falls spätestens zu diesem Zeitpunkt wirksam geworden ist. Dies
hat zur Folge, daß die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfall-
versicherung von der Beigeladenen zu 1) an die Beigeladene zu 2)
vorrangig vor der im Jahre 1981 und damit zeitlich späteren
Pfändung durch die Klägerin abgetreten worden ist. Hiervon ist
das LSG im angefochtenen Urteil auch zu Recht ausgegangen. Die
diesbezüglichen tatsächlichen Feststellungen des LSG sind mit
zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angegriffen wor-
den und damit für den Senat bindend (§ 163 SGG).

Der Wirksamkeit steht auch nicht entgegen, daß auf der in den
Akten des Beklagten zu 2) befindlichen Abtretungserklärung die
Unterschrift der Beigeladenen zu 1) — worauf die Klägerin im Re-
visionsverfahren hinweist — nicht beglaubigt ist. Die Beglau-
bigung der Unterschrift ist nur eine auf dem Abtretungsformular
vorgesehene Möglichkeit der Absicherung der Unterschriftslei-
stung. Dem Abtretungsvertrag sind keine Anhaltspunkte zu ent-
nehmen, daß seine Wirksamkeit von diesem gesetzlich nicht vor-
geschriebenen Formerfordernis abhängig sein soll.

Die Klägerin hält zwar die Vorrangigkeit der Abtretung zu Gunsten

- 19 -

der Beigeladenen zu 2) für zweifelhaft und führt hierzu in ihrer
Revisionserwiderung aus, daß die Beigeladene zu 1) am 1. Juni
1979 ihr gegenüber die Rentenansprüche ebenfalls abgetreten habe
und diese Abtretung aufgrund ihrer Annahmeerklärung vom 15. Juni
1979 zu einem Zeitpunkt wirksam geworden sei, als die Abtretung
vom 28. Mai 1979 zu Gunsten der Beigeladenen zu 2) mangels Vor-
liegen einer entsprechenden Annahmeerklärung noch nicht wirksam
gewesen sei. Hierin könnte die Rüge mangelnder Sachaufklärung
(§ 103 SGG) zu sehen sein. Derartige Verfahrensrügen können zwar
auch vom Revisionsbeklagten im Wege der sogenannten Gegenrüge bis
zum Schluß der mündlichen Verhandlung vorgebracht werden (BSG
SozR 1500 § 16A Nr 2H mwN; Meyer-Ladewig, aaO, § 170 RdNr A mwN),
jedoch entsprechen die Ausführungen der Klägerin nicht den Er-
fordernissen des § 166 Abs 2 Satz 3 SGG. Hierfür hätte die Klä-
gerin die den Verfahrensmangel vermeintlich begründenden Tat-
sachen substantiiert darlegen müssen, wozu insbesondere dieje-
nigen Gründe gehören, aufgrund derer sich das LSG von seinem
sachlich—rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt sehen müssen,
weitere Ermittlungen zur Sachverhaltsaufklärung anzustellen und
in welcher Hinsicht derartige Ermittlungen unterlassen worden
sind (vgl BSG SozR 2200 § 160a Nr 3M mwN; SozR Nr ÖH zu § 102
SGG; SozR Nr 1A zu § 103 SGG). Da das Rangverhältnis zwischen der
Abtretung zu Gunsten der Beigeladenen zu 2) und dem von der Klä-
gerin erwirkten Pfändungs— und Uberweisungsbeschluß und somit der
zeitliche Vorrang der Abtretung vor der Pfändung nicht umstritten
war, hätte die Klägerin diesbezüglich näher darlegen müssen,
welche Umstände das LSG hätten veranlassen müssen, den genauen
Zeitpunkt der Annahme der Abtretungserklärung der Beigeladenen zu

- 20 -

1) durch die Beigeladene zu 2) zu ermitteln und ob die Beige-
ladene zu 1) noch eine weitere Abtretungserklärung, und zwar zu
Gunsten der Klägerin unterschrieben hätte. Die Tatsache des Vor-
handenseins einer weiteren Abtretungserklärung der Beigeladenen
zu 1) vom 1. Juni 1979 zu Gunsten der Klägerin, die aufgrund der
zeitlichen Nähe zu der Abtretung vom 28. Mai 1979 für die zeit-
liche Rangfolge der verschiedenen Abtretungen und der Pfändung
von Bedeutung sein könnte, hat die Klägerin erst im Revisions-
verfahren vorgebracht, obwohl ihr diese Tatsache als weitere Ab-
tretungsgläubigerin von Anfang an bekannt gewesen ist, so daß sie
diese spätestens im Berufungsverfahren hätte vorbringen können.

Im Revisionsverfahren ist derartiges neues Tatsachenvorbringen
nur unter den Voraussetzungen des § 163 SGG zu berücksichtigen,
die hier aber nicht gegeben sind.

Ausgehend von diesem vom LSG festgestellten und für den Senat
somit maßgebenden Sachverhalt hat das LSG zu Unrecht die für den
Monat Juni 1981 von dem Beklagten zu 2) zu gewährende Witwenrente
von 1.104,80 DM lediglich in Höhe eines Betrages von 44,80 DM
als pfändbar und damit abtretbar angesehen. Das LSG ist bei der
Bemessung des unpfändbaren Betrages von einer Unterhaltsgewährung
der Beigeladenen zu 1) an ihre beiden Kinder im Sinne des § 850c
Abs 1 Unterabs 2 ZPO ausgegangen; es hat hierbei jedoch nicht
dargelegt, woraus sich ein Unterhaltsanspruch der beiden Kinder
M. und C. gegenüber ihrer Mutter, der Beigeladenen zu
1), ergibt, denn nur aufgrund eines Unterhaltsanspruchs gelei-
stete Zahlungen sind im Rahmen dieser Vorschrift beachtlich.

- 21 -

§ 850c Abs 1 ZPO stellt hinsichtlich der Bemessung des unpfänd-
baren Teils des Einkommens auf den gesetzlichen Unterhalt ab.

Ausgehend von einem unpfändbaren Grundbetrag von seinerzeit
559,00 DM (§ 850c Abs 1 Unterabs 1 ZPO in der oa anzuwendenden
Fassung) richtet sich die Höhe des unpfändbaren Teils des Ein-
kommens des weiteren danach, ob der Schuldner, dh hier die Bei-
geladene zu 1), eine Unterhaltsverpflichtung hat. Der pfändungs-
freie Teil des Einkommens erhöht sich dabei nach § 850c Abs 1
Unterabs 2 ZPO, wenn der Schuldner ua einem Verwandten, wozu
eheliche oder nichteheliche (§§ 1615a ff BGB) Kinder etc gehören,
kraft Gesetzes unternaltspflichtig ist und tatsächlich Unterhalt
gewährt (vgl ua BAG AP Nr 2 mwN und AP Nr 3 zu § 850c ZPO). Lei-
stungen an Verwandte, die sich selbst unterhalten können, sind
daher gemäß § 1602 Abs 1 BGB nicht zu berücksichtigen (Stein/
Jonas/Münzberg, aa0, § 850c RdNr 15; Baumbach/Lauterbach/
Albers/Hartmann, ZPO, 44. Aufl, § 850c Anm 2 A).

Die Unterhaltspflichten zwischen Eltern und ihren Kindern ergeben
sich aus § 1601 BGB. Danach sind Verwandte in gerader Linie ver-
pflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Eine "abstrakte" Un-
terhaltsverpflicntung allein aufgrund einer bestimmten familien-
rechtlichen Beziehung reicht aber hierfür nicht aus. Die Pflicht
zur Gewährung von Unterhalt ergibt sich erst aus den konkreten
Lebens- und Einkommensverhältnissen des zum Unterhalt Berechtig-
ten und des hierzu Verpflichteten. Auf den vorliegenden Fall be-
zogen bedeutet dies, daß die Kinder der Beigeladenen zu 1) un-
terhaltsbedürftig (§ 1602 Abs 1 BGB) und die Beigeladene zu 1)
zur Gewährung des Unterhalts leistungsfähig (S 1603 BGB) gewesen

- 22 -

sein müssen. Nach § 1602 Abs 1 BGB ist unterhaltsberechtigt, wer
außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Bei Verwandten in
gerader Linie ist diese Voraussetzung gegeben, wenn ein der Le-
bensstellung der Bedürftigen entsprechender Unterhalt nicht ge-
sichert ist, wenn sie also nicht in der Lage sind, ihren ange-
messenen Unterhalt selbst zu bestreiten (§ 1610 Abs 1 BGB).

Die Beigeladene zu 1) bezog nach den bindenden Feststellungen des
LSG (§ 163 SGG) im Juni 1981 Witwenrenten von der Beklagten zu 1)
und dem Beklagten zu 2) in einer Gesamthöhe von 1.341,90 DM.

Ihre beiden 10 und 15-jährigen Kinder C. und M. erhiel-
ten zur selben Zeit von der Beklagten zu 1) und dem Beklagten zu
2) zusammen Halbwaisenrenten in der Gesamthöhe von 1.410,60 DM,
so daß auf jedes einzelne Kind hiervon die Hälfte, dh ein Betrag
von 705,30 DM entfiel. Angesichts dieser den beiden Kindern zur
Verfügung stehenden monatlichen Einkünfte waren sie nicht unter-
haltsbedürftig im Sinne des § 1602 Abs 1 BGB.

Der Betrag des angemessenen Unterhalts bestimmt sich nach den
Umständen des Einzelfalles (BSG SozR 2200 § 596 Nr 10). Da deren
Feststellung häufig recht schwierig ist, hat die Praxis der Zi-
vilgerichte eine Anzahl von Tabellen und Leitlinien entwickelt,
um die unbestimmten Rechtsbegriffe der "Lebensstellung" und des
"angemessenen" Unterhalts praktikabel zu machen. Für eine solche
Pauschalierung treten die meisten Oberlandesgerichte ein. Eine
besonders weite Verbreitung bei den Familiengerichten haben
hierbei die in der sogenannten Düsseldorfer Tabelle festgelegten
Unterhaltsrichtlinien gefunden (vgl hierzu Gesamtüberblick bei

- 23 -

Kalthoener/Büttner, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts,
3. Aufl 1985, S 3 ff), die auch in die sozialrechtliche Praxis
Eingang gefunden haben (vgl ua zuletzt Urteil des 7. Senats des
BSG vom 23. Oktober 1985 - 7 RAr 32/8M -; BSG SozR 2200 5 596
Nr 10; BSGE 57, 59, 70; 57, 77, 81, s. aber auch Gernhuber
SGb 1985, 523). Auch der Bundesgerichtshof geht in seiner Rech-
sprechung davon aus, daß bei der Bemessung des angemessenen
Unterhalts Richtsätze und Leitlinien zugrunde gelegt werden kön-
nen, die auf die gegebenen Verhältnisse abgestimmt sind und der
Lebenserfahrung entsprechen, soweit nicht im Einzelfall besondere
Umstände eine Abweichung bedingen; er hat hierbei bislang die in
der Düsseldorfer Tabelle enthaltenen unterhaltsrechtlichen
Grundsätze nicht beanstandet (vgl zB BGHZ 70, 151, 155; FamRZ
1979, 692, 693; 1982, 365, 366).

Da gemäß § 1606 Abs 3 Satz 1 BGB beide Elternteile ihren Kindern
anteilig nach ihren Erwerbs- und Vvermögensverhältnissen haften
und nach der Wertentscheidung des Gesetzes in § 1606 Abs 3 Satz 2
BGB jedenfalls während der Minderjährigkeit der Kinder davon
auszugehen ist, daß die finanziellen Leistungen des Vaters und
die Betreuung der Kinder durch die Mutter im allgemeinen als
gleichwertig anzusehen sind (BGH NJW 1981, 168, 170; BGHZ 70,
151, 159f), geben die Tabellenwerte auch nur den nälftigen Le-
bensbedarf wieder (Kalthoener/Büttner, aaO, RdNr 286). Nach dem
Tode eines Elternteils, entweder des barleistungspflichtigen oder
des die Kinder betreuenden, richtet sich daher der Unterhalts-
anspruch der Kinder in Höhe des vollen Bedarfs C: doppelter Ta-
bellensatz: Bar- und Betreuungsunterhalt) gegen den überlebenden

- 24 -

Elternteil (BGH NJW 1981, 168, 170; Kalthoener/Büttner, aaO,
RdNr 287).

Auf den derart ermittelten Unterhaltsanspruch eines Berechtigten
sind dessen eigene Einkünfte anzurechnen. Zwar müssen minder-
jährige unverheiratete Kinder nach § 1602 Abs 2 BGB den Stamm
ihres Vermögens nicht zum eigenen Unterhalt verwenden, dies gilt
jedoch nicht für Einkünfte jeder Art einschließlich von ihnen
bezogener Sozialleistungen. Eine einem ehelichen Kind nach dem
Tode eines Elternteils gewährte Waisenrente aus der gesetzlichen
Renten- oder Unfallversicherung mindert oder beseitigt somit
dessen Unterhaltsbedürftigkeit und dementsprechend auch dessen
Unterhaltsanspruch (BGH NJW 1981, 168, 169 mwN; Kalthoener/Bütt-
ner, aaO, RdNr 286; Köhler, Handbuch des Unterhaltsrechts,
6. Aufl, RdNr 67; Sorgel/Lange, Kommentar zum BGB, 11. Aufl,
§ 1602 RdNr 6; Köhler in Münchener Kommentar zum BGB, 1978,
§ 1602 RdNr 17). Da - wie bereits ausgeführt - sich nach dem Tode
eines Elternteils der Unterhaltsanspruch in Höhe des vollen Be-
darfs gegen den überlebenden Elternteil richtet, kommt diesem
auch die Minderung der Unterhaltsbedürftigkeit durch die Waisen-
rente in voller Höhe zugute (BGH NJW 1981, 168, 170). Unter Zu-
grundlegung der Düsseldorfer Tabelle nach dem hier maßgebenden

Stand vom 1. Januar 1980 (vgl NJW 1980, 107; 1981, 963) ergeben
sich aufgrund des Renteneinkommens der Beigeladenen zu 1) in Höhe
von insgesamt 1.341,90 DM für den Monat Juni 1981 Unterhalts-
bedarfsbeträge von 456,00 DM für das Kind C. (: doppelter
Satz der Tabelle A "Kindesunterhalt" entsprechend der zum dama-
ligen Zeitpunkt - Juni 1981 - maßgebenden Altersstufe vom 7. bis

- 25 -

zur Vollendung des 12. Lebensjahres sowie der Einkommensgruppe
1) sowie 540,00 DM für das Kind M. (= doppelter Satz der Ta-
belle A "Kindesunterhalt" entsprechend der zum damaligen Zeit-
punkt - Juni 1981 - maßgebenden Altersstufe vom 13. bis zur
Vollendung des 18. Lebensjahres sowie der Einkommensgruppe 1).

Auf diese Unterhaltsbedarfsbeträge sind die den beiden Kindern
der Beigeladenen zu 1) gewährten Waisenrenten in Höhe des jeweils
auf das einzelne Kind entfallenen Anteils von 705,30 DM voll an-
zurechnen. Da diese Einkünfte die Unterhaltsbedarfsbeträge über-
steigen, fehlt es insoweit an der Unterhaltsbedürftigkeit der
beiden Kinder der Beigeladenen zu 1).

Da somit eine Unterhaltsverpflichtung der Beigeladenen zu 1)
mangels Unterhaltsbedürftigkeit ihrer Kinder nicht bestand, war
die von dem Beklagten zu 2) zu gewährende Witwenrente des Monats
Juni 1981 nach § 8500 Abs 1 iVm der Tabelle zu § 850c Abs 3 ZP0
(= pfändbarer Betrag bei Unterhaltspflicht für null Personen -,
jeweils in der oa anzuwendenden Fassung) in Höhe eines Betrages
von 378,70 DM pfändbar und damit abtretbar. Die Beigeladene zu 1)
hat daher ihre gegen den Beklagten zu 2) bestehenden Rentenan-
sprüche wirksam und - wie ausgeführt — auch vorrangig von der
zeitlich späteren Pfändung durch die Klägerin in Höhe eines Be-
trages von 378,70 DM abgetreten. Daß in dem Beschluß des Amts-
gerichts vom 3. Juni 1981 ein höherer unpfändbarer Betrag fest-
gestellt ist, berührt die für die Abtretung maßgebende Berechnung
des pfändbaren Betrages nicht, da der Beschluß nur die Pfändung
betrifft.

- 25 -

Aufgrund der wirksamen und vorrangigen Abtretung des gegenüber
dem Beklagten zu 2) bestehenden Witwenrentenanspruches in Höhe
eines Betrages von 378,70 DM war - wie bereits dargelegt - dies-
bezüglich nicht mehr die Beigeladene zu 1), sondern die Beige-
ladene zu 2) Gläubigerin des Beklagten zu 2), so daß die Pfändung
der Klägerin aufgrund des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses
vom 18. Februar 1981 ins Leere ging, da hiernach sowie dem er-
gänzenden Beschluß vom 3. Juni 1981 lediglich ein Betrag von
insgesamt 341,90 DM und damit weniger als der abgetretene Betrag
von 378,70 DM pfändbar war.

Es kann daher hier dahingestellt bleiben, welche Wirkungen die
mit dem Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß des Amtsgerichts
Saarbrücken vom 18. Februar 1981 gleichzeitig erlassenen Be-
schlüsse nach den §§ 850c und 850 e Nrn 2 und 2a ZPO sowie der
Beschluß vom 3. Juni 1981 in bezug auf die Abtretungsgläubige-
rin, dh die Beigeladene zu 2), entfalten, da dies jedenfalls
hinsichtlich des hier allein streitigen Anspruchs der Klägerin
gegen den Beklagten zu 2) für den Monat Juni 1981 nicht ent-
scheidungserheblich ist. Ein höherer Betrag als der bereits vor-
rangig von der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversiche-
rung abgetretene Betrag in Höhe von 378,70 DM ist nämlich nach
den genannten Beschlüssen - wie ausgeführt - für den Monat Juni
1981 nicht pfändbar.

Es kann daher darüber hinaus auch dahingestellt bleiben, ob trotz
fehlender Schuldnerbenennung in der weiteren Abtretungserklärung
vom 28. Mai 1979 auch die von der Beklagten zu 1) zu zahlende

- 27 -

Witwenrente wirksam an die Beigeladene zu 2) abgetreten ist oder
ob entsprechend der Auffassung des LSG mangels Bestimmtheit des
Abtretungsvertrages eine wirksame Abtretung der Witwenrente aus
der gesetzlichen Rentenversicherung nicht vorliegt, da selbst bei
einer Unwirksamkeit der Abtretung der Witwenrente aus der ge-
setzlichen Rentenversicherung - wie ausgeführt - der Klägerin
jedenfalls von der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallver-
sicherung kein pfändbarer Betrag mehr zur Verfügung stehen würde.

Nach den Beschlüssen des Vollstreckungsgerichts käme allenfalls
die Pfändbarkeit der von der Beklagten zu 1) zu gewährenden Wit-
wenrente in Betracht. Hierüber hat der Senat jedoch nicht zu
entscheiden. Das Urteil des LSG, mit dem der Beklagte zu 2) zur
Zahlung von 297,10 DM verurteilt, die Klage gegen die Beklagte zu
1) jedoch in vollem Umfang abgewiesen worden ist, ist nämlich nur
von dem Beklagten zu 2) mit der Revision angefochten worden. Die
Klägerin dagegen hat keine Revision eingelegt. Das angefochtene
Urteil ist daher einer Nachprüfung durch das Revisionsgericht nur
insoweit zugänglich, als es sich um die von dem Revisionskläger
(= Beklagter zu 2) angegriffene Verurteilung zur Zahlung von
297,10 DM als pfändbaren Betrag handelt. Hinsichtlich der Klage-
abweisung gegenüber der Beklagten zu 1) ist das Urteil des LSG
zwischen den Beteiligten bindend geworden, da es diesbezüglich
weder von der Klägerin noch der Beklagten zu 1) bzw den Beigela-
denen angegriffen und auch eine Anschlußrevision innerhalb eines
Monats nach Zustellung der Revisionsbegründungsschrift nicht
eingelegt worden ist (BSGE 44, 184).

Da das SG somit im Ergebnis zutreffend die Klage gegen den Be-

- 28 -

klagten zu 2) betreffend den Monat Juni 1981 abgewiesen hat, war
das angefochtene Urteil insoweit zu ändern und die Berufung gegen
das Urteil des SG betreffend den Zeitraum Juni 1981 zurückzuwei-
sen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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BSG, 2 BU 15/91 vom 09.08.1991, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT
2 BU 15/91

BESCHLUSS

in dem Rechtsstreit

Kläger, Antragsteller
und Beschwerdeführer,
gesetzlich vertreten durch seinen Pfleger ... ,
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt ...,

gegen

Bayerischer Gemeindeunfallversicherungsverband,
München 40, Ungererstraße 71,
Beklagter, Antragsgegner
und Beschwerdegegner.

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat am 9. August 1991
durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. K. sowie
Richter W. und Dr. B.
beschlossen:

Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Nichtzu-
lassungsbeschwerde vor dem Bundessozialgericht Prozeßkosten-
hilfe zu bewilligen und ihm Rechtsanwalt M..... beizuordnen,
wird abgelehnt.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision
im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Oktober
1990 wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe :

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Pflege oder Pfle-
gegeld wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 23. März 1979.
Den Antrag des Klägers, ihm Pflegegeld zu gewähren, lehnte der
Beklagte ab, weil der Kläger nicht infolge des Arbeitsunfalls,
sondern durch seine paranoide Schizophrenie hilflos sei
(formloses Schreiben vom 4. Februar 1986, Widerspruchsbescheid
vom 10. Februar 1987). Vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg und
dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger eben-
falls keinen Erfolg gehabt (Urteile vom 19. Juli 1988, berich-
tigt am 6. Oktober 1988 - S 2 U 57/87 - und vom 24. Oktober 1990
- L 2 U 204/88 -) .

Sein Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe für das Ver-
fahren der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundessozialgericht
(BSG) war abzulehnen; die nicht in zulässiger Form begründete
Beschwerde war zu verwerfen.

Prozeßkostenhilfe kann dem Kläger allein deshalb nicht gewährt
werden, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinrei-
chende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Sozialgerichtsgesetz -
SGG- iVm § 114 Abs 1 Satz 1 Zivilprozeßordnung idF des Gesetzes
über die Prozeßkostenhilfe vom 13. Juni 1980 - BGBl I 677 -).
Zulassungsgründe iS des § 160 Abs 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das
LSG ist unzulässig. Die dazu gegebene Begründung entspricht

- 3 -

nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 SGG festgelegten
gesetzlichen Form. Nach der ständigen Rechtsprechung erfordert
§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG, daß die Zulassungsgründe schlüssig
dargetan werden (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 34, 47, 54, 58). Daran
fehlt es der Beschwerde. Der Beschwerdeführer hat keinen der in
§ 160 Abs 2 SGG genannten Zulassungsgründe formgerecht bezeichnet
oder dargelegt. In seiner Beschwerdebegründung erwähnt er noch
nicht einmal eine einzige Vorschrift des SGG für das Verfahren
der Nichtzulassungsbeschwerde.

Zur Begründung der Grundsätzlichkeit einer Rechtssache iS des
§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG muß erläutert werden, daß und warum in dem
angestrebten Revisionsverfahren eine Rechtsfrage erheblich sein
würde, die über den Einzelfall hinaus allgemeine Bedeutung hat
(BSG SozR 1500 § 160a Nr 39). Der Beschwerdebegründung fehlt es
sowohl an der konkreten Formulierung einer Rechtsfrage als auch an
der schlüssigen Darlegung, warum das angedeutete Rechtsproblem
klärungsbedürftig ist.

Eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG hat der Beschwerde-
führer nicht schlüssig bezeichnet, weil er die Entscheidung des
BSG, von der die Entscheidung des LSG abweichen soll, nicht mit
Datum und Aktenzeichen genau bezeichnet hat und auch die Angabe
fehlt, mit welchem tragenden Rechtssatz der angefochtenen
Entscheidung das LSG von welcher genau bezeichneten tragenden
rechtlichen Aussage eine Entscheidung des BSG abgewichen sein
soll (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14).

- 4 -

Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefoch-
tene Entscheidung beruhen kann. Auch daran fehlt es der Be-
schwerdebegründung.

Zweck des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde ist es nicht,
das Urteil eines LSG daraufhin zu überprüfen, ob das materielle
Recht zutreffend angewandt worden ist. Deshalb kann der Kläger
in diesem Verfahren nicht mit dem Argument gehört werden, das
LSG habe den Grundsatz der Subsidiarität sozialhilferechtlicher
Leistungen grundlegend verkannt.


Aus den oben angeführten prozeßrechtlichen Gründen ist es dem
Senat verwehrt, zu dieser materiell-rechtlichen Frage Stellung
zu nehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung
des § 193 SGG.

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BSG, 1 RK 23/96 vom 18.02.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: 1 RK 23/96

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Schwäbisch Gmünder Ersatzkasse,
73529 Schwäbisch Gmünd, Gottlieb-Daimler-Straße 19,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung
am 18. Februar 1997 durch den Präsidenten von W. ,
die Richter S. und Dr. D. sowie die ehrenamtliche
Richterin D. und den ehrenamtlichen Richter H.
für Recht erkannt:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom
26. September 1996 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

Der 1938 geborene Kläger leidet an einer Niereninsuffizienz, derentwegen er sich seit
Dezember 1993 zwei- bis dreimal wöchentlich einer Dialysebehandlung unterziehen muß.

Für die Fahrten zwischen seiner Wohnung in Wilhelmshaven und dem Dialysezentrum in
Jever benötigt er ein Taxi. Die beklagte Ersatzkasse übernahm aufgrund der Härtefallre-
gelung des § 62 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) für 1994 den die Bela-
stungsgrenze übersteigenden Teil der notwendigen Fahrkosten. Eine darüber hinausge-
hende, generelle Kostenübernahme nach Maßgabe des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V lehnte
sie ab, weil die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt seien (Bescheid vom
9. März 1994; Widerspruchsbescheid vom 9. September 1994).

Klage und Berufung des Klägers sind ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht
(LSG) hat im Urteil vom 26. September 1996 ausgeführt, auf § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4
SGB V lasse sich der geltend gemachte Anspruch nicht stützen. Diese Bestimmung sehe
bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung eine Kostenübernahme nur für den
Fall vor, daß dadurch eine an sich gebotene vollstationäre oder teilstationäre Kranken-
hausbehandlung vermieden werde. Dialysebehandlungen würden aber regelmäßig ambu-
lant durchgeführt, so daß der angesprochene Gesichtspunkt bei ihnen nicht zum Tragen
komme. Da die Regelung in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V vom Gesetzgeber bewußt eng
gefaßt worden sei, scheide auch eine analoge Anwendung der Bestimmung auf andere,
vom Wortlaut nicht erfaßte Tatbestände aus. Das Gleichbehandlungsgebot des Art 3
Abs 1 Grundgesetz (GG) werde durch die Nichteinbeziehung der Dialysebehandlungen in
die gesetzliche Regelung nicht verletzt.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, die Dialyse müsse im Hinblick auf den damit
verbundenen zeitlichen, personellen und medizinisch-technischen Aufwand einer teilsta-
tionären Behandlung gleichgesetzt werden. Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebiete,
daß bei Dialysepatienten ebenso wie bei anderen Schwerkranken die mit der medizini-
schen Versorgung in Zusammenhang stehenden Fahrkosten von der Krankenkasse ge-
tragen werden.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. September 1996 und

des Sozialgerichts Oldenburg vom 25. Oktober 1995 aufzuheben und die Beklagte

unter Abänderung des Bescheides vom 9. Mai 1994 in der Gestalt des Wider-

- 3 -

spruchsbescheides vom 9. September 1994 zu verurteilen, ihm den Eigenanteil an
den Fahrkosten zu Dialysebehandlungen ab April 1994 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Zwischen den Beteiligten besteht Übereinstimmung, daß die Beklagte die Kosten des
Klägers für Fahrten zur Dialysebehandlung nach der Härtefallregelung des § 62 Abs 1
SGB V insoweit zu tragen hat, als sie die dort festgelegte individuelle Belastungsgrenze
übersteigen. Eine darüber hinausgehende, generelle Übernahme dieser Kosten, wie sie
der Kläger begehrt, läßt das geltende Recht nicht zu. Die klageabweisenden Urteile der
Vorinstanzen sind deshalb zu bestätigen.

Zu der Frage, ob und inwieweit die durch eine Krankenbehandlung verursachten Fahrko-
sten zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, trifft das Ge-
setz eine differenzierende Regelung: Nach der Grundnorm des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V
sind diese Kosten von der Krankenkasse nur bei bestimmten, in der Vorschrift genannten
Sachverhalten zu tragen, während sie im übrigen dem Verantwortungsbereich des Versi-
cherten zugerechnet werden. Demgegenüber hat die Kasse nach § 60 Abs 2 Satz 2
SGB V unabhängig von der Art der Leistung einzutreten, wenn die Kosten den Versicher-
ten unzumutbar belasten würden, sei es, daß er wegen seines geringen Einkommens
überhaupt keine Eigenleistungen erbringen kann (§ 61 SGB V) oder daß die entstehen-
den Aufwendungen eine von der Einkommenshöhe abhängige Grenze der zumutbaren
Eigenbelastung überschreiten (§ 62 SGB V). Gemäß § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V übernimmt
die Krankenkasse die einen Betrag von 20,00 DM je Fahrt übersteigenden Fahrkosten bei
Fahrten zu einer stationären Behandlung (Nr 1), bei Rettungsfahrten (Nr 2), bei Kranken-
transporten (Nr 3) sowie bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung einschließ-
lich einer Behandlung nach § 115a oder § 115b SGB V, wenn dadurch eine an sich ge-
botene vollstationäre oder teilstationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt
wird oder diese nicht ausführbar ist (Nr 4).

Da die Dialysebehandlungen des Klägers ambulant durchgeführt werden und keinen
qualifizierten Krankentransport iS der Nr 3 erfordern, kommt als Grundlage des geltend
gemachten Anspruchs allein § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in Betracht. Wie das LSG
zutreffend ausgeführt hat, sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift jedoch nicht erfüllt;

- 4 -

denn die Dialyse gehört nicht zu den Leistungen, durch die eine "an sich gebotene"
stationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird. Der Senat braucht
nicht zu entscheiden, ob mit dieser Wendung nur Ausnahmefälle erfaßt werden sollen, in
denen eine aus medizinischer Sicht eigentlich notwendige stationäre Behandlung aus be-
sonderen Gründen ambulant vorgenommen wird (so wohl Krauskopf, Soziale Krankenver-
sicherung und Pflegeversicherung, Stand Juni 1996, § 60 SGB V RdNr 16), oder ob dar-
unter, wofür die Einbeziehung der Leistungen nach § 115b SGB V spricht, auch solche
Behandlungen fallen, die zwar bisher (noch) überwiegend stationär erbracht werden,
grundsätzlich aber auch ambulant durchführbar sind und durchgeführt werden. Nachdem
Dialysebehandlungen regelmäßig ambulant erbracht werden und allenfalls beim Auftreten
von Komplikationen eine stationäre Aufnahme nach sich ziehen, werden sie vom Rege-
lungsgehalt des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in keinem Fall erfaßt.

Mit Recht hat es das LSG auch abgelehnt, § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zur
Dialysebehandlung analog anzuwenden. Eine Erstreckung des Anwendungsbereichs der
Vorschrift auf weitere, nicht ausdrücklich genannte Fälle einer ambulanten Behandlung
käme nur in Betracht, wenn die getroffene Regelung gemessen an den mit ihr verfolgten
Zielen unvollständig wäre und durch die Einbeziehung ähnlicher, vom Gesetzeszweck
ebenfalls erfaßter Sachverhalte ergänzt werden müßte. Für die Annahme einer solchen
planwidrigen Gesetzeslücke ist indessen nach dem Inhalt der Vorschrift und der ihr
zugrundeliegenden Regelungsabsicht kein Raum.

Bereits die Tatsache, daß das Gesetz die Übernahme der durch eine medizinische
Behandlung verursachten Fahrkosten durch die Krankenkasse auf bestimmte, genau
umschriebene Sachverhalte beschränkt und den Versicherten im übrigen in § 60 Abs 2
Satz 2 SGB V auf die Härteklauseln der §§ 61 und 62 SGB V verweist, macht deutlich,
daß die Regelung Ausnahmecharakter hat und die privilegierten Tatbestände abschlie-
ßend erfassen will. Dies wird durch die Rechtsentwicklung bestätigt. Während der
frühere, am 31. Dezember 1988 außer Kraft getretene § 194 Abs 1 Reichsversicherungs-
ordnung (RVO) noch generell die Erstattung der im Zusammenhang mit einer Leistung
der Krankenkasse erforderlichen Fahr-, Verpflegungs- und Übernachtungskosten ein-
schließlich eines notwendigen Gepäcktransports vorgesehen hatte, hat das Gesundheits-
Reformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477) die Ansprüche auf Reise-
kostenerstattung drastisch eingeschränkt. Seither werden nur noch Fahrkosten und auch
diese nur in besonderen Fällen übernommen. Die Fahrkosten zu einer ambulanten
Behandlung hat der Versicherte grundsätzlich selbst zu tragen. Ausgenommen hiervon
waren nach der ursprünglichen, auf dem GRG beruhenden Fassung des § 60 Abs 2
Satz 1 SGB V nur Rettungsfahrten zum Krankenhaus und Krankentransporte in einem
speziellen Krankentransportfahrzeug. Der Gesetzgeber war der Auffassung, daß
einerseits die starke, durch eine weitgehend unkritische Verordnung von Krankenfahrten
seitens der Ärzte und Krankenhäuser mitverursachte Kostenbelastung der Kranken-

- 5 -

kassen finanziell nicht länger vertretbar, andererseits angesichts des hohen Grades der
Motorisierung und des zumindest im städtischen Bereich dichten Netzes öffentlicher Ver-
kehrsmittel eine umfassende Kostenübernahme auch nicht zwingend geboten sei
(Regierungsentwurf zum GRG, BR-Drucks 200/88 S 186 Begr zu § 68). Das
Gesundheits-Strukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S 2266) hat den
Katalog der zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung zählenden
Fahrkosten um den Tatbestand des jetzigen § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V erweitert,
ohne das der Vorschrift zugrundeliegende Regel-Ausnahmeprinzip aufzugeben. Ange-
sichts dessen ist nicht zweifelhaft, daß die Aufzählung der für eine Kostenerstattung in
Frage kommenden Fälle abschließend sein soll.

Der Annahme einer unbeabsichtigten Regelungslücke als Voraussetzung für eine analoge
Anwendung des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zu Dialysebehandlungen steht
aber vor allem der aus der Entstehungsgeschichte ersichtliche Zweck dieser Vorschrift
entgegen. Im Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. vom 5. No-
vember 1992 (BT-Drucks 12/3608 S 82) ist ihre Einführung damit begründet worden, daß
dadurch Anreize zur Vermeidung oder Verkürzung einer stationären Behandlung geschaf-
fen werden sollten. Im Unterschied zu den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V ge-
nannten Sachverhalten, bei denen die überdurchschnittliche Höhe der zu erwartenden Ko-
sten den Grund für die Ausnahmeregelung abgibt, ging es bei den Behandlungsfällen
nach Nr 4 darum, das Ziel einer Verlagerung von Leistungen aus dem stationären in den
ambulanten Bereich nicht durch eine Schlechterstellung der ambulanten Behandlungsal-
ternativen bei der Fahrkostenerstattung zu gefährden. Mit Blick auf diese gesetzgeberi-
sche Absicht sind Dialysebehandlungen den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V aufgeführ-
ten Behandlungen von vornherein nicht vergleichbar, so daß es insoweit an einem analo-
giefähigen Tatbestand fehlt. Diese Konsequenz ist im Gesetzgebungsverfahren aus-
drücklich gesehen und gebilligt worden. Der Ausschuß für Gesundheit des Deutschen
Bundestages, auf dessen Beschlußempfehlung vom 7. Dezember 1992 (BT-Drucks
12/3930 S 17) der endgültige Text der Vorschrift zurückgeht, hat in seinem Bericht vom
8. Dezember 1992 (BT-Drucks 12/3937 S 12) wörtlich ausgeführt: "Für Leistungen, die
grundsätzlich ambulant erbracht werden (zB Dialysebehandlungen) bringt die Neurege-
lung keine Änderung gegenüber dem bisherigen Recht, da bei solchen Behandlungen
stationäre oder teilstationäre Krankenhauspflege nicht erforderlich ist und damit auch
nicht vermieden werden kann." Das Problem der Fahrkosten bei Dialysebehandlungen
und allgemein bei ambulanten Dauer- oder Serienbehandlungen war dem Gesetzgeber
demnach bekannt und sollte bewußt nicht in dem von der Revision befürworteten Sinne
einer Einbeziehung dieser Leistungen in die Kostenerstattungsregelung gelöst werden.

Zu Unrecht beruft sich der Kläger für seinen Rechtsstandpunkt auf den Gleichbehand-lungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG. Abgesehen davon, daß die gesetzliche Regelung
gegen den erklärten Willen des Gesetzgebers auch im Wege einer ver-

- 6 -

fassungskonformen Auslegung nicht auf Fahrten zu Dialysebehandlungen erstreckt
werden könnte (vgl dazu BVerfGE 8, 28, 34; 70, 35, 63 f mwN; Hesse, Grundzüge des
Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl, RdNr 80), gibt es für die
Privilegierung der in § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V genannten Tatbestände hinreichende
sachliche Gründe. Daß Dialysebehandlungen auf der einen und die in § 60 Abs 2 Satz 1
Nr 4 SGB V aufgeführten ambulanten Leistungen auf der anderen Seite in bezug auf die
Erstattung von Fahrkosten unterschiedlich behandelt werden, ist angesichts des mit der
genannten Vorschrift verfolgten Zwecks sachgerecht. Der Umstand, daß die Dialyse
wegen der Häufigkeit und der Zeitdauer der Behandlung sowie des erforderlichen perso-
nellen und medizinisch-technischen Aufwands einer teilstationären Behandlung vergleich-
bar sein mag, zwingt auch nicht dazu, sie hinsichtlich der Übernahme von Fahrtkosten
einer stationären Therapie iS des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V gleichzusetzen. Anders
als in den Fällen des § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V, in denen es darum geht, den
Versicherten von dem Risiko einer einmaligen hohen Kostenbelastung freizustellen,
verteilen sich die - in der Summe unter Umständen ebenfalls hohen - Fahrkosten bei
Dialysebehandlungen regelmäßig über einen längeren Zeitraum. Insoweit wird jedoch
durch die Regelung in § 62 Abs 1 SGB V sichergestellt, daß die finanzielle Ge-
samtbelastung des Versicherten durch Fahrkosten sowie Zuzahlungen zu Arznei-,
Verband- und Heilmitteln längerfristig nicht über einen zumutbaren Eigenanteil hinaus an-
wächst. Im Hinblick auf diese Unterschiede und bei Berücksichtigung der
Härtefallregelung ist die Differenzierung zwischen Fahrten zur stationären Behandlung auf
der einen und den auf lange Sicht vergleichbar kostenaufwendigen Fahrten zu einer
ambulanten Langzeitbehandlung auf der anderen Seite verfassungsrechtlich nicht zu be-
anstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

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BSG, 1 RK 23/95 vom 09.12.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: 1 RK 23/95

Kläger und Revisionsbeklagter,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Barmer Ersatzkasse,

Untere Lichtenplatzer Str. 100-102, 42289 Wuppertal,

Beklagte und Revisionsklägerin.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom
9. Dezember 1997 durch die Richter S. - Vorsitzender - , Dr. D.
und Dr. S. sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. B.
und B.

für Recht erkannt:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-
Westfalen vom 27. Juli 1995 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 9. September
1994 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

Der 1987 geborene Kläger leidet an einer Phenylketonurie, einer angeborenen Störung
des Eiweißstoffwechsels, bei der die Aminosäure Phenylalanin vom Körper nicht abge-
baut werden kann. Die Krankheit erfordert eine Diät, deren Grundlage phenylalaninfreie
Eiweißersatzpräparate bilden. Daneben müssen haushaltsübliche Getreideprodukte wie
Mehl, Brot, Backwaren, Teigwaren, Gebäck und Pasteten durch eiweißarme Spezialnah-
rungsmittel aus dem Reformhaus ersetzt werden.

Die beklagte Ersatzkasse, bei welcher der Kläger über seine Mutter krankenversichert ist,
trägt die Kosten für die als Arzneimittel eingestuften Eiweißersatzpräparate. Die Über-
nahme der Kosten für die eiweißarmen Nahrungsmittel lehnte sie dagegen mit Bescheid
vom 28. März 1989 (Widerspruchsbescheid vom 21. August 1989) ab, weil die Kranken-
versicherung für die Beschaffung von Lebensmitteln des täglichen Bedarfs auch dann
nicht aufzukommen habe, wenn aus Krankheitsgründen eine besondere, kostenaufwen-
digere Ernährung vonnöten sei.

Während das Sozialgericht (SG) die dagegen gerichtete Klage abgewiesen hat, hat das
Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, dem Kläger die durch die notwendige
eiweißarme Ernährung entstandenen Mehrkosten im Verhältnis zu den Kosten der Ernäh-
rung eines gesunden gleichaltrigen Versicherten zu erstatten (Urteil vom 27. Juli 1995).

Es hat ausgeführt: Lebensmittel seien zwar im Regelfall auch dann keine Arznei- oder
Heilmittel, wenn ihnen über den allgemeinen Ernährungszweck hinaus eine spezifische
Heilwirkung zukomme, wie dies bei den eiweißarmen Getreideprodukten der Fall sei. Et-
was anderes müsse jedoch ausnahmsweise gelten, wenn der Versicherte auf die beson-
dere Ernährung angewiesen und ihm die Beschaffung der teureren Spezialnahrungsmittel
unter Abwägung mit den Interessen der Solidargemeinschaft wirtschaftlich nicht zumutbar
sei. Letzteres sei hier der Fall gewesen, denn die Mutter des Klägers habe zeitweise von
Sozialhilfe gelebt und die zusätzlichen Mittel für die Krankenkost in Höhe von mindestens
100,-- DM pro Monat nicht aufbringen können.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Der Krankenbe-
handlungsanspruch umfasse nach § 27 Abs 1 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch
(SGB V) die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, nicht aber die Be-
reitstellung von Mitteln des allgemeinen Lebensbedarfs. Für Mehraufwendungen, welche
durch eine besondere krankheitsbedingte Lebensführung entstünden, habe die Kranken-
versicherung grundsätzlich keinen Ersatz zu leisten, es sei denn, daß ausdrücklich etwas
anderes geregelt sei. Hiervon könne nicht je nach den Umständen des Einzelfalles abge-
wichen werden. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Versicherten sei schon vom

- 3 -

Ansatz her kein geeigneter Gradmesser für die Leistungsverpflichtung eines Trägers der
gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Juli 1995 aufzu-
heben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold
vom 9. September 1994 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Mehraufwendungen für besondere
krankheitsverträgliche Nahrungsmittel seien typische Folgekosten der Krankheit und mit-
hin dem Risikobereich der Krankenversicherung zuzurechnen. Dies rechtfertige es, sie
jedenfalls dann der Krankenkasse aufzubürden, wenn der Versicherte mit der Aufbrin-
gung der zusätzlichen Mittel wirtschaftlich überfordert sei.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Wiederherstellung der klageabwei-
senden Entscheidung erster Instanz.

Nach dem Tenor des angefochtenen Urteils hat das Berufungsgericht nur über die Er-
stattung der bei Erlaß des Urteils bereits entstandenen Kosten entschieden. Es hat damit
das Klagebegehren, das auf Übernahme der durch die eiweißarme Ernährung bedingten
Mehraufwendungen ohne zeitliche Begrenzung gerichtet war, nicht ausgeschöpft. Da nur
die Beklagte Revision eingelegt hat, ergeben sich daraus jedoch keine prozessualen Fol-
gerungen. In der Sache selbst kann der Auffassung des LSG nicht gefolgt werden. Der
Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der durch den Verzehr eiweißarmer Spezial-
nahrungsmittel entstandenen krankheitsbedingten Mehrkosten.

Als Rechtsgrundlage des vom LSG angenommenen Erstattungsanspruchs kommt nur
§ 13 Abs 3 (früher Abs 2) SGB V in Betracht. Danach hat die Krankenkasse, wenn sie
eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu
Unrecht abgelehnt hat, dem Versicherten die für die Beschaffung der Leistung aufgewen-
deten Kosten zu erstatten. Da der Kostenerstattungsanspruch an die Stelle eines an sich
gegebenen Sachleistungsanspruchs tritt, kann er nur bestehen, soweit die selbstbe-
schaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, welche die gesetzlichen Kran-
kenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben. Das ist bei den im Streit
befindlichen Diätnahrungsmitteln nicht der Fall.

- 4 -

Die von der Krankenkasse zu gewährende Krankenbehandlung umfaßt neben der ärztli-
chen Behandlung ua nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V die Versorgung mit Arznei-,
Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Diätnahrungsmittel sind keine Heilmittel iS der genannten
Vorschrift, weil sie zum Verzehr und nicht zur äußeren Einwirkung auf den Körper be-
stimmt sind (zum Begriff des Heilmittels vgl BSGE 28, 158, 159 f = SozR Nr 30 zu § 182
RVO Bl Aa 28; BSGE 46, 179, 182 = SozR 2200 § 182 Nr 32 S 62; BSG SozR 3-2200
§ 182 Nr 11 S 47 f). Als Arzneimittel dürfen sie nach den Arzneimittelrichtlinien des Bun-
desausschusses der Ärzte und Krankenkassen (AMRL) von den an der vertragsärztlichen
Versorgung teilnehmenden Ärzten nicht verordnet werden (vgl Nr 17.1 Buchst i AMRL
vom 31. August 1993 - BAnz 1993 Nr 246; ebenso früher: Nr 21 Buchst i AMRL vom
19. Juni 1978 - Beilage zum BAnz 1978 Nr 235). Sie sind damit von der Anwendung zu
Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Die auf der Grundlage
des § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V erlassenen AMRL regeln als untergesetzliche Rechts-
normen den Umfang und die Modalitäten der Arzneimittelversorgung mit verbindlicher
Wirkung sowohl für die Vertragsärzte und die Krankenkassen als auch für die Versicher-
ten (allgemein zur Rechtsqualität und Tragweite der Richtlinien der Bundesausschüsse
der (Zahn)Ärzte und Krankenkassen: Senatsurteil vom 16. September 1997 - 1 RK 32/95,
zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Das Verordnungsverbot für Diätle-
bensmittel und Krankenkost hält sich im Rahmen der dem Bundesausschuß der Ärzte
und Krankenkassen erteilten Rechtsetzungsermächtigung. Zwar bezieht sich diese Er-
mächtigung nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur auf den Erlaß
von Vorschriften zur Sicherung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen
Arzneimittelversorgung und gibt dem Bundesausschuß nicht die Befugnis, selbst Inhalt
und Grenzen des Arzneimittelbegriffs festzulegen (BSGE 66, 163, 164 = SozR 3-2200
§ 182 Nr 1 S 2; BSGE 67, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 4; BSGE 72, 252, 255
= SozR 3-2200 § 182 Nr 17 S 81 f). Der Regelung in Nr 17.1 Buchst i AMRL liegt indes-
sen kein vom Gesetz abweichender Arzneimittelbegriff zugrunde. Sie zieht mit dem Aus-
schluß von Diätnahrungsmitteln aus der vertragsärztlichen Versorgung lediglich die recht-
liche Konsequenz daraus, daß derartige Produkte keine Arzneimittel im krankenversiche-
rungsrechtlichen Sinne sind.

Der Begriff des Arzneimittels wird im SGB V selbst nicht erläutert. Nach der Definition des
Arzneimittelgesetzes (AMG), die im wesentlichen mit dem allgemeinen Sprachgebrauch
übereinstimmt, sind darunter Substanzen zu verstehen, deren bestimmungsgemäße Wir-
kung darin liegt, Krankheitszustände zu erkennen, zu heilen, zu bessern, zu lindern oder
zu verhüten (vgl § 2 Abs 1 AMG idF der Bekanntmachung vom 19. Oktober 1994 - BGBl I
3018). Die in Rede stehenden eiweißarmen Getreideprodukte dienen demgegenüber in
erster Linie der Ernährung. Sie treten an die Stelle haushaltsüblicher Back- und Teigwa-
ren, deren Verzehr dem Kläger wegen ihrer krankheitsverschlimmernden Wirkung versagt
ist. Ihre durch den vorrangigen Verwendungszweck begründete Eigenschaft als Nah-

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rungs- bzw Lebensmittel (vgl § 1 Abs 1 Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz idF
der Bekanntmachung vom 9. September 1997 - BGBl I 2390) verlieren sie nicht dadurch,
daß sie speziell zu dem Zweck hergestellt werden, eine auf die Krankheit abgestimmte
Ernährungsweise zu ermöglichen. Als Lebensmittel sind sie, wie § 2 Abs 3 Nr 1 AMG
ausdrücklich klarstellt, keine Arzneimittel. Sie gehören damit auch nicht zur Arzneimittel-
versorgung als Teil der Krankenbehandlung. Dabei kann offenbleiben, ob der Arzneimit-
telbegriff des SGB V in jeder Hinsicht mit demjenigen des AMG übereinstimmt
(verneinend: BSGE 67, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 4; BSG SozR 3-2200 § 182
Nr 11 S 46; bejahend: Schlenker, DOK 1987, 236 ff; ders, SGb 1988, 473 ff). Darauf
kommt es nicht an, weil jedenfalls in dem hier interessierenden Punkt der Unterscheidung
und Abgrenzung zwischen Arzneimitteln auf der einen und Nahrungsmitteln auf der ande-
ren Seite keine Abweichung besteht.

Eine Ausweitung des Arzneimittelbegriffs durch Einbeziehung von Diät- oder Krankenkost
widerspräche der begrenzten Aufgabenstellung der gesetzlichen Krankenversicherung.

Diese verfolgt nicht das Ziel, den Versicherten vor krankheitsbedingten Nachteilen umfas-
send zu schützen. Bei der Vielzahl von Auswirkungen, die eine Krankheit auf die Le-
bensführung des Betroffenen haben kann, wäre das Krankenversicherungsrisiko nicht
sachgerecht begrenzbar, wenn es sich auf alle durch die Krankheit veranlaßten Aufwen-
dungen erstrecken würde. Die Leistungspflicht der Krankenkassen ist deshalb, soweit das
Gesetz nichts anderes vorschreibt, auf Maßnahmen beschränkt, die gezielt der Krank-
heitsbekämpfung dienen. Mehrkosten und andere Nachteile und Lasten, die der Versi-
cherte im täglichen Leben wegen der Krankheit hat, sind der allgemeinen Lebenshaltung
zuzurechnen und nicht von der Krankenkasse zu tragen (vgl BSGE 42, 16, 18 f = SozR
2200 § 182 Nr 14 S 30 f; BSGE 42, 229, 231 = SozR 2200 § 182b Nr 2 S 3; BSGE 53,
273, 275 = SozR 2200 § 182 Nr 82 S 161 f). Das gilt grundsätzlich auch für Mehraufwen-
dungen, die durch eine besondere, krankheitsangepaßte Ernährungsweise entstehen
(BSG SozR 2200 § 182 Nr 88 S 183; BSGE 63, 99, 100 = SozR 2200 § 182 Nr 109 S 234;
vgl zur identischen Risikoabgrenzung im Beihilferecht des öffentlichen Dienstes: OVG
Rheinland-Pfalz, Der öffentliche Dienst 1995, 291; VGH Baden-Württemberg, Zeitschrift
für Beamtenrecht 1985, 255; im sozialen Entschädigungsrecht: BSGE 64, 1 = SozR 3100
§ 11 Nr 17; im Sozialhilferecht: BverwG Buchholz 427.3 § 276 LAG Nr 15).

Dementsprechend hat der 3. Senat des BSG schon zum früheren Recht der Reichsversi-
cherungsordnung (RVO) entschieden, daß Lebensmittel, auch soweit ihnen über ihren
generellen Ernährungszweck hinaus eine spezifische krankheitsheilende, krankheitslin-
dernde oder verschlimmerungshemmende Wirkung zukommt, keine Arzneimittel im Sinne
des Leistungsrechts der Krankenversicherung sind (Urteil des 3. Senats vom 18. Mai
1978 - BSGE 46, 179, 182 = SozR 2200 § 182 Nr 32 S 82).

Dieser Rechtsstandpunkt ist entgegen der Ansicht des LSG nicht dadurch relativiert wor-
den, daß derselbe Senat in späteren Entscheidungen zu § 182 Abs 1 RVO die Auffassung

- 6 -

vertreten hat, eine Krankenkost könne von der Krankenkasse ausnahmsweise gewährt
werden, wenn zu der Heilwirkung der Kost für den einzelnen Versicherten noch beson-
ders gravierende Umstände, insbesondere eine unzumutbar hohe finanzielle Belastung
durch die im Vergleich zu üblichen Lebensmitteln teureren Diätpräparate, hinzuträten
(Urteile vom 23. März 1983 - SozR 2200 § 182 Nr 88 S 183 und vom 23. März 1988 -
BSGE 63, 99, 100 = SozR 2200 § 182 Nr 109 S 234; ähnlich für andere Gegenstände des
allgemeinen Lebensbedarfs: BSGE 65, 154, 157 = SozR 2200 § 368e Nr 13 S 35; BSGE
67, 36, 37 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 3). Damit ist nicht zum Ausdruck gebracht worden,
daß beim Vorliegen derartiger Umstände die Krankenkost zum Arzneimittel wird. Die Re-
vision weist mit Recht darauf hin, daß die Arzneimitteleigenschaft einer Substanz durch
den Verwendungszweck bestimmt wird und nichts mit der wirtschaftlichen Leistungsfähig-
keit des Versicherten zu tun hat. Andernfalls könnte ein und dasselbe Produkt je nach der
Situation des Erkrankten einmal Arzneimittel sein und ein anderes Mal nicht. Die ange-
führten Entscheidungen haben nicht den Arzneimittelbegriff modifiziert, sondern vielmehr
das Spektrum der im Gesetz vorgesehenen Leistungen erweitert. Das war nach früherem
Recht nicht ausgeschlossen; denn § 182 Abs 1 Nr 1 RVO enthielt, wie das Wort
"insbesondere" im Einleitungssatz der Vorschrift verdeutlicht, keine abschließende Auf-
zählung der als Krankenpflege zu gewährenden Leistungen und ließ damit Raum für eine
Ausweitung des Leistungskatalogs. Insofern konnte die Gewährung der Krankenkost in
den genannten Ausnahmefällen als eine besondere Leistung der Krankenpflege neben
den in § 182 Abs 1 Nr 1 RVO ausdrücklich genannten Leistungsarten angesehen werden.

Diese Möglichkeit ist mit dem Inkrafttreten des SGB V am 1. Januar 1989 entfallen. Der
jetzige § 27 Abs 1 Satz 2 SGB V regelt den Umfang der Krankenbehandlung bewußt ab-
schließend (Begründung zum Entwurf des Gesundheitsreformgesetzes, BT-Drucks
11/2237 S 170). Die Krankenkassen sind damit grundsätzlich auf die in der Vorschrift ge-
nannten Leistungen beschränkt; außerhalb etwaiger Modellvorhaben nach § 63 Abs 2
SGB V können neue Leistungsarten nur vom Gesetzgeber eingeführt werden (Höfler in
Kasseler Kommentar, § 27 SGB V RdNr 58; von Maydell in Gemeinschaftskommentar
zum SGB V § 27 RdNr 77). Die bisherige Rechtsprechung, auf die das LSG seine Ent-
scheidung gestützt hat, kann deshalb für das geltende Recht nicht aufrechterhalten wer-
den.

Mit der Aussage, daß Lebensmittel, auch wenn es sich um Diät- oder Krankenkost han-
delt, keine Leistungen der Krankenversicherung sind, weicht der Senat von der Rechts-
auffassung ab, die dem Urteil des für die knappschaftliche Krankenversicherung zustän-
digen 8. Senats des BSG vom 27. September 1994 - 8 RKn 9/92 (USK 94110) zugrunde
liegt. Der 8. Senat hat dort auch für das neue Recht daran festgehalten, daß ein Lebens-
mittel (im konkreten Fall ein handelsübliches Heilwasser) ausnahmsweise zum Arznei-
mittel werden könne, wenn zu der Heilwirkung besonders gravierende Umstände, etwa
eine unzumutbare finanzielle Belastung des Versicherten, hinzukämen. Einer Anfrage
gemäß § 41 Abs 3 SGG wegen der insoweit bestehenden Divergenz bedarf es gleichwohl

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nicht, weil vorliegend ein Anspruch des Klägers auch bei Zugrundelegung der Rechtsauf-
fassung des 8. Senats zu verneinen wäre. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil
vom 10. Mai 1995 (SozR 3-2500 § 33 Nr 15) entschieden, daß krankheitsbedingte Mehr-
kosten beim Kauf von Gegenständen des allgemeinen Lebensbedarfs nur dann als
"besonders gravierender Umstand" gewertet werden können, wenn bei den betreffenden
Gütern der Teil der Herstellungskosten überwiegt, der allein auf die therapeutische Wir-
kung des Mittels zurückzuführen ist. Nur dann trete die Bedeutung als Gebrauchsgegen-
stand für den Versicherten in den Hintergrund, so daß eine Beteiligung der Krankenkasse
an den Aufwendungen zu rechtfertigen sei. Ausgehend hiervon würde eine Leistungs-
pflicht der Beklagten auch auf dem Boden der früheren Rechtsprechung ausscheiden,
weil die vom Kläger benötigten Back- und Teigwaren, wie sich aus den von ihm vorge-
legten und bei den Akten befindlichen Preislisten ersehen läßt, durchweg weniger als
doppelt so teuer sind wie gleichartige haushaltsübliche Produkte.

Nach alledem konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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