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Sonntag, 10. Mai 2015
SG R, S 2 KR 379/08 vom 18.02.2010, Sozialgericht Regensburg
S 2 KR 379/08

SOZIALGERICHT REGENSBURG

Gerichtsbescheid:

in dem Rechtsstreit

...
- Kläger -

gegen

- Beklagte -


Die 2. Kammer, des Sozialgerichts Regensburg erlässt durch ihre Vorsitzende,
Richterin am Sozialgericht ..., 18. Februar 2010 ohne mündliche Verhandlung folgenden

Gerichtsbescheid:

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitgegenstand das Rechtsstreites ist, ob der Kläger von der Beklagten eine
pauschale vorherige Genehmigung für Fahrten zur ambulanten Behandlung ver-
langen kann und die Beklagte ferner verpflichtet ist, im Nachhinein auch die vorh-
erige Genehmigung für alle in der Vergangenheit ab dem 26.04.2007 durchgeführten entsprechenden Fahrten zu erteilen.

Mit Schreiben vom 13.07.2008, 21.07.2008, 22.07.2008 und 21.08.2008 beantrag-
te der Kläger bei der Beklagten die vorherige Genehmigung für Fahrten zur ambu-
lanten Behandlung – unter anderem unter Auflistung einzelner bereits durchgeführ-
ter Fahrten und diesbezüglich entstandener Kosten. Darüber hinaus beantragte er,
Vorschusszahlung und vorläufige Leistung nach §§ 42 und 43 SGB I.
Mit Bescheid vom 13.08.2008 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass eine pau-
schale Genehmigung nicht möglich sei, sondern im Einzelfall jeweils die
Voraussetzungen zur vorherigen Genehmigung zu prüfen seien, weswegen weitere In-
formationen benötigt würden. Bezüglich der Fahrtkosten zur ambulanten Behand-
lung bei Herrn Dr. ... am 21.07.2008 könnten Fahrtkosten nicht erstattet wer-
den, da die diesbezüglichen Voraussetzungen (inhaltlich unter Bezugnahme auf
die Krankentransportrichtlinien) nicht vorliegen würden.

Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 17.08.2008 und 20.08.2008 Wider-
spruch ein, wobei er zugleich weitere ambulante Behandlungen mitteilte und um
entsprechende Fahrtkostenerstattung und eine vorherige Genehmigung er-
suchte. Zugleich verweigerte er unter Hinweis auf den Datenschutz die von der
Beklagten zuvor begehrten weiteren Auskünfte zur Prüfung der Genehmigungser-
teilung zur ambulanten Behandlung im Einzelfall.
Per Schriftsatz vom 20.08.2008 beantragte der Kläger für weitere in der Zukunft
beabsichtigte Arztbesuche die vorherige Genehmigung und die Erstattung der
entsprechenden anfallenden Fahrtkosten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19.11.2008 wies die Beklagte den Widerspruch
des Klägers zurück, wobei sie ausführte, dass für eine entsprechende Genehmi-
gungserteilung und eine Übernahme der Fahrtkosten die notwendigen Vorausset-
zungen nach § 60 SGB V i.V.m. § 8 der Krankentransportrichtlinien für andere als
die Fahrten zur D. nicht erfüllt seien.

Dagegen hat der Kläger mit Schriftsatz vom 16.12.2008, beim Sozialgericht Re-
gensburg am 18.12.2008 eingegangen, Klage erhoben und beantragt, die Beklag-
zu verurteilen, vorherige Genehmigungen betreffend die Fahrten des Klägers zu
ambulanten Behandlungen und die diesbezüglich anfallenden Fahrtkosten zu er-
teilen. Zugleich stellte er einen Antrag auf die Gewährung von Prozesskostenhilfe
Mit Schriftsatz vom 23.02.2009 hat der Kläger darüber hinaus beantragt, die Be-
klagte zu verurteilen, vorherige Genehmigungen auch für die Vergangenheit, das
heißt für alle Fahrten ab dem 26.04.2007, zu erteilen. Hilfsweise seien ihm die
bisher angefallenen Fahrtkosten nach § 13 Abs. 3 SGB V zu erstatten.

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wurde durch Beschluss des Sozialgerichts Re-
gensburg vom 09.09.2009 abgelehnt und die dagegen eingelegte Beschwerde
vom Bayerischen Landessozialgericht mit Beschluss vom 09.11.2009 zurückge-
wiesen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 13.08.2008 in der Ges-
talt des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2008 zu verurteilen, vorherige
Genehmigungen für Fahrkosten des Klägers zu ambulanten Behandlungen
zu erteilen, ferner vorherige Genehmigungen auch für die Vergangenheit,
das heißt für alle Fahrten ab dem 26.04.2007, zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit Schreiben vom 25,11,2009 hat das Gericht die Beteiligten zu der Absicht an-
gehört, den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu
entscheiden und die Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 11.12.2009 eingeräumt.

Das Gericht hat die Beklagtenakte, sowie die Schwerbehindertenakte des Klägers
vom Zentrum Bayern Familie und Soziales, ferner die Akten des Sozialgerichts
Regensburg S 2 KR 264/08, S 2 KR 175/09, S 2 KR 296/08 und S 2 KR 284/08 zum
Verfahren beigezogen, auf deren Inhalt im Übrigen ergänzend Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschei-
den, da die Streitsache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder
rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten vorher hier-
zu gehört wurden (vgl..§ 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Aus dem Schriftsatz des Klägers vom 07.12.2009 lässt sich nichts Gegenteiliges
herleiten, da die Sach- und Rechtslage insoweit geklärt und eindeutig ist.

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom
13.08.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2008 ist
rechtmäßig, da die Beklagte es zu Recht abgelehnt hat, dem Kläger pauschal eine
vorherige Genehmigung für Fahrkosten zu ambulanten Behandlungen zu erteilen.

Gemäß § 60 Abs. 1 SGB V übernimmt die Krankenkasse nach den Abs. 2 und 3
die Kosten für Fahrten einschließlich der Transporte nach § 133 (Fahrtkosten),
wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingen-
den medizinischen Gründen notwendig sind. Welches Fahrzeug dabei benutzt
werden kann, richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit im Einzelfall.
Nach $ 60 Abs. 1 S. 3 SGB V übernimmt die Krankenkasse Fahrkosten zu einer
ambulanten Behandlung unter Abzug des sich nach § 61 S. 1 ergebenden Betrag-
ges nur nach vorheriger Genehmigung in besonderen Ausnahmefällen, die der
Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 12
festgelegt hat.
Von dieser Ermächtigung hat der Gemeinsame Bundesausschuss Gebrauch ge-
macht und die Krankentransportrichtlinien in der Fassung vom 22.01.2004 erlas-
sen.
Gemäß § 8 der Krankentransportrichtlinien können in besonderen Ausnahmefällen
auch Fahrten zur ambulanten Behandlung außer den in § 7 Abs. 2 Buchstabe b
und c geregelten Fällen bei zwingender medizinischer Notwendigkeit von der
Krankenkasse übernommen und vom Vertragsarzt verordnet werden, wobei sie
der vorherigen Genehmigung durch die Krankenkasse bedürfen.
Voraussetzung ist demnach unter anderem eine Verordnung des Vertragsarztes
gemäß § 2 der Krankentransportrichtlinien. Danach hat der Vertragsarzt die Not-
wendigkeit der Beförderung nach § 3 der Krankentransportrichtlinien zu prüfen
und das erforderliche Transportmittel nach Maßgabe der §§ 4 bis 7 auszuwählen,
wobei die Verordnung auf dem vereinbarten Vordruck entsprechend der Anlage 1
der Krankentransportrichtlinien auszustellen ist. Nicht erforderlich ist jedoch eine
vertragsärztliche Verordnung bei Fahrten mit einem privaten Kraftfahreug oder
mit einem öffentlichen Verkehrsmittel. (vergleiche § 2 Abs. 3 Krankentransport-
richtlinien).
Vorliegend mangelt es schon an einer entsprechenden vertragsärztlichen Verord-
nung, auf die es allerdings nicht ankommt, sofern der Kläger Fahrten mit dem pri-
vaten Kraftfahrzeug und die entsprechende Kostenübernahme begehrt.
Aber auch ohne vertragsärztliche Verordnung ist die Klage zur Überzeugung der
Kammer abzuweisen, da die sonstigen Voraussetzungen des § 8 der Kranken-
transportrichtlinien vorliegend nicht gegeben sind.
Nach dem Wortlaut und der Systematik des § 8 der Krankentransportrichtlinien
können Fahrten zur ambulanten Behandlung außer den ausdrücklich genannten
Fällen lediglich in “besonderen Ausnahmefällen“ und bei “zwingender medizini-
scher Notwendigkeit“ von der Krankenkasse übernommen werden.
Unter § 8 Abs. 2 und S. 3 der Krankentransportrichtlinien sind die einzelnen Vor-
aussetzungen für eine Genehmigung beziehungsweise eine mögliche Genehmi-
gung seitens der Krankenkasse im Einzelnen aufgeführt. Ein Fall nach § 8 Abs. 2
der Krankentransportrichtlinien liegt hier nach Überzeugung der Kammer nicht vor,
da der Kläger außerhalb der D. nicht mit einem vorgegebenem
Therapieschema behandelt wird, das eine hohe Behandlungsfrequenz über einen
längeren Zeitraum aufweist. Ein solches wurde weder vorgetragen noch lässt es
sich aus den sonstigen übersandten Unterlagen entnehmen. Insbesondere leidet
der Kläger ausweislich der beigezogenen Schwerbehindertenakte – abgesehen
von der N. – nicht unter entsprechenden
Gesundheitsstörungen, die ein entsprechendes Therapieschema mit einer hohen
Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum rechtfertigen.
Zwar liegen bei dem Kläger außerhalb der N. eine Viel-
zahl von Erkrankungen vor, die jeweils für sich aber nicht mit einem vorgegebenen
Therapieschema behandelt werden, und daher für sich nicht die hohe Behand-
lungsfrequenz über einen längeren Zeitraum aufweisen.
Daneben kommt nach Überzeugung der Kammer auch keine Genehmigung der
Fahrten zur ambulanten Behandlung nach § 8 Abs. 3 der Krankentransportrichtli-
nien in Betracht.
Das Merkzeichen “aG“ ist ausweislich des Bescheids des Zentrums Bayern Fami-
lie und Soziales vom 08.03.2009 nicht vergeben.
Aber auch eine Genehmigung der begehrten Fahrten nach § 8 Abs. 3 S. 2 SGB V
scheidet nach Überzeugung der Kammer aus, da dies neben der vergleichbaren
Beeinträchtigung der Mobilität entsprechend dem Merkzeichen aG, BL, H oder der
Pflegestufe II, einer ambulanten Behandlung über einen längeren Zeitraum und
einer zwingenden medizinischen Notwendigkeit bedarf und es sich dabei um einen
besonderen Ausnahmefall handeln muss (vergleiche § 8 Abs. 1 der Krankentrans-
portrichtlinien, der nach seiner Systematik auch zur Beurteilung des § 8 Abs. 3 der
Krankentransportrichtlinien heranzuziehen ist).
In Anbetracht des Willens des Richtliniengebers (für die Krankentransportrichtli-
nien) und des Gesetzgebers (§ 60 Abs.1 S. 3 SGB V), der Systematik und des
eindeutigen Wortlauts kommt eine Übernahme von Krankenfahrten zur ambulan-
ten Behandlung gemäß § 8 der Krankentransportrichtlinien nur in besonderen
Ausnahmefällen in Betracht (siehe § 60 Abs. 1 S. 3 SGB V).
In Anbetracht der in Anlage 2 der Krankentransportrichtlinien (beispielhaft) ge-
nannten Ausnahmefälle (Dialysebehandlung, onkologische Strahlentherapie, on-
kologische Chemotherapie) sollen Fahrkosten zur ambulanten Behandlung nur im
Falle schwerwiegender und die Mobilität erheblich beeinträchtigender Erkrankun-
gen und Behandlungen gewährt werden.
Mit der Wortwahl „besonderer Ausnahmefall“ haben sowohl Gesetzgeber als auch
Richtliniengeber zum Ausdruck gebracht, dass es sich nicht nur um einen Aus-
nahmefall, sondern zudem noch um einen besonderen Ausnahmefall handeln
muss, um Krankenfahrten zur ambulanten Behandlung übernehmen zu können.
Um einen solchen handelt es sich nach Überzeugung der Kammer bei dem Kläger
im Rahmen der beantragten vorliegenden Kostenübernahme nicht.
Darüber hinaus ist der Beklagte zuzustimmen, wenn sie ausführt, dass eine pau-
schale Vorabgenehmigung nicht möglich ist, da in jedem Einzelfall die Vorausset-
zungen des § 8 der Krankentransportrichtlinien geprüft werden müssen.
Soweit der Kläger mit Schriftsatz vom 07.12.2009 vorträgt, dass er bereits seine
Bereitschaft signalisiert hätte, für die Prüfung der Voraussetzungen vor jeder Ein-
zelfahrt zur Verfügung zu stehen, stellt sich schon die Frage, ob der Kläger damit
die vorliegende Klage auf pauschale Vorabgenehmigung zurücknehmen wollte;
im Interesse des Klägers ist davon allerdings nicht auszugehen. Soweit er weiter
ausführt, dass für ihn nicht ersichtlich sei, warum in seinem Fall zwingend eine Ein-
zelgenehmigung erteilt werden müsse, ist dem entgegenzuhalten, dass dies nicht
nur in seinem Fall so gehandhabt wird, sondern nach dem Willen des Gesetzge-
bers und Richtliniengebers in allen Fällen zu fordern ist. Diese Notwendigkeit er-
gibt sich aus den soeben dargelegten einzuhaltenden und notwendig zu fordern-
den Kriterien im Rahmen des § 8 der Krankentransportrichtlinien. Eine pauschale
Vorabgenehmigung für alle Fahrten zu ambulanten Behandlungen kann daher aus
den genannten Gründen gerade nicht erteilt werden, vielmehr sind in jedem Ein-
zelfall die zu fordernden Voraussetzungen zu prüfen.

Soweit der Kläger einen entsprechenden Anspruch auf Übernahme der Fahrkos-
ten aus § 13 Abs. 3 SGB V herleitet, ergibt sich nichts anderes, da diese Norm le-
diglich als Surrogat für den nicht mehr oder nicht zu erfüllenden Sachleistungsa-
nspruch geschaffen wurde; ein entsprechender Anspruch auf Sachleistung steht
dem Kläger nach dem oben Gesagten gerade nicht zu.

Soweit der Kläger einen entsprechenden Anspruch aus § 43 Abs. 1 S. 2
SGB I stützt, ist ein entsprechender Anspruch auf “Sozialleistungen“ weder gegen
die Beklagte noch gegen einen sonstigen Leistungsträger gegeben. Was in dem
Zusammenhang unter Sozialleistungen zu verstehen ist, lässt sich aus § 11, §§ 18
ff SGB I entnehmen. Für die im Rahmen der Inanspruchnahme ärztlicher Behand-
lung anfallenden Fahrtkosten ist die Krankenkasse der zuständige Leistungsträ-
ger. Ein entsprechender Anspruch lässt sich einzig auf § 60 SGB V stützen. Die
diesbezüglichen Voraussetzungen liegen nach dem oben Gesagten nicht vor.

Die Klage ist daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in
der Sache.

Rechtsmittelbelehrung

Dieser Gerichtsbescheid kann mit der Berufung angefochten werden.

...
Richterin am Sozialgericht

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L 5 KR 131/10


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LSG RPF, L 5 KR 43/07 vom 06.09.2007, Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Verkündet am: 06.09.2007



L 5 KR 43/07

S 6 KR 140/05



L

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin

der Geschäftsstelle



IM NAMEN DES VOLKES



URTEIL



In dem Rechtsstreit



- Klägerin und Berufungsklägerin -



Prozessbevollmächtigter:



gegen



AOK - Die Gesundheitskasse in Rheinland-Pfalz, vertreten durch den Vorstand,

Virchowstraße 30, 67304 Eisenberg



- Beklagte und Berufungsbeklagte —



hat der 5. Senat des Landessozialgerichts Rheinland—Pfalz in Mainz aufgrund der

mündlichen Verhandlung vom 06.09.2007 durch



Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Dr. F.

Richterin am Landessozialgericht Dr. J.

Richter am Landessozialgericht W.

ehrenamtliche Richterin O.

ehrenamtlichen Richter I.

für Recht erkannt:



- 2 -



1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom

28.11.2006 wird zurückgewiesen.



2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu

erstatten.



3. Die Revision wird zugelassen.



Tatbestand



Streitig ist die Erstattung von Fahrkosten für Fahrten zu einer ambulanten einmal

wöchentlich durchzuführenden LDL-ApheresebehandIung sowie die Übernahme

von Fahrkosten als Sachleistung.



Die 1948 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Unter

Vorlage eines Attests der Gemeinschaftspraxis Dres. H /A , I , vom

29.01.2004 beantragte sie bei der Beklagten die Kostenübernahme für die Fahrten

zu einer wöchentlichen LDL-Apheresetherapie. ln dem Attest wurde ausgeführt,

die Klägerin leide an einer schwersten familiären Fettstoffwechselerkrankung mit

der Folge einer koronaren Herzerkrankung. Ihr Gesundheitszustand sei derzeitig

ausschließlich durch eine wöchentliche LDL-Apheresetherapie zu stabilisieren, die

ebenso wie eine Dialysebehandlung im Kern eine Blutwäsche beinhalte. Die

Klägerin werde dabei an beiden Oberarmen punktiert und müsse während der

Behandlungszeiten ca. 1,5 Stunden unbeweglich sitzen. Während der Behandlung

werde die Blutgerinnung stark verändert, so dass sie für mehrere Stunden nach

der Behandlung vermehrt blutungsgefährdet sei. Aus diesem. Grund empfehle es

sich, dass die Klägerin von einer Begleitperson zur Behandlung gebracht und

wieder nach Hause zurückgefahren werde. Von der Beeinträchtigung des

Organismus her sei die gesamte Behandlung durchaus mit einer Dialysetherapie

zu vergleichen. Mit Schreiben vom 17.02.2004 teilte die Beklagte der Klägerin mit,



- 3 -



die Kosten für die Fahrten mit einem Pkw würden übernommen. Für Januar und

Februar 2004 erfolgte sodann eine Kostenerstattung.



Mit Schreiben vom 18.03.2004 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme für die

Zukunft mit der Begründung ab, nach der Gesundheitsreform könnten Fahrkosten

zur ambulanten Behandlung nur in ganz wenigen Ausnahmefällen übernommen

werden. Erforderlich sei, dass eine Gefährdung für das Leben bestehe und die

Behandlung mindestens zweimal in der Woche erforderlich sei. Die Klägerin legte

ein Attest der Gemeinschaftspraxis Dres. H /A vom 03.05.2004 vor, die

angab, durch die wöchentliche Therapie habe der Prozess der koronaren

Herzerkrankung der Klägerin weitgehend verhindert werden können. Es werde um

Überprüfung gebeten, ob die Klägerin bezüglich ihrer Fahrkosten unterstützt

werden könne. Mit Bescheid vom 10.12.2004 und Widerspruchsbescheid vom

09.05.2005 lehnte die Beklagte die Erstattung bzw. Übernahme der beantragten

Fahrkosten mit Hinweis auf die Krankentransport-Richtlinlen (KT-Rl) des

Gemeinsamen Bundesausschusses ab.



Die hiergegen am 09.06.2005 erhobene Klage hat das Sozialgericht Mainz durch

Urteil vom 28.11.2006 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt nach § 8

S. Abs. 1 Satz 2 KT-Rl sei Voraussetzung für die beantragte Kostenerstattung, dass

die Therapie eine hohe Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum

aufweise und dass die Behandlung oder der zu dieser Behandlung führende

Krankheitsverlauf den Patienten in einer Weise beeinträchtige, dass eine

Beförderung zur Vermeidung von Schaden an Leib und Leben unerlässlich sei.

Vorliegend könne dahingestellt bleiben, ob eine hohe Behandlungsfrequenz in

diesem Sinne gegeben sei, denn es fehle schon an der zwingenden

medizinischen Notwendigkeit des Krankentransports. Die Gemeinschaftspraxis

Dres. H /A habe lediglich ausgeführt, es empfehle sich, dass die Klägerin

von einer Begleitperson zur Behandlung und wieder nach Hause gebracht werde.



- 4 -



Gegen das ihr am 08.02.2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 08.03.2007

Berufung eingelegt. Sie hat eine Stellungnahme des Dr. H vom 15.03.2007

vorgelegt, in der ausgeführt wird, zusätzlich zu den vorhandenen chronischen

Erkrankungen habe sich ein Diabetes mellitus entwickelt, der die Multimorbidität

der Klägerin noch vermehre. Sie werde derzeit alle fünf Tage behandelt. Die

Einrichtung sei für die Behandlung in besonderer Weise geeignet, da es sich um

ein Dialysezentrum mit erheblicher Erfahrung mit extrakorporalen

Blutreinigungsverfahren handele und zugleich die Infrastruktur einer diabetischen

Schwerpunktpraxis vorhanden sei. Im Sinne der Sicherheit der Klägerin vor dem

Hintergrund ihrer Mehrfacherkrankungen sei es "mehr als sinnvoll", dass sie von

ihrem Ehemann zu den Behandlungen gebracht und wieder zurücktransportiert

werde. Die Klägerin sei im Anschluss an die Behandlung sicherlich nicht in der

Lage, einen Pkw zu steuern. Es dauere ca. 4 Stunden bis sich der Stoffwechsel

wieder normalisiere. In einer weiteren Bescheinigung vom 26.06.2007 hat Dr.

H mitgeteilt, die Klägerin werde im Durchschnitt einmal pro Woche

behandelt. Es bestehe die Möglichkeit, sie nach der Behandlung in einem

Wartebereich unterzubringen. Nach der ca. 2-stündigen Behandlungszeit stelle

sich lediglich noch die Frage der Zumutbarkeit einer anschließenden 4-stündigen

Aufenthaltszeit. Der Bescheinigung ist eine Aufstellung über die Behandlungstage

in der Zeit vom 07.01.2004 bis zum 12.06.2007 beigefügt. Die Klägerin hat

mitgeteilt, die Entfernung von ihrem Wohnort zur Praxis Dres. H /A

betrage 60,2 km.



Die Klägerin beantragt,



das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 28.11.2006 sowie die Bescheide

der Beklagten vom 18.03.2004 und 10.12.2004 in der Gestalt des

Widerspruchsbescheids vom 09.05.2005 aufzuheben und die Beklagte zu

verurteilen, die Kosten für die wöchentliche Beförderung in einem Pkw zu

den LDL-Apheresetherapien in der Gemeinschaftspraxis Dres. H /



- 5 -



A in Höhe von jeweils 24,08 € zu erstatten und festzustellen, dass die

Beklagte verpflichtet ist, diese Kosten auch künftig zu übernehmen.



Die Beklagte beantragt,



die Berufung zurückzuweisen.



Sie macht geltend, es liege keine hohe Behandlungsfrequenz im Sinne der KT-Rl

vor. Die Richtlinien gingen davon aus, dass eine hohe Behandlungsfrequenz bei

Dialysebehandlungen, onkologischen Strahlentherapien und onkologischen

Chemotherapien gegeben sei. Ein vergleichbarer Fall sei vorliegend nicht

gegeben. Wenn das Komplikationsrisiko, wie Dr. H nunmehr attestiert habe,

auf 4 Stunden nach der Behandlung beschränkt sei, sei es der Versicherten

außerdem zumutbar, diese Zeit in den Räumen der Praxis zu verbringen und

anschließend selbst oder unter Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel wieder nach

Hause zu fahren.



Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die

Prozessakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der

mündlichen Verhandlung und der Beratung waren, Bezug genommen.



Entscheidungsgründe



Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf

Erstattung der Kosten für Pkw-Fahrten mit Begleitperson zu den ambulanten

Behandlungsterminen in der Gemeinschaftspraxis Dres. H /A in l .

- 6 -

Als Anspruchsgrundlage für das Kostenerstattungsbegehren kommt allein § 13
Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Betracht. Nach § 2 Abs. 2 S. 1
SGB V erhalten die Versicherten die Leistungen als Sach- oder Dienstleistungen.

Das gilt auch für Fahrkosten nach § 60 SGB V. Die Krankenkasse darf anstelle
der Sach- oder Dienstleistung Kosten nur erstatten, soweit es das SGB V oder das
Neunte Buch Sozialgesetzbuch vorsieht (§ 13 Abs. 1 SGB V). Ein
Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als der entsprechende
Sachleistungsanspruch. Vorliegend ist indessen ein Sachleistungsanspruch nicht
gegeben. Nach § 60 Abs. 1 S. 1 SGB V übernimmt die Krankenkasse nach den
Abs. 2 und 3 die Kosten für Fahrten einschließlich der Transporte nach § 133 SGB
V (Fahrkosten), wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse
aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind. Welches Fahrzeug
benutzt werden kann, richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit im
Einzelfall (§ 60 Abs. 1 S. 2 SGB V). Die Krankenkasse übernimmt Fahrkosten zu
einer ambulanten Behandlung unter Abzug des sich nach § 61 S. 1 SGB V
ergebenden Betrags nur noch nach vorheriger Genehmigung in besonderen
Ausnahmefällen, die der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach §
92 Abs. 1 S. 2 Nr. 12 SGB V festgelegt hat. Nach § 8 Abs. 1 S. 1 KT-Rl können in
besonderen Ausnahmefällen auch Fahrten zur ambulanten Behandlung bei der
zwingenden medizinischen Notwendigkeit von der Krankenkasse übernommen
V und vom Vertragsarzt verordnet werden; sie bedürfen der vorherigen
Genehmigung durch die Krankenkasse. Voraussetzungen für eine Verordnung
und eine Genehmigung sind nach Abs. 2, dass der Patient mit einem durch die
Grunderkrankung vorgegebenen Therapieschema behandelt wird, das eine hohe
Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum aufweist und dass diese

Behandlung oder der zu dieser Behandlung führende Krankheitsverlauf den
Patienten in einer Weise beeinträchtigt, dass eine Beförderung zur Vermeidung
von Schaden an Leib und Leben unerlässlich ist. Diese Voraussetzungen sind in
den in Anlage 2 dieser Richtlinien genannten Ausnahmefällen
(Dialysebehandlung, onkologische Strahlentherapie, onkologische Chemotherapie) erfüllt. Diese Liste ist nicht abschließend. Diese

- 7 -

gesetzeskonforme Konkretisierung der Ausnahme nach § 60 Abs. 1 S. 3 SGB V
durch die KT-Rl ist nicht aufgrund ranghöheren Rechts erweiternd auszulegen. Mit
der Änderung des § 60 SGB V zum 01.01.2004 wird stärker als zuvor auf die
medizinische Notwendigkeit der im Zusammenhang mit der
Krankenkassenleistung erforderlichen Fahrt abgestellt. Fahrkosten in der
ambulanten Behandlung sollen grundsätzlich nicht mehr erstattet werden;
Ausnahmen sollen nur noch nach Genehmigung der Krankenkassen gelten. Die
Möglichkeit der Krankenkassen, Fahrkosten generell in Härtefällen zu
übernehmen, soll somit ausgeschlossen werden. Dies ist verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden (vgl. im Einzelnen BSG 26.09.2006 - B 1 KR 20/05 R, juris,
Rn. 13 f).

Vorliegend ist eine hohe Behandlungsfrequenz i. S. d. § 8 Abs. 2 KT—Rl nicht
gegeben. Die in der Anlage 2 der Richtlinien genannte Dialysebehandlung, die
onkologische Strahlentherapie sowie die onkologische Chemotherapie erfordern in
der Regel mehr als eine Behandlung wöchentlich (vgl. Urteil des erkennenden
Senats vom 17.08.2006 - L 5 KR 65/06, juris, Rn. 17 m. w. N.). Auch wenn die
erforderliche Behandlungshäufigkeit unterschiedlich ist und in einzelnen Fällen bei
den aufgezählten Therapien auch eine höhere Frequenz in Betracht kommen
mag, erscheint es angemessen, ausgehend von der regelmäßigen
Behandlungshäufigkeit eine Therapiedichte von mindestens zwei Mal pro Woche
zu fordern. Unter Berücksichtigung des oben dargelegten Ziels des Gesetzgebers,
die Kosten für Fahrten zu ambulanten Behandlungen nicht generell in Härtefällen,
sondern nur in besonderen Ausnahmefällen zu erstatten, ist diese enge
Auslegung des Begriffs der hohen Behandlungsfrequenz geboten. Die
Voraussetzungen für einen Ausnahmefall i.S.d. § 8 Abs. 2 KT-Rl sind somit nicht
erfüllt, so dass - da auch Abs. 3 nicht eingreift - es bei dem Grundsatz verbleibt,
dass Fahrkosten zu ambulanten Behandlungen vom Versicherten selbst
aufzubringen sind.

- 8 -

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 Nr.1 SGG wegen der grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.



- Rechtsmittelbelehrung -

...

B 1 KR 27/07 R

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 5 KR 43/07 vom 06.09.2007

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LSG NSB, L 4 KR 212/04 vom 12.08.2004, Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
LANDESSOZIALGERICHT NIEDERSACHSEN-BREMEN



L 4 KR 212/04 ER

S 11 KR 413/04 ER (Sozialgericht Hannover)!



BESCHLUSS



In dem Rechtsstreit



A.,



Antragsteller und Beschwerdeführer,



Prozessbevollmächtigte:

Rechtsanwälte B.‚



gegen

C.,



Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin,

nicht am Verfahren beteiligt:



Landeshauptstadt Hannover, vertreten durch den Oberstadtdirektor, Fachbereich Recht

und Ordnung, Fachbereichsübergreifende Rechtsangelegenheiten, Schmiedestraße 24,

30159 Hannover,



Beschwerdeführerin,



hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen

am 12. August 2004 in Celle ‚



durch die Richterin S. - Vorsitzende -,



den Richter S. und die Richterin P.



beschlossen:



Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 4. Juni 2004



wird aufgehoben.



Die Antragsgegnerin wird verurteilt, die Fahrkosten des Antrag-

stellers zur Substitutionstherapie (abzüglich etwaiger Zuzahlun-



gen) ab 30. September 2004 bis zum Abschluss der Therapie



- 2 -



bzw. bis zur rechtskräftigen Entscheidung eines Hauptsachever—

fahrens vorläufig zu übernehmen.



Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragstellers zurückge-

wiesen.



Die Beschwerde der Landeshauptstadt Hannover wird verworfen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtli-

chen Kosten zu drei Vierteln zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten

nicht zu erstatten.



Das Verfahren betrifft die vorläufige Übernahme von Fahrkosten zu einer Substitutions-

therapie.



Der Antragsteller ist arbeitslos. Er erhält Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer

Schwierigkeiten nach 5 72 Bundessozialhilfegesetz, deren Durchführung der Landes-

hauptstadt Hannover obliegt. Der Antragsteller unterzieht sich einer Substitutionsbehand-

lung. Hierzu muss er sich täglich in der Praxis des behandelnden Facharztes für Allge-

meinmedizin Dr. D., Hannover, vorstellen. Er ist dazu auf die Benutzung öffentlicher Ver-

kehrsmittel angewiesen.



Im Frühjahr 2004 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die vorläufige

Übernahme der Fahrkosten zur Substitutionsbehandlung in Höhe von 55,00 Euro für eine

Monatskarte der Üstra. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. Mai

2004 ab.



Am 17. Mai 2004 beantragte der Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Hannover die Ge-

währung vorläufigen Rechtsschutzes, den das SG mit Beschluss vom 4. Juni 2004 ab-

lehnte. Gegen den ihm am 17. Juni 2004 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am

13. Juli 2004 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat.



Zuvor hatte der Antragsteller am 30. Juni 2004 die Übernahme der Fahrkosten bei der

Landeshauptstadt Hannover beantragt. In Ansehung des ablehnenden Bescheides der

Antragsgegnerin gewährte die Landeshauptstadt Hannover dem Antragsteller für die Zeit

vom 30. Juni bis 29. September 2004 vorläufig Fahrkosten in Form einer Mobilcard.



Die Landeshauptstadt Hannover ist zum Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz weder

beigeladen noch hat sie einen Antrag auf Beiladung gestellt, der abgelehnt worden wäre.

Gleichwohl hat sie am 13. Juli 2004 Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 4.

Juni 2004 eingelegt.



Die Beschwerde der Landeshauptstadt Hannover ist unzulässig.



- 4 -



Die Landeshauptstadt Hannover ist im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren

weder Antragstellerin noch Antragsgegnerin. Sie ist zum Verfahren auch weder beigela-

den, noch ist ein Antrag auf Beiladung abgelehnt worden. Sie ist daher nicht befugt, ge-

gen den Beschluss des SG vom 4. Juni 2004 ein Rechtsmittel einzulegen (vgl. hierzu:

Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, Vor § 143 Rn. 4).



Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und überwiegend begründet.



Nach § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache

auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Be-

zug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwen-

dung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen für die Zeit

ab 30. September 2004 vor.



Ob ein Anordnungsanspruch gegeben ist, lässt sich im Eilverfahren nicht abschließend

beurteilen.



Nach § 60 Abs. 1 Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung des Gesetzes zur

Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) übernimmt die Kranken-

kasse die Fahrkosten, wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse

aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind (Satz 1). Für Fahrkosten zu ei-

ner ambulanten Behandlung übernimmt die Krankenkasse die Kosten nur nach vorheri-

ger Genehmigung in besonderen Ausnahmefällen, die der Gemeinsame Bundesaus-

schuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB V festgelegt hat ( Satz 3).



§ 8 dieser Krankentransport-Richtlinien vom 22. Januar 2004 (BAnz 2004 Nr. 18) knüpft

die ausnahmsweise Übernahme der Fahrkosten u.a. an die Voraussetzung, dass die Be-

handlung oder der zu dieser Behandlung führende Krankheitsverlauf den Patienten in

einer Weise beeinträchtigt, dass eine Beförderung zur Vermeidung von Schaden an Leib

und Leben unerlässlich ist. Als Ausnahme nennen die Krankentransport-Richtlinien in

Anlage 2: Dialysebehandlung, onkologische Strahlentherapie und onkologische Chemo-

therapie. Nach § 8 Abs. 2 Satz 3 Krankentransport—Richtlinien sind diese Behandlungen

nicht abschließend.



Im vorliegenden Fall wird auch von der Antragsgegnerin nicht bezweifelt, dass der An-

tragsteller zur Substitutionsbehandlung täglich die Praxis des behandelnden Arztes auf-

suchen muss und hierzu auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, deren Kosten er



- 5 -



— der Antragsteller - nicht aus eigenen Mitteln bestreiten kann. Die tägliche Benutzung

öffentlicher Verkehrsmittel ist also erforderlich, damit der Antragsteller überhaupt ärztlich

behandelt werden kann. Nur auf diese Weise können bei ihm Schäden an Leib und Le-

ben vermieden werden. Ob dieser Sachverhalt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1

Satz 3 SGB V erfüllt oder ob — wie die Antragsgegnerin meint — die Beförderung selbst

medizinisch indiziert sein muss, kann der Senat im vorliegenden Eilverfahren nicht ab-

schließend entscheiden.



Daher ist es in Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)

geboten, den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz auf der Grundlage einer Folgenab-

wägung zu entscheiden (so BVerfG, Beschlüsse vom 22. November 2002 — 1 BvR

1586/02 — in NZS 2003, 253 f. und vom 19. März 2004 — 1 BvR 131/04 — in GesR 2004,

246 f.). Danach hat die Antragsgegnerin die Fahrkosten (abzüglich etwaiger Zuzahlungen)

ab 30. September 2004 vorläufig zu übernehmen.



Der Antragsteller muss zur Durchführung der Substitutionsbehandlung täglich zu seinem

behandelnden Arzt fahren. Hierzu ist er — wie die Antragsgegnerin nicht in Abrede stellt —

auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen. Ist ihm das nicht möglich,

muss er die Behandlung abbrechen. Dadurch würde seine Gesundheit in erheblichem

Maße beeinträchtigt. Die ihm entstehenden Nachteile wiegen erheblich schwerer, als die

Nachteile für die Antragsgegnerin, wenn sie die Fahrkosten vorläufig übernimmt. Denn

nach unwidersprochener Feststellung des SG betragen die Kosten für eine Monatskarte

der Üstra nicht mehr als 55,00 Euro.



Die Antragsgegnerin ist zur vorläufigen Übernahme der Fahrkosten jedoch erst ab dem

30. September 2004 verpflichtet. Die Landeshauptstadt Hannover hat die Fahrkosten vor-


läufig bis 29. September 2004 übernommen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Durchfüh-

rung der Behandlung des Antragstellers gesichert. Er hat insoweit keine Nachteile zu be-

fürchten. Die Pflicht zur vorläufigen Fahrkostenübernahme durch die Antragsgegnerin

beschränkt sich daher auf die Zeit vom 30. September 2004 an. Sie dauert bis zur Been-

digung der Substitutionsbehandlung bzw. bis zu dem rechtskräftigen Abschluss eines

Hauptsacheverfahrens.



Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog. Dabei hat der Senat berücksichtigt,

dass der Antragsteller zu einem überwiegenden Teil obsiegt hat.



- 6 -



Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).



S. S. P.

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LSG BW, L 4 KR 907/12 NZB vom 18.12.2012, Landessozialgericht Baden-Württemberg
Landessozialgericht Baden-Württemberg

L 4 KR 907/12 NZB
S 5 KR 1763/11

Beschluss

Der 4. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in Stuttgart hat durch Beschluss vom
18. Dezember 2012 für Recht erkannt:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der
Berufung im Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 23. Januar
2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu
erstatten.



- 2 -


Gründe:


I.


Im Streit steht die Erstattung von Fahrkosten für Taxifahrten für die Hinfahrt zur
Dialysebehandlung vom 01. Februar bis 30. April 2011.


Die 1979 geborene Klägerin war bis 30. April 2011 bei der Beklagten krankenversichert. Sie hat
einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 und das Merkzeichen G. Sie leidet unter
Niereninsuffizienz und muss sich seit April 2008 dreimal wöchentlich einer Dialysebehandlung
unterziehen. Am 04. November 2010 verordnete der Internist und Nephrologe Dr. M.,
Dialysezentrum und Gemeinschaftspraxis, eine Krankenbeförderung zu einer ambulanten
Behandlung beim Vertragsarzt gemäß Anlage 2 der Richtlinien des Gemeinsamen
Bundesausschusses über die Verordnung von Krankenfahrten, Krankentransportleistungen und
Rettungsfahrten (Krankentransport-Richtlinien) dreimal wöchentlich vom 01. Januar bis
31. Dezember 2011 mit Taxi oder Mietwagen von der Wohnung zur Dialyse Wiesloch, Hin- und
Rückfahrt. Zur medizinischen Begründung gab er an, es bestehe eine komplexe Situation mit
massiver aneurysmatischer Aufweitung des Dialyse-Shunts und Schwellung des gesamten
Armes (Z 49.0). Die Klägerin sei gehfähig, medizinisch-technische Ausstattung des
Transportfahrzeugs oder medizinische Betreuung sei nicht erforderlich. Dr. R. vom
Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) befand auf Anfrage
der Beklagten in der sozialmedizinischen Stellungnahme vom 29. Dezember 2010, aus
medizinischer Sicht seien öffentliche Verkehrsmittel ausreichend. Ob diese tatsächlich verfügbar
seien, sei nach den Krankentransport-Richtlinien nicht entscheidungsrelevant.


Mit Bescheid vom 29. Dezember 2010 bewilligte die Beklagte alle medizinisch notwendigen
Krankenfahrten zur Dialysebehandlung für den Zeitraum vom 01. bis 31. Januar 2011. Mit
Bescheid vom 25. Januar 2011 bewilligte die Beklagte ab 01. Februar 2011 nur noch die
Fahrkosten für öffentliche Verkehrsmittel. Nach einem Aktenvermerk vom 27. Januar 2011
bestehe eine Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Ö., dem Wohnort der Klägerin,
bis W.. Die Dialysepraxis liege jedoch in F., einem 5 km entfernten Vorort von W., „in der
Pampa“. Dorthin bestehe keine Busverbindung. Mit dem Taxi sei die Entfernung zwischen dem


- 3 -


Wohnort und der Dialysepraxis 7 km. Nach der Dialyse dürfe die Klägerin wohl nicht selbst
Auto fahren.


Mit Bescheid vom 31. Januar 2011 bewilligte die Beklagte vom 01. Februar 2011 bis
31. Dezember 2011 Krankenfahrten mit dem Taxi für die Rückfahrt von der Dialyse zum
Wohnort. Mit Schreiben vom 01. Februar 2011 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den
Bescheid vom 25. Januar 2011. Der öffentliche Nahverkehr zwischen Ö. und F. sei denkbar
schlecht. Sie müsse dienstags, donnerstags und samstags jeweils bereits um 6:15 Uhr im
Dialysezentrum sein. Der Bus ab Ö. verkehre zwar bereits ab 5:00 Uhr, allerdings nur bis W.-
Arbeitsamt. Von dort müsse die Klägerin 1,5 km laufen, die letzten 500 m entlang einer stark
befahrenen Straße ohne Gehweg. Samstags fahre der erste Bus um 7:00 Uhr, so dass keine
Möglichkeit bestehe, mit dem Bus zur Dialyse zu kommen. Auf dem Rückweg sei die
Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wegen Unwohlsein, Schwindel, Müdigkeit nicht möglich.
Mit undatiertem Schreiben wies die Beklagte darauf hin, dass aufgrund des Bescheides vom
31. Januar 2012 ab dem 01. Februar 2011 die Rückfahrt von der Dialyse zum Wohnort mit dem
Taxi mit ihr abgerechnet werden könne, nach Ansicht des MDK aus medizinischer Sicht
öffentliche Verkehrsmittel ausreichten, deren Verfügbarkeit nach den Krankentransport-
Richtlinien nicht entscheidungsrelevant sei. Den Widerspruch vom 15. Februar 2011 wies der
bei der Beklagten gebildete Widerspruchsausschuss mit Widerspruchsbescheid vom 07. April
2011 zurück.


Mit ihrer am 21. April 2011 zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage verfolgte die
Klägerin ihr Begehren weiter. Sie beantragte Kostenübernahme für die im Februar, März und
April 2011 durchgeführten Krankenfahrten und legte Rechnungen über die Hinfahrten für
Februar 2011 in Höhe von € 226,56; März 2011 in Höhe von € 264,32 und April 2011 in Höhe
von € 245,44 vor. Außerdem legte sie einen von Dr. M. am 02. März 2011 ausgestellten
Dauertransportschein vor, demzufolge der Transport zur Behandlung und zurück im Februar
2011 mit dem Taxi medizinisch erforderlich gewesen sei. Mit Urteil vom 23. Januar 2012 wies
das SG die Klage ab. Der geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung bestehe nicht, weil
der Sachleistungsanspruch nicht bestehe. Die Krankenkasse übernehme gemäß § 60 Abs. 2 und 3
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) die Kosten für Fahrten, die im Zusammenhang mit
einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig seien. Die
Notwendigkeit sei für Hin- und Rückweg gesondert zu prüfen (§ 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB V


- 4 -


i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 2 Krankentransport-Richtlinien). Welches Fahrzeug benutzt werden
könne, richte sich nach der medizinischen Notwendigkeit im Einzelfall. Bei der Auswahl sei
insbesondere der aktuelle Gesundheitszustand und die Gehfähigkeit ausschlaggebend. Die
Krankenfahrt mit einem Taxi sei nur dann zu verordnen, wenn der Versicherte aus zwingenden
medizinischen Gründen öffentliche Verkehrsmittel oder ein privates Kraftfahrzeug nicht
benutzen könne. Die Verordnung könne nicht darauf gestützt werden, die Anbindung an
öffentliche Verkehrsmittel, zu deren Nutzung der Versicherte gesundheitlich prinzipiell in der
Lage wäre, sei vor Ort unzureichend. Maßgeblich sei nämlich ausschließlich die medizinische
Notwendigkeit. Auch bei anderen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, vom
Bundessozialgericht (BSG) entschieden bezüglich der Hilfsmittelversorgung und
Krankenhausbehandlung, lasse sich die medizinische Notwendigkeit nicht mit örtlichen
Verhältnissen oder sonstigen persönlichen Umständen begründen. Daran gemessen benötige die
Klägerin kein Taxi für die Fahrten zur Dialysebehandlung. Trotz der Niereninsuffizienz sei sie
gesundheitlich in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und fahre - nach ihren
Bekundungen in der mündlichen Verhandlung - selbst mit dem Auto zur Arbeit. Es bestehe kein
Grund, die Berufung zuzulassen.


Gegen das über ihren Prozessbevollmächtigten am 06. Februar 2012 zugestellte Urteil hat die
Klägerin am 29. Februar 2012 Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Zur Begründung trägt sie
vor, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung. Die dem Urteil des SG zugrunde liegende
Rechtsauffassung, eine Verordnung von Krankenfahrten mit dem Taxi könne nur darauf gestützt
werden, der Versicherte könne öffentliche Verkehrsmittel oder einen Pkw aus zwingenden
medizinischen Gründen nicht benutzen und nicht darauf, dass die Anbindung vor Ort
unzureichend sei, stehe in krassem Widerspruch zu deutlichen Stimmen in der
Kommentarliteratur. Die Frage sei in der Rechtswissenschaft höchst streitig. Zum Teil werde
vertreten, dass es nicht ausgeschlossen sei, die örtlichen Verhältnisse in die Beurteilung
einzubeziehen. Die Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsmittel könne ausgeschlossen sein,
weil die dadurch erforderlichen längeren Wartezeiten aufgrund zwingender gesundheitlicher

Gründe unzumutbar seien (Hasfeld/Waßer in juris-PK SGB V, § 60 RdNr. 61; Baier in
Krauskopf, Stand März 2012, § 60 RdNr. 9). Das SG habe verkannt, dass diese grundsätzliche
Rechtsfrage keineswegs eindeutig beurteilt werde. Das BSG habe hierzu bisher keine eindeutige
Entscheidung getroffen.


- 5 -


Die Klägerin beantragt,


die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom
23. Januar 2012 zuzulassen.


Die Beklagte beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.


Der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung in § 144 Abs. 1 SGG sei wie in § 160 Abs. 2 Nr. 1
SGG auszulegen. Eine Rechtssache habe über den Einzelfall hinaus nur dann grundsätzliche
Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage aufwerfe, die aus Gründen der Rechtseinheit oder der
Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren
Klärung durch das Berufungsgericht zu erwarten sei (Klärungsfähigkeit). Ein Individualinteresse
genüge nicht. Maßgebend sei nicht die richtige Einzelfallentscheidung; sie sei nur eine Folge der
Klärung der grundsätzlichen Rechtsfrage. Das BSG habe mit Beschluss vom 03. April 2008
(B 11b AS 15/07 B in juris) verdeutlicht, dass es regelmäßig an der Klärungsbedürftigkeit fehle,
wenn sich die Antwort unmittelbar aus den gesetzlichen Vorschriften ergebe. Nach § 60 Abs. 1
SGB V übernehme die Krankenkasse nach den Absätzen 2 und 3 die Kosten für Fahrten
einschließlich der Transporte nach § 133 SGB V (Fahrkosten), wenn sie im Zusammenhang mit
einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind.
Welches Fahrzeug benutzt werden könne, richte sich nach der medizinischen Notwendigkeit im
Einzelfall. Der Gesetzestext sei eindeutig. Eine grundsätzliche Bedeutung liege danach nicht vor.
Hierfür sei unerheblich, ob bereits Rechtsprechung des BSG zu der Frage vorliege.


II.


Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der
Berufung im Urteil des SG vom 23. Januar 2012 ist zulässig. Die Beschwerde der Klägerin ist
jedoch nicht begründet, weil keine Gründe für eine Zulassung der Berufung gegeben sind.


- 6 -


1.


Die Berufung bedarf nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Zulassung im
Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn
der Wert des Beschwerdegegenstands
1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten
Verwaltungsakt betrifft, € 750,00 oder
2. bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder
Behörden € 10.000,00 nicht übersteigt.
Dies gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein
Jahr betrifft (Satz 2). Die Berufung gegen das Urteil des SG vom 23. Januar 2012 bedarf der
Zulassung, denn der Beschwerdewert von mehr als € 750,00 ist hier nicht erreicht. Die Klägerin
begehrt die Erstattung von Fahrkosten in Höhe von € 736,32. Diese betreffen keinen Zeitraum
von mehr als einem Jahr, sondern nur von 3 Monaten (01. Februar bis 30. April 2011).
Schließlich hat das SG die Berufung im Urteil nicht zugelassen.


2.
Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des
Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des
Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht
wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Keiner dieser Gründe ist gegeben.

a)
Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Eine grundsätzliche Bedeutung ist dann
anzunehmen, wenn sich eine Rechtsfrage stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden
Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen
Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch eine höherinstanzliche
Entscheidung zu erwarten ist (Klärungsfähigkeit; vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 16. November
1987 - 5b BJ 118/87 - SozR 1500 § 160a Nr. 60; Beschluss vom 16. Dezember 1993 - 7 BAr
126/93 - SozR 3-1500 § 160a Nr. 16). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, falls sich die Antwort auf


- 7 -


die Rechtsfrage ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften oder aus bereits vorliegender
höchstrichterlicher Rechtsprechung ergibt (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 17. April 2012 - B 13
R 347/10 B - in juris). Den von der Klägerin als rechtsgrundsätzlich bezeichneten Fragen kommt
eine grundsätzliche Bedeutung nicht zu.


Die Rechtsfrage, ob ausschließlich medizinische Gründe als Kriterium bei der Beurteilung der
Notwendigkeit eines Beförderungsmittels bei einer Krankenbeförderung heranzuziehen sind oder
ob die örtlichen Verhältnisse mitberücksichtigt werden müssen, ist nicht klärungsbedürftig.
Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB V übernimmt die Krankenkasse nach den Absätzen 2 und 3 die
Kosten für Fahrten einschließlich der Transporte nach § 133 SGB V (Fahrkosten), wenn sie im
Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen
notwendig sind. Nach Satz 2 der Vorschrift richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit
im Einzelfall, welches Fahrzeug benutzt werden kann. Die Krankentransport-Richtlinien (in der
Fassung vom 22. Januar 2004, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2004; Nr. 18; S. 1342; zuletzt
geändert am 21. Dezember 2004; veröffentlicht im Bundesanzeiger 2005; Nr. 41; S 2937; in
Kraft getreten am 02. März 2005) sehen in § 4 für die Auswahl des Beförderungsmittels
ausschließlich die zwingende medizinische Notwendigkeit im Einzelfall unter Beachtung des
Wirtschaftlichkeitsgebots als maßgeblich. Für die Auswahlentscheidung ist deshalb insbesondere
der Gesundheitszustand des Versicherten und seine Gehfähigkeit zu berücksichtigen. Damit ist
die Frage, welche Auswirkungen die örtlichen Verkehrsverhältnisse haben, bereits nach dem
Wortlaut von Gesetz und Richtlinie nicht klärungsbedürftig und klärungsfähig, weil sie keine
Bedeutung über den Einzelfall hinaus hat, der Senat bei inhaltlicher Befassung mit der
Rechtssache nur eine Einzelfallentscheidung durch Anwendung geltenden Rechts treffen könnte.
Außerdem ergibt sich die Antwort unmittelbar aus den gesetzlichen Vorschriften, aufgrund derer
eine Einzelfallentscheidung vorzunehmen ist. Die Frage, ob vorliegend aufgrund der örtlichen
Verhältnisse die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf dem Hinweg zur Dialysebehandlung
aufgrund der 1,5 km weiten, mangels Busanbindung zu Fuß zurückzulegenden Wegstrecke der
Klägerin angesichts eines GdB von 100 und dem Merkzeichen G gesundheitlich unzumutbar ist,
ist aber eine Frage des Einzelfalls.


Die Klägerin rügt mit der Beschwerde letztlich eine unrichtige Einzelfallentscheidung durch
unzutreffende Auslegung der zugrunde liegenden Vorschriften. Dies ist nach der Systematik der
§§ 143 bis 145 SGG gerade nicht möglich, wenn die Berufung nicht zulässig ist und - mangels


- 8 -


Vorliegens der im Gesetz abschließend genannten Zulassungsgründe - weder vom SG noch auf
Beschwerde vom LSG zugelassen wird. Vorliegend war die Berufung mangels Erreichens des
Berufungsstreitwerts nicht zulässig; sie wurde vom SG zu Recht nicht zugelassen, da ein Grund
für die Zulassung nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 SGG nicht vorliegt.


b)
Eine Divergenz im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG und ein Verfahrensmangel im Sinne von
§ 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG ist nicht ersichtlich und wird von der Klägerin auch nicht behauptet.


3.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Mit der Ablehnung der Beschwerde wird das Urteil des SG vom 23. Januar 2012 (S 5 KR
1763/11) rechtskräftig (§ 145 Abs. 4 Satz 4 SGG).

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BSG, B 9 SB 90/12 B vom 23.01.2013, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss

in dem Rechtsstreit

Az: B 9 SB 90/12 B

L 7 SB 29/10 (LSG Sachsen-Anhalt)

S 12 SB 137/07 (SG Halle)

Kläger und Beschwerdeführer,

Prozessbevollmächtigte:

gegen

Land Sachsen-Anhalt,

vertreten durch das Landesverwaltungsamt - Landesversorgungsamt,

Maxim-Gorki-Straße 7, 06114 Halle/Saale,

Beklagter und Beschwerdegegner.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat am 23. Januar 2013 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. L.
sowie die Richter K.
und O.

beschlossen:

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landes-
sozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 25. September 2012 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten
zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

[Abs 1] Mit Urteil vom 25.9.2012 hat das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) einen Anspruch
des Klägers auf Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche
Gehbehinderung) verneint. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat
der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Er macht eine grundsätzli-
che Bedeutung der Rechtssache geltend.

[Abs 2] Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den
gesetzlichen Anforderungen (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG). Keiner der in § 160 Abs 2 SGG ab-
schließend aufgeführten Zulassungsgründe ist ordnungsgemäß dargetan worden.

[Abs 3] Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG - wie sie der Kläger geltend macht -
hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall
hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch
das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des
anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt
sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich
ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner
Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen:

(1) eine bestimmte Rechtsfrage, (2) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3) ihre (konkrete)
Klärungsfähigkeit sowie (4) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm an-
gestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE
40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen
Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.

[Abs 4] Der Kläger misst folgenden Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung bei:
1. Ergibt sich aus Art. 9 Abs 1, Art 20 Buchst a), Art 30 Abs 1 Buchst c) Übereinkommen der
Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein An-
spruch auf das Merkzeichen aG auch außerhalb der Normierungen des § 3 Abs 1 Nr. 1
Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) i.V.m. § 6 Abs 1 Nr. 14 Straßenver-
kehrsgesetz (StVG), § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO), § 46 Verwaltungsvorschriften
zur StVO (VwV-StVO), soweit und solange es sich bei diesem Merkzeichen um die einzige
Möglichkeit handelt, im gesamten Bundesgebiet Parkerleichterungen zu erhalten?

2. Ergibt sich aus der UN-BRK als im Zusammenhang mit der vom Bundesverfassungsge-
richt anzuwendenden Auslegungshilfe des Grundgesetzes ein Anspruch auf Parkerleichte-
rungen i.S. einer Reduktion der derzeit strengen Maßstäbe für die Feststellung des Merkzei-

- 3 -

chens aG, solange allein das Merkzeichen aG Parkerleichterungen für das gesamte Bun-
desgebiet einschließt?

[Abs 5] In Bezug auf diese Fragen fehlt es an hinreichenden Ausführungen des Klägers zum höchst-
richterlichen Klärungsbedarf hinsichtlich der rechtlichen Grundsätze, nach denen das Merkzei-
chen "aG" festzustellen ist (vgl dazu § 69 Abs 4 SGB IX, § 3 Abs 1 Nr 1 SchwbAwV, § 6 Abs 1
Nr 14 StVG, § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO). Eine Klärungsbedürftigkeit ist unter anderem dann
nicht gegeben, wenn die Rechtsfrage bereits höchstrichterlich beantwortet ist (vgl BSG SozR
1500 § 160 Nr 51; BSG SozR 1500 § 160a Nr 13, 65) oder wenn sich für die Antwort in höchst-
richterlichen Entscheidungen bereits ausreichende Anhaltspunkte finden lassen (vgl BSG SozR
3-1500 § 146 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8). Der Kläger hätte daher die rechtliche Klä-
rungsbedürftigkeit der von ihm angesprochenen Fragestellungen unter Einbeziehung der vor-
handenen Rechtsprechung des BSG, wie vom LSG bereits benannt, näher begründen müssen.

Hierzu wäre es zunächst erforderlich gewesen, sich mit den vom Senat festgelegten Grundsät-
zen zur Feststellung des Merkzeichens "aG" auseinanderzusetzen (zB Senatsurteil vom
5.7.2007 - B 9/9a SB 5/06 R; Senatsurteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 5/05 R; Senatsurteil vom
10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1; Senatsurteil vom
11.3.1998 - B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23). Dies hat der Kläger ver-
säumt.

[Abs 6] Gleiches gilt, soweit der Kläger die rechtliche Bedeutung der UN-BRK für die Feststellung der
Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" geklärt wissen will. Allein die Bezugnahme auf einen
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom "22.3.2012 - 2 BvR 889/09, Rnr 52" (möglicher-
weise tatsächlich gemeint: Beschluss vom 23.3.2011 - 2 BvR 882/09) verbunden mit der Be-
hauptung, dass es zu den gestellten Rechtsfragen bisher keine höchstrichterliche Recht-
sprechung gebe, genügt den Darlegungserfordernissen nicht. Auch insoweit hätte es einer
Auseinandersetzung mit der zum Teil bereits vom LSG benannten Rechtsprechung des BSG
zur Anwendung der UN-BRK bedurft (vgl zB BSG Beschluss vom 10.5.2012 - B 1 KR 78/11 B -
RdNr 6 ff, SozR 4-2500 § 140f Nr 1; BSG Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R - RdNr 19 f,
SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; Senatsurteil vom
24.5.2012 - B 9 V 2/11 R - RdNr 36, SozR 4-3520 § 7 Nr 1, auch zur Veröffentlichung in BSGE
vorgesehen; Senatsurteil vom 29.4.2010 - B 9 SB 2/09 R - RdNr 43, BSGE 106, 101 = SozR
4-3250 § 2 Nr 2). Mit dieser Rechtsprechung hätte sich der Kläger inhaltlich befassen und auf-
zeigen müssen, in welchem Rahmen eine weitere Ausgestaltung, Erweiterung oder Änderung
derselben durch das Revisionsgericht zur Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits erfor-
derlich ist (vgl hierzu allgemein Becker, die Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG [Teil I], SGb
2007, 261, 266 zu Fußnote 58). Dabei wäre zB darauf einzugehen gewesen, ob die UN-BRK an
der Rechtslage für das Merkzeichen "aG" etwas Grundlegendes geändert hat (vgl dazu Wendt-
land, Finale Betrachtungsweise bei Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen

- 4 -

"aG", in Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Forum C, Diskussionsbeitrag
Nr 9/2011, vom 29.11.2011).

[Abs 7] Soweit der Kläger im Übrigen die Beweiswürdigung des LSG (vgl hierzu § 128 Abs 1 S 1 SGG)
kritisiert, kann er damit gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein keine Revisions-
zulassung erreichen. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzutreffende Rechtsanwen-
dung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).

[Abs 8] Die Verwerfung der Beschwerde erfolgt ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 160a
Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG).

[Abs 9] Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendungen des § 193 SGG.

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Sonntag, 10. Mai 2015
BSG, B 8 SO 54/10 B vom 24.11.2011, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss

in dem Rechtsstreit

Az: B 8 SO 54/10 B
L 8 SO 132/09 (Bayerisches LSG)
S 10 SO 13/08 (SG Landshut)

Kläger und Beschwerdeführer,

Prozessbevollmächtigte:

gegen


Bezirk Niederbayern,
Gestütstraße 10, 84028 Landshut,
Beklagter und Beschwerdegegner,

beigeladen:

1. Landkreis Passau,
Regensburger Straße 33, 94036 Passau,

2. Deutsche Angestellten-Krankenkasse,
Nagelsweg 27-31, 20097 Hamburg.

Der 8. Senat des Bundessozialgerichts hat am 24. März 2011 durch

die Richter C. , O., und Prof. Dr. S.

beschlossen:


Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im
Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 2010 wird als
unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

[Abs. 1]
Im Streit ist die Übernahme von Betriebskosten für ein dem Kläger gehörendes, selbst be-
schafftes Kfz im Wege der Eingliederungshilfe.

[Abs. 2]
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen das klageab-
weisende Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 23.4.2009 (S 10 SO 13/08) zurückgewiesen,
weil der Kläger zum Zwecke der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht auf die regelmä-
ßige Benutzung des Kfz angewiesen sei (Urteil vom 29.6.2010, L 8 SO 132/09).

[Abs. 3]
Mit seiner gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegten Beschwerde rügt der Kläger die
Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 62 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm Art 103 Abs 1
Grundgesetz (GG). Die Mitteilung des Klägers an das LSG vom 27.6.2010, er könne an dem
Verhandlungstermin vom 29.6.2010 nicht teilnehmen, weil er nicht über die finanziellen Mittel
zur Bestreitung der Fahrtkosten verfüge, sei als Terminverlegungsantrag auszulegen. Weder
habe das LSG über diesen entschieden, noch habe es Reisekosten gewährt, sodass der mit-
tellose Kläger an der Teilnahme am Termin zur mündlichen Verhandlung gehindert worden sei.

Damit könne die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen, denn es
könne grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass eine Verletzung des rechtlichen Ge-
hörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran gehindert habe, an der mündlichen Verhandlung
teilzunehmen, die daraufhin ergangene Entscheidung beeinflusst habe. Einer Angabe, welches
Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden sei, bedürfe es nicht.

[Abs. 4]
Der Rechtssache komme auch grundsätzliche Bedeutung zu, weil folgende Fragen grundsätz-
licher Klärung bedürften:

"Sind bei Leistungsberechtigten nach dem vierten Kapitel des SGB XII (Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung) als Versicherungsnehmer einer Kraftfahrzeug-Haftpflichtver-
sicherung mit eigenem Renteneinkommen die Prämien für die Kraftfahrzeug-
Haftpflichtversicherung nach § 82 Abs 2 Nr 3 SGB XII vom Renteneinkommen absetzbar, wenn
wegen Krankheit oder Behinderung die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht möglich oder
zumutbar ist?

Stellen die §§ 53 Abs 1 Satz 1 und 54 Abs 1 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit § 10 Abs 6 Ein-
gliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) für die Übernahme der Betriebskosten des Kfz die allei-
nige Anspruchsgrundlage dar?"

- 3 -

[Abs. 5]
Diese Rechtsfragen seien auch klärungsbedürftig; das Bundessozialgericht (BSG) habe in sei-
nem Urteil vom 18.3.2008 (B 8/9b SO 11/06 R, BSGE 100, 139 = SozR 4-3500 § 82 Nr 4) ent-
schieden, dass die Absetzbarkeit des Versicherungsbeitrags für ein Kfz voraussetze, dass die-
ses zumindest auch für sozialhilferechtlich anerkennte Zwecke genutzt werde, also etwa, weil
die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel im Fall von Krankheit oder Behinderung eines Mitglieds
der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder unzumutbar sei. Hierbei habe es jedoch offen
gelassen, ob die Kfz-Versicherungsbeiträge überhaupt als angemessene
Versicherungsbeiträge zu verstehen seien und auf die abweichende Ansicht des
Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 62, 261 ff) verwiesen.

II

[Abs. 6]
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund
des Verfahrensfehlers, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) und
der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), nicht in der erforderlichen Weise be-
zeichnet bzw dargelegt ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Der Senat konnte deshalb über die Be-
schwerde ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2
SGG iVm § 169 SGG entscheiden.

[Abs. 7]
Macht der Beschwerdeführer das Vorliegen von Verfahrensmängeln geltend, so müssen bei der
Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) wie bei einer Verfahrensrüge
innerhalb einer zugelassenen Revision zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) be-
gründenden Tatsachen substanziiert dargelegt werden (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34,
36). Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG
- ausgehend von dessen Rechtsansicht - auf dem jeweiligen Mangel beruhen kann, also die
Möglichkeit der Beeinflussung der Entscheidung besteht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14 und
36), es sei denn, es würden absolute Revisionsgründe gerügt, bei denen gemäß § 202 SGG
iVm § 547 Zivilprozessordnung (ZPO) der Einfluss auf die Entscheidung unwiderlegbar ver-
mutet wird (BSGE 4, 281, 288; BSG SozR 1500 § 136 Nr 8).

[Abs. 8]
Der Kläger hat mit seinem Vorbringen einen Verfahrensmangel wegen Verletzung des recht-
lichen Gehörs nach § 62 SGG und Art 103 Abs 1 GG nicht hinreichend bezeichnet. Das Gebot
des rechtlichen Gehörs hat auch zum Inhalt, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur
Abgabe sachgemäßer Erklärungen haben müssen (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5; BSG SozR
1500 § 128 Nr 24). Wird aufgrund mündlicher Verhandlung, dem "Kernstück" des gerichtlichen
Verfahrens (BSGE 44, 292, 293 = SozR 1500 § 124 Nr 2) entschieden, müssen die Beteiligten
die Möglichkeit haben, hieran teilzunehmen. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör ist dabei in
der Regel bereits dadurch genügt, dass das Gericht die mündliche Verhandlung anberaumt
(§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG), der Beteiligte bzw sein Prozessbevollmächtigter ordnungsgemäß

- 4 -

geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird (BSG,
Urteil vom 28.4.1999, B 6 KA 40/98 R, USK 99111, RdNr 16). Dass der Kläger an der
Teilnahme der mündlichen Verhandlung gehindert wurde, trägt er nicht schlüssig vor. Dem
Schreiben des Klägers vom 27.6.2010 lässt sich insbesondere kein Terminverlegungsantrag
oder ein Antrag auf Gewährung eines Reisekostenzuschusses entnehmen, sondern allein die
Bitte um Verständnis im Falle seiner Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung. Warum
das Schreiben dennoch als Verlegungsantrag auszulegen war, erläutert der Kläger nicht.

[Abs. 9]
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft,
die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit und der Fortbildung des
Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer
muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichter-
lichen Rechtsprechung - ggf sogar des Schrifttums - angeben, welche Rechtsfragen sich stel-
len, dass diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechts-
fragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und
dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt (BSG SozR 1500 § 160
Nr 17; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59 und 65). Um seiner Darlegungspflicht zu
genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte)
Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die
über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so
genannte Breitenwirkung) darlegen. Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung
nicht.

[Abs. 10]
Insbesondere ist die Klärungsfähigkeit nicht ausreichend dargelegt. Das LSG hat die Über-
nahme der Betriebskosten für das dem Kläger gehörende Kfz im Zusammenhang mit Leistun-
gen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft geprüft, weil der Kläger Eingliederungshilfe
beantragt hat. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht er hingegen geltend, dass ihm ange-
sichts der Anrechenbarkeit der "angemessenen" Versicherung höhere Leistungen nach §§ 41 ff
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) zustehen. Zur Darlegung der Klä-
rungsfähigkeit hätte er sich dann aber mit den unterschiedlichen Streitgegenständen und mit
insoweit (ggf) bestandskräftigen Bescheiden des Beigeladenen zu 1., der für Leistungen der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zuständig wäre, auseinandersetzen müs-
sen. Dies hat er jedoch nicht getan.

[Abs. 11]
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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BSG, B 8 SO 6/11 R vom 15.11.2012, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Verkündet am
15.11.2012

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 8 SO 6/11 R
L 9 SO 39/08 (LSG Nordrhein-Westfalen)
S 7 SO 10/07 (SG Duisburg)

Klägerin und Revisionsklägerin,
Prozessbevollmächtigte:

gegen

Stadt Rheinberg,
Kirchplatz 10, 47495 Rheinberg,
Beklagte und Revisionsbeklagte,
Prozessbevollmächtigte:

Der 8. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. November
2012 durch den Vorsitzenden Richter E. , den Richter C. und die Richterin

K. sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. W.
und G.



für Recht erkannt:



Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen
vom 20. Juli 2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an
dieses Gericht zurückverwiesen.

-2-



Gründe:



I



[Abs. 1] Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erstattung von Kosten in Höhe von 50,48 Euro für
ein Depot-Kontrazeptivum (sog "3-Monats-Spritze") auf Grundlage von Verordnungen vom
8.3.2007 und vom 5.6.2007.


[Abs. 2] Bei der 1966 geborenen Klägerin besteht eine geistige Behinderung mit Aphasie bei Zustand
nach Schädel-Hirn-Trauma. Sie erhält laufend Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Sozial-
gesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) - ua für die Zeit vom 1.7.2006 bis 30.6.2007
(Bescheid vom 21.6.2006) - und ist Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bei
der AOK Rheinland/Hamburg. Sie übt eine Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen
aus und wohnt gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Sohn, der von seiner Großmutter
erzogen wird, in einem Haushalt.



[Abs. 3] Am 21.9.2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten unter Vorlage privatärztlicher Verord-
nungen ihres behandelnden Gynäkologen vom 13.6.2006 und 12.9.2006 und einer Bescheini-
gung dieses Arztes vom 13.9.2006, wonach die Verordnung erforderlich sei, die Kostenüber-
nahme für jeweils eine Ampulle des Depot-Kontrazeptivums Noristerat. Einen anschließend bei
der AOK Rheinland/Hamburg gestellten Kostenübernahmeantrag lehnte diese ab, weil eine
Kostenübernahme für Kontrazeptiva nach Vollendung des 20. Lebensjahres gemäß § 24a
Abs 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) aus-
scheide (Bescheid vom 6.10.2006). Auch die Beklagte lehnte den Kostenübernahmeantrag ab
(Bescheid vom 20.10.2006; Widerspruchsbescheid unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter
vom 29.3.2007).



[Abs. 4] Hiergegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht (SG) Duisburg erhoben und die Erstattung
von Kosten in Höhe von insgesamt 126,20 Euro für 5 Ampullen Noristerat (jeweils 25,24 Euro)
geltend gemacht, die sie sich nach Ablehnung der Kostenübernahme durch die Beklagte auf
Grundlage privatärztlicher Verordnungen ihres behandelnden Gynäkologen vom 8.3., 5.6., 6.9.,
13.12.2007 und 13.3.2008 beschafft hatte. Das SG hat die Beklagte antragsgemäß zur Kosten-
erstattung verurteilt (Urteil vom 9.9.2008). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesso-
zialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen das Urteil des SG aufgehoben und die Klage
abgewiesen (Urteil vom 20.7.2010). Einem Anspruch aus § 49 Satz 2 SGB XII auf
Kostenübernahme für empfängnisverhütende Mittel stehe - entgegen der Auffassung des SG -
§ 52 Abs 1 Satz 1 SGB XII entgegen, der wegen der Hilfen nach den §§ 47 bis 51 SGB XII auf
den Leistungsumfang der GKV verweise. Nach § 24a SGB V seien Frauen (nur) bis zum
vollendeten 20. Lebensjahr anspruchsberechtigt. Wegen der Änderung des § 38 Abs 1 Satz 1
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) zum 1.1.2004 (mit dem Gesetz zur Modernisierung der


-3-

gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Modernisierungsgesetz - vom 14.11.2003
- BGBl I 2190) und der damit erfolgten Anbindung des Leistungsrechts des BSHG und in der
Folge des SGB XII an dasjenige des SGB V könnten auch auf der Grundlage des § 49 SGB XII
empfängnisverhütende Mittel für Personen nach Vollendung des 20. Lebensjahres nicht über-
nommen werden. Eine Kostenübernahme gemäß § 48 Satz 1 SGB XII iVm § 27 Abs 1 SGB V
scheide aus, weil das verschriebene empfängnisverhütende Mittel nach den Attesten des be-
handelnden Gynäkologen vom 13.9.2006 und vom 24.8.2007 nicht der Verhütung einer
Schwangerschaft wegen Vorliegens einer Krankheit, sondern der Empfängnisverhütung unmit-
telbar diene. Die Teilhabe iS der §§ 53, 54 SGB XII iVm § 55 Abs 1 Sozialgesetzbuch Neuntes
Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) erfasse es zwar auch,
dem Behinderten ein selbstbestimmtes Sexualleben zu ermöglichen bzw zu erleichtern, wovon
auch die Übernahme der Kosten der Verhütung einer ungewollten Schwangerschaft mit einem
der Behinderung angepassten Verhütungsmittel umfasst sein könne; als allein übernah-
mefähiger behinderungsspezifischer Bedarf seien aber nur solche Kosten zu übernehmen, die
zusätzlich durch die Behinderung der Betroffenen entstünden. Die Kosten für das Depot-
Kontrazeptivum überschritten im Vergleich mit Kosten anderer üblicher Verhütungsmittel
(Kondome, orale Kontrazeptiva) das zumutbare Maß nicht und seien deshalb mit dem
pauschalen Regelsatz abgegolten.


[Abs. 5] Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Sie hat die Klage auf die Kostenerstattung
wegen der Verordnungen vom 8.3. und 5.6.2007 beschränkt. In der Sache macht sie eine Ver-
letzung von § 49 SGB XII durch das LSG geltend. § 49 SGB XII stelle nach wie vor für den Per-
sonenkreis der Hilfebedürftigen nach dem SGB XII eine Sonderregelung dar. Der Gesetzgeber
habe nach Änderung des § 38 BSHG durch die unveränderte Beibehaltung des § 36 BSHG (bis
31.12.2004) bzw durch § 49 SGB XII (ab 1.1.2005) zu erkennen gegeben, weiterhin die Kos-
tenübernahme für empfängnisregelnde Mittel ohne die in § 24a SGB V enthaltene Altersbegren-
zung im Rahmen des SGB XII ermöglichen zu wollen. § 52 SGB XII regele nicht den
anspruchsberechtigten Personenkreis, sondern (lediglich) den Umfang der Versorgung. Bei
einer anderen Auslegung laufe die Regelung ins Leere; zudem ergebe sich eine Schlechter-
stellung gegenüber dem Personenkreis, der entsprechende Leistungen nach §§ 3, 6 Abs 1
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten könne. Auch als Eingliederungsleistung
müsse das Depot-Kontrazeptivum übernommen werden, weil es für sie die einzige Möglichkeit
sei, sicher zu verhüten.



[Abs. 6] Die Klägerin beantragt,



das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG
zurückzuweisen.



[Abs. 7] Die Beklagte beantragt,


die Revision zurückzuweisen.



-4-

[Abs. 8] Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.



II



[Abs. 9] Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zu-
rückverweisung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ). Auf
der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob
der Klägerin höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
(Grundsicherungsleistungen) zustehen. Allein aus dem regelmäßig alle drei Monate anfallenden
Kostenaufwand für das Depot-Kontrazeptivum ergibt sich ein Anspruch auf höhere Grundsiche-
rungsleistungen nicht. Ein Anspruch auf andere Sozialhilfeleistungen besteht nicht.



[Abs. 10] Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 20.10.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 29.3.2007 (§ 95 SGG), mit dem diese die Übernahme auch
künftig anfallender Kosten für Kontrazeptiva abgelehnt hat. Die mit der Anfechtungsklage
kombinierte Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG) hat die Klägerin auf die Erstattung
von bezifferten Kosten in Höhe von 50,48 Euro beschränkt und dabei zulässigerweise auch auf
die im Juni 2007 angefallenen Kosten erstreckt. Eine Begrenzung des Streitgegenstandes da-
hin, dass lediglich über Leistungen nach dem Fünften Kapitel des SGB XII (Hilfen zur Gesund-
heit) zu entscheiden wäre, ergibt sich aus dieser betragsmäßigen Einschränkung aber nicht.
Nach dem sog Meistbegünstigungs- bzw Gesamtfallgrundsatz (vgl: BSGE 101, 217 ff
RdNr 12 ff = SozR 4-3500 § 133a Nr 1; BSGE 100, 131 ff RdNr 10 = SozR 4-3500 § 90 Nr 3) ist
davon auszugehen, dass die Klägerin die von ihr beanspruchten Leistungen unter allen denk-
baren rechtlichen Gesichtspunkten geltend macht. Damit wird das LSG nach Zurückverweisung
des Rechtsstreits zu überprüfen haben, ob eine Erhöhung des Regelsatzes nach § 42 Satz 1
Nr 1 SGB XII iVm § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII (in der Normfassung des Gesetzes zur Änderung
des SGB XII und anderer Gesetze vom 2.12.2006 - BGBl I 2670) für die Zeit in Betracht kommt,
in der die geltend gemachten Kosten angefallen sind, und den die Leistungen für den Lebens-
unterhalt betreffenden Bescheid in seine Prüfung einzubeziehen haben. Dabei fallen die
streitigen Kosten in den Bewilligungszeitraum vom 1.7.2006 bis 30.6.2007. Sofern sich die
Berufung der Beklagten im Ergebnis als unbegründet darstellen sollte, wird das LSG den Tenor
des Urteils des SG zu ändern haben und die Beklagte unter Anwendung des § 48 Zehntes
Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) zur
Änderung des bereits vor dem Widerspruch gegen den Bescheid vom 20.10.2006 be-
standskräftig gewordenen Bescheids vom 21.6.2006 für März und Juni 2007 zu verurteilen
haben.


-5-

[Abs. 11] Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Revision zulässig. Nachdem der Senat mit Be-
schluss vom 21.2.2011 Wiedereinsetzung wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung der
Revision gewährt hat, kommt die Verwerfung der am 14.2.2011 eingelegten und zugleich be-
gründeten Revision als unzulässig wegen Fristversäumnis nicht in Betracht.



[Abs. 12] Andere von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel liegen nicht vor. Insbeson-
dere war der Landkreis W. , der den Widerspruchsbescheid erlassen hat, nicht nach § 75
Abs 2 1. Alt SGG (echte notwendige Beiladung) zum Verfahren beizuladen, weil er nicht Dritter
im Sinne der gesetzlichen Regelung ist (BSG SozR 4-3500 § 90 Nr 5 RdNr 11). Auch ein Fall
der unechten notwendigen Beiladung gemäß § 75 Abs 2 Satz 1 2. Alt SGG (mögliche Leis-
tungspflicht eines anderen Leistungsträgers) liegt nicht vor (vgl BSG aaO). Die fehlende un-
echte notwendige Beiladung hätte im Revisionsverfahren ohnehin gerügt werden müssen (vgl
Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 75 RdNr 13b mwN), was
vorliegend nicht geschehen ist.


[Abs. 13] Die (echte) notwendige Beiladung der AOK Rheinland/Hamburg als für die Klägerin zuständige
Krankenkasse war ebenfalls nicht erforderlich. Es liegt schon deshalb keine § 14 SGB IX unter-
fallende Konstellation vor, weil es sich zum einen bei der Kostenübernahme nach § 24a SGB V
nicht um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation im Sinne des SGB V handelt und zum
anderen dessen Voraussetzungen wegen Überschreitens der Altersgrenze ohnehin offensicht-
lich nicht erfüllt sind, sodass eine Leistungspflicht der AOK Rheinland/Hamburg aus-
geschlossen ist.


[Abs. 14] Der Kreis W. ist zwar sachlich und örtlich zuständiger Träger der Sozialhilfe (§§ 97 Abs 1,
98 Abs 1 SGB XII iVm § 3 Abs 2 Satz 1 SGB XII und §§ 1, 2 Landesausführungsgesetz zum
SGB XII für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16.12.2004 - Gesetz-
und Verordnungsblatt NRW 816 - iVm der Ausführungsverordnung zum SGB XII des
Landes NRW vom 16.12.2004 - GVBl NRW 717; vgl zur Auslegung der entsprechenden
landesrechtlichen Zuständigkeitsregelungen bei fehlender eigener Auslegung des LSG: BSGE
103, 39 ff RdNr 12 = SozR 4-2800 § 10 Nr 1) für den vorliegend allein in Betracht kommenden
Anspruch auf Erhöhung des Regelsatzes; dies gilt auch für die Hilfen zur Gesundheit und die
Eingliederungshilfe. Nach § 3 Abs 1 AG-SGB XII NRW können die Kreise aber als örtliche
Träger der Sozialhilfe kreisangehörige Gemeinden zur Durchführung der ihnen als Träger der
Sozialhilfe obliegenden Aufgaben durch Satzung heranziehen. Der Kreis W. hat dies getan
und den kreisangehörigen Städten und Gemeinden, zu denen die Beklagte gehört, die
Durchführung der ihm im Rahmen des SGB XII obliegenden Aufgaben zur Entscheidung im
eigenen Namen übertragen (§ 1 der Satzung über die Mitwirkung der Städte und Gemeinden
bei der Erfüllung der Aufgaben des Kreises W. als örtlicher Träger der Sozialhilfe vom
10.3.2005). Ausgenommen von der Übertragung sind nur die in § 2 der Satzung aufgeführten
Aufgaben, zu denen die hier streitbefangene Leistung nicht gehört.

-6-



[Abs. 15] Ob die Klägerin einen Anspruch auf höhere Grundsicherungsleistungen besitzt, kann nicht ab-
schließend beurteilt werden (dazu später). Zutreffend hat das LSG allerdings entschieden, dass
sich ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für die ärztlich verordneten empfängnisverhüten-
den Mittel aus § 49 Satz 2 SGB XII für die Klägerin nicht ergibt, weil sie das 20. Lebensjahr
bereits vollendet hat. Die entsprechende einschränkende Leistungsvoraussetzung folgt aus
§ 52 Abs 1 Satz 1 SGB XII (idF, die die Norm durch das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilfe-
rechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 - BGBl I 3022 - erhalten hat) iVm § 24a Abs 2
SGB V (idF, die die Norm durch das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21.12.1992 - BGBl I
2266 - erhalten hat). Ein Anspruch auf empfängnisverhütende Mittel, den Hilfebezieher nach
dem BSHG auf den gegenüber § 24a Abs 2 SGB V weiter gehenden § 37b Satz 2 Nr 2 BSHG
(eingeführt mit § 5 Nr 5 des Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechts-
reformgesetz vom 28.8.1975 - BGBl I 2289) bzw (ab dem 1.1.2001) auf § 36 BSHG (idF, die die
Norm durch Art 15 Nr 6 SGB IX vom 19.6.2001 - BGBl I 1046 - erhalten hat) stützen konnten,
besteht seit dem 1.1.2004 nicht mehr. Dies ergibt sich aus der historischen Entwicklung der
maßgeblichen Regelungen unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Ziels.



[Abs. 16] § 49 Satz 2 SGB XII geht zurück auf § 37b Satz 2 Nr 2 BSHG, der Teilregelung des zum
1.12.1975 (im Zuge der damaligen Reform des § 218 Strafgesetzbuch) in das BSHG unter
Abschnitt 3 "Hilfe in besonderen Lebenslagen" eingefügten Unterabschnitts 5a "Hilfe zur Famili-
enplanung" war (vgl § 5 Nr 5 des Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Straf-
rechtsreformgesetz). Während in der GKV lediglich Ansprüche auf ärztliche Beratung über Fra-
gen der Empfängnisregelung einschließlich der erforderlichen Untersuchung und Verordnung
von empfängnisregelnden Mitteln eingeräumt worden waren (vgl § 200e Reichsversicherungs-
ordnung , eingefügt mit § 1 Nr 2 dieses Gesetzes), die Kosten für empfängnisver-
hütende Mittel als solche für gesetzlich Krankenversicherte aber ausdrücklich der Eigenvor-
sorge unterfallen sollten (vgl BT-Drucks 7/376, S 5), ist § 37b BSHG weiter gefasst worden:
Neben den § 200e RVO entsprechenden Maßnahmen für nicht gesetzlich versicherte Sozial-
hilfebezieher (vgl § 37b Satz 2 Nr 1 BSHG) sollte als generelles, primäres Angebot eine Über-
nahme von Kosten für ärztlich verordnete empfängnisverhütende Mittel im Hinblick auf die fi-
nanzielle Lage sozialhilfebedürftiger Frauen geschaffen werden (vgl § 37b Satz 2 Nr 2 BSHG).
Maßnahmen der Familienplanung sollten nicht daran scheitern, dass von den Hilfesuchenden
die erforderlichen finanziellen Mittel nicht aufgebracht werden könnten (BT-Drucks 7/376, S 7;
im Einzelnen zum gesetzgeberischen Anliegen BVerwGE 96, 65, 66).



[Abs. 17] In der GKV besteht seit Inkrafttreten des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes vom
27.7.1992 (BGBl I 1398) zum 5.8.1992 für Versicherte ein Anspruch auf Versorgung mit emp-
fängnisverhütenden Mitteln zur Familienplanung, soweit sie jünger als 20 Jahre sind und das
Mittel ärztlich verordnet wird (vgl § 24a Abs 2 SGB V). Nach der Gesetzesbegründung ist von
§ 24a Abs 2 SGB V der Kreis der Frauen erfasst, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage, ins-
besondere weil sie sich noch in der Ausbildung befinden, am wenigsten in der Lage sind, die

-7-



Kosten für empfängnisverhütende Mittel selbst aufzubringen. Eine Heraufsetzung dieser Alters-
grenze sei wünschenswert; eine entsprechende Finanzierung müsse aber noch geklärt werden
(vgl BT-Drucks 12/2605, S 20). Danach sind keine Änderungen des § 24a SGB V in der Sache
erfolgt. § 37b Satz 2 Nr 2 BSHG ist demgegenüber nach Einführung von § 24a SGB V inhaltlich
unverändert geblieben, sodass sich für Hilfeempfänger nach dem BSHG (seit dem 1.1.2001 auf
Grundlage der entsprechenden Regelung in § 36 Satz 2 BSHG) ein gegenüber den Leistungen
der GKV weitergehender Anspruch ergab.



[Abs. 18] Diese Begünstigung Hilfebedürftiger nach dem BSHG ist indes zum 1.1.2004 entfallen. Seither
bestimmt § 38 Abs 1 Satz 1 BSHG (idF, die die Norm durch Art 28 Nr 4 Buchst c GMG erhalten
hat) und ihm folgend § 52 Abs 1 Satz 1 SGB XII (der entsprechend im Gesetzgebungsverfahren
des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch angepasst worden
ist), dass die Vorschriften des 4. Unterabschnitts der Hilfe in besonderen Lebenslagen nach
dem BSHG bzw des Fünften Kapitels des SGB XII dem Leistungsberechtigten einen Anspruch
auf Hilfe bei Krankheit nur entsprechend dem SGB V einräumen. Die zuvor enthaltene Erweite-
rung im 2. Halbsatz ("soweit in diesem Gesetz keine andere Regelung getroffen ist") ist zu die-
sem Zeitpunkt gestrichen worden. Der Senat hat bereits hinsichtlich der Zuzahlungsregelungen
der §§ 61, 62 SGB V entschieden, diese Gesetzesentwicklung lasse nur den Schluss zu, dass
die Übernahme finanzieller Eigenleistungen durch den Sozialhilfeträger auf Grundlage des § 37
BSHG (bis 31.12.2004) bzw § 48 SGB XII (ab 1.1.2005) ausscheide (BSGE 107, 169 ff
RdNr 12 = SozR 4-3500 § 28 Nr 6). Dies gilt auch hinsichtlich des Leistungsumfangs der
übrigen in §§ 47 bis 51 SGB XII geregelten Hilfen zur Gesundheit. § 24a Abs 2 SGB V trifft mit
dem Ausschluss für Versicherte nach Vollendung des 20. Lebensjahres und der Beschränkung
auf verordnungsfähige und ärztlich verordnete Kontrazeptiva eine solche Regelung zum
Leistungsumfang der GKV (dazu im Einzelnen Schütze in juris PraxisKommentar
SGB V, 2. Aufl 2012, § 24a RdNr 29). Damit scheidet eine Kostenerstattung von empfäng-
nisverhütenden Mitteln nach Vollendung des 20. Lebensjahres auch auf Grundlage des § 49
SGB XII aus (vgl: Söhngen in jurisPK-SGB XII, § 49 SGB XII RdNr 6 und 12; Bieritz-Harder in
Lehr- und Praxis Kommentar SGB XII, 9. Aufl 2012, § 49 SGB XII RdNr 1 und 3; Flint in
Grube/Wahrendorf, SGB XII, 4. Aufl 2012, § 49 SGB XII RdNr 7; Schlette in Hauck/Noftz,
SGB XII, K § 49 RdNr 1 und 9, Stand April 2010; Rücker in Linhart/Adolph,
SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 49 SGB XII RdNr 16, Stand Oktober 2010; U. Meyer in Oestreicher,
SGB II/SGB XII, § 49 SGB XII RdNr 9 und 19, Stand Juni 2006).



[Abs. 19] Hiergegen lässt sich nicht einwenden, die Änderung des § 38 Abs 1 Satz 1 BSHG zum
1.1.2004 beziehe sich nur auf die Streichung der Zuzahlungsregelungen in § 38 Abs 2 BSHG,
nicht aber auf die sonstigen Hilfen zur Gesundheit (so aber Böttiger, Sozialrecht aktuell 2008,
203 ff; ähnlich Lippert in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, § 49
SGB XII, RdNr 20, Stand Januar 2011). Aus der amtlichen Überschrift des § 38 BSHG nach
seiner Änderung wie der des § 52 SGB XII ("Leistungserbringung, Vergütung") folgt nicht, dass



-8-

hier ausschließlich die Leistungserbringung durch Bezugnahme auf das SGB V geregelt würde.
Schon aus § 52 Abs 1 Satz 2 SGB XII zu sog Satzungsregelungen der Krankenkassen lässt
sich erkennen, dass auch Umfang und Inhalt der Leistungen nach §§ 47 bis 51 SGB XII und
damit ebenso § 49 SGB XII erfasst sind. Die eigentliche Normierung der Leistungserbringung
findet sich in § 52 Abs 3 SGB XII.



[Abs. 20] Zwar ist die Änderung in § 38 Abs 1 Satz 1 BSHG mit dem GMG in den Gesetzesmaterialien
lediglich als "Folgeänderung" zur Streichung der Zuzahlungsregelungen in § 38 Abs 2 BSHG
bezeichnet. Mit der Änderung des gesamten Unterabschnitts und insbesondere der Einführung
des § 264 SGB V ("Quasiversicherung") war aber die Gleichstellung der Sozialhilfeempfänger,
die nicht in der GKV versichert sind, mit GKV-Versicherten nicht nur hinsichtlich der Zuzah-
lungsregelungen, sondern umfassend beabsichtigt (BT-Drucks 15/1525, S 77, und
insbesondere zu § 264 SGB V, aaO, S 140 ff). § 49 SGB XII hat damit allerdings - wie uU
weitere Teile der §§ 47 bis 51 SGB XII - schon seit Inkrafttreten des SGB XII für die Versichtern
und "Quasiversicherten" keine praktische Bedeutung mehr. Dass dieser Aspekt in den
Gesetzesmaterialien bei den Änderungen des BSHG keine Erwähnung findet und auch die
Folgeregelungen im SGB XII nicht eingehend erläutert werden (zu § 44 des Entwurfs, der § 49
SGB XII entspricht, vgl BT-Drucks 15/1514, S 62), lässt nicht den Schluss zu, es solle mit § 49
SGB XII weiterhin eine gegenüber dem SGB V günstigere Regelung für sozialhilfebedürftige
Frauen bestehen (H. Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 49
SGB XII RdNr 8).


[Abs. 21] Sinn und Zweck der Hilfen zur Gesundheit - und dabei auch der Hilfen zur Familienplanung -
steht dieses Ergebnis nicht entgegen. Entsprach noch bei Einführung des § 24a Abs 2 SGB V
eine weitergehende Kostenübernahme für Hilfebedürftige in § 37b BSHG dem gesetzgeberi-
schen Willen, lässt sich dies im Ergebnis der folgenden Gesetzesänderungen nicht mehr erse-
hen. Mit der Streichung des § 38 Abs 2 BSHG aF hat der Gesetzgeber des GMG zugleich be-
stimmt, dass der in der Regelsatzverordnung näher umschriebene Regelsatz auch Leistungen
für Kosten bei Krankheit, bei vorbeugender und bei sonstiger Hilfe umfasst, soweit sie nicht
nach den §§ 36 bis 38 des Gesetzes übernommen werden (Art 29 GMG; dazu bereits BSGE
107, 169 ff, RdNr 15 = SozR 4-3500 § 28 Nr 6). Dementsprechend sind bei der Sonderauswer-
tung der EVS 2003 die Positionen "Pharmazeutische Erzeugnisse", zu denen verschreibungs-
pflichtige Kontrazeptiva zählen, in vollem Umfang berücksichtigt (BR-Drucks 206/04, S 8). Auch
die Kosten, die nach Auswertung der EVS 2008 auf die Versorgung mit verschreibungspflich-
tigen Arzneimitteln entfallen, werden - zusätzlich zu den Kosten für nicht verschreibungspflich-
tige Arzneimittel (5,07 Euro) - in vollem Umfang, nämlich in Höhe von 3,57 Euro, als regelsatz-
relevant eingestellt (vgl BT-Drucks 17/3404 S 58 und S 140 Zeile 101 bis 105 Code 0611 bis
0612). Insgesamt sind damit seit dem 1.1.2011 rund 15,55 Euro als Kosten für Gesundheit im
Regelsatz enthalten. Neben der mit dem GMG zum Ausdruck gekommenen grundsätzlichen
Angleichung des Leistungsumfangs hinsichtlich der Hilfen zur Gesundheit nach dem

-9-



BSHG/SGB XII an den des SGB V zeigt damit auch die Neubemessung der Regelsätze zum
1.1.2005, dass die Beschaffung solcher verschreibungspflichtiger Medikamente, die nicht von
der GKV übernommen werden, der Eigenverantwortung der Hilfebedürftigen unterfällt und des-
halb die Regelsätze entsprechende Kosten umfassen. Aus den vom Senat dargestellten Grün-
den (vgl BSGE 107, 169 ff RdNr 15 = SozR 4-3500 § 28 Nr 6) rechtfertigen solche Kosten, die
- wie hier - die Kosten, die üblicherweise von Frauen für Empfängnisverhütung aufgebracht
werden, nicht überschreiten, für sich genommen keine Erhöhung des Regelsatzes (dazu im
Einzelnen später).



[Abs. 22] Mit dieser Auslegung ergibt sich entgegen der Auffassung der Klägerin keine gleichheitswidrige
Schlechterstellung gegenüber Frauen, die nach dem AsylbLG leistungsberechtigt sind. Soweit
sich der Leistungsumfang Leistungsberechtigter nach dem AsylbLG nicht ohnehin nach dem
SGB XII richtet (vgl § 2 Abs 2 AsylbLG), ist das System des AsylbLG, das durch ein Sachleis-
tungssystem gekennzeichnet ist (vgl § 3 Abs 1 Satz 1 AsylbLG), nicht mit dem des SGB XII
vergleichbar. Das Leistungssystem beruht gerade nicht auf der Bemessung nach Regelsätzen,
in die die Kosten für empfängnisverhütende Mittel eingeflossen sind.



[Abs. 23] Ein Anspruch nach § 73 SGB XII scheidet ebenfalls aus. Hiervon werden nur atypische ("be-
sondere" bzw "sonstige") Lebenslagen erfasst, für die nicht bereits andere Vorschriften des
SGB XII einschlägig sind (BSGE 107, 169 ff RdNr 13 mwN = SozR 4-3500 § 28 Nr 6). Da So-
zialhilfeempfänger - wie dargelegt - ab 1.1.2004 Kosten für empfängnisverhütende Mittel aus
den allgemeinen Regelsätzen zu bestreiten haben, sofern sie das 20. Lebensjahr vollendet
haben, bleibt für eine Anwendung des § 73 SGB XII kein Raum.



[Abs. 24] Auch ein Leistungsanspruch der Klägerin aus §§ 53, 54 Abs 1 SGB XII (in den Normfassungen
des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB XII) iVm 55 Abs 1 und 2 SGB IX
scheidet aus. Nach § 55 Abs 1 SGB IX, auf den § 54 Abs 1 SGB XII verweist, werden Leistun-
gen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erbracht, die dem behinderten Menschen die
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich
unabhängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 bis 6 nicht erbracht werden. Als sol-
che Leistungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (soziale Rehabilitation) kommt die
Kostenübernahme nicht in Betracht; denn nach den Feststellungen des LSG ist bereits nicht
erkennbar, dass über den allgemeinen Wunsch nach Empfängnisverhütung vor dem Hinter-
grund der klägerischen Lebensumstände hinaus durch eine Empfängnisverhütung spezifische
behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen wären, um der Klägerin eine Teilhabe am ge-
sellschaftlichen Leben zu ermöglichen.



[Abs. 25] Das LSG wird nach Zurückverweisung des Rechtsstreits allerdings einen Anspruch auf höhere
Leistungen der Grundsicherung zu überprüfen haben. Gemäß § 19 Abs 2 SGB XII (idF, die die
Norm durch das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom

- 10 -



27.12.2003 - BGBl I 3022 - erhalten hat) iVm § 41 Abs 1 und 3 SGB XII (in der Normfassung
des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur
Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20.4.2007
- BGBl I 554) erhalten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die das 18. Lebensjahr
vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert iS von
§ 43 Abs 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) sind
und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann,
auf Antrag Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die Anspruchs-
voraussetzungen für solche Leistungen dürften dem Grunde nach zwar gegeben sein - genaue
Feststellungen (auch zu § 21 SGB XII) fehlen. Ob die Klägerin einen Anspruch auf höhere
Grundsicherungsleistungen hat, kann mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des
LSG ohnedies nicht entschieden werden. Zu überprüfen ist, ob sich ein höherer Anspruch auf
der Grundlage einer unabweisbaren, erheblich vom durchschnittlichen Bedarf abweichenden
Bedarfslage ergibt (§ 28 Abs 1 Satz 2 iVm § 42 Satz 1 Nr 1 SGB XII; zur Anwendung des § 28
Abs 1 Satz 2 SGB XII im Rahmen der Grundsicherung vgl nur Blüggel in jurisPK-SGB XII, § 42
SGB XII RdNr 15 mwN zur Rechtsprechung; vgl auch die Klarstellung des § 42 Satz 1 Nr 1
SGB XII idF des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom
20.12.2012 - BGBl I 2783 - und BT-Drucks 17/10748, S 14 zu Nr 2). Dazu ist bislang weder er-
mittelt noch vorgetragen, weil die Beteiligten einen Anspruch lediglich unter anderen Aspekten
diskutiert haben. Zwar sind die Kosten für Kontrazeptiva - wie oben dargestellt - in die Bemes-
sung des Regelsatzes eingeflossen; es ist aber denkbar, dass durch individuell höhere Aus-
gaben im Bereich der Kosten für Gesundheit im Einzelfall eine erheblich abweichende, unab-
weisbare Bedarfslage in den Monaten März und Juni 2007 entstanden ist. Allein die Versorgung
mit Kontrazeptiva führte hierzu nicht, schon weil keine Abweichung vom Regelfall vorliegt.

[Abs. 26] Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Entscheidung bei Sozialgerichtsbarkeit.de

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BSG, B 8 SO 21/12 BH vom 14.01.2013, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss
in dem Rechtsstreit

Az: B 8 SO 21/12 BH
L 20 SO 44/11 (LSG Nordrhein-Westfalen)
S 5 SO 464/09 (SG Dortmund)

1. .................................,
2. .................................,

Kläger und Antragsteller,

g e g e n

Hochsauerlandkreis,
Am Rothaarsteig 1, 59929 Brilon,
Beklagter.

Der 8. Senat des Bundessozialgerichts hat am 14. Januar 2013 durch
den Vorsitzenden Richter E. sowie die Richterinnen K.
und S.
beschlossen:

Die Anträge der Kläger, ihnen für die Durchführung des Verfahrens der Beschwerde
gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-
Westfalen vom 20. August 2012 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechts-
anwalt beizuordnen, werden abgelehnt.

- 2 -

G r ü n d e :

I

[1] Im Streit sind höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
(Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe -
(SGB XII) von Oktober 2007 bis September 2010.

[2] Die 1936 bzw 1941 geborenen Kläger beziehen ergänzend zu ihrer jeweiligen Altersrente seit
Januar 2005 Grundsicherungsleistungen. Im April bzw Mai 2007 wandten sie sich an den
Beklagten und machten die Übernahme der Kosten für diverse Einzelpositionen wie auch die
Festsetzung eines höheren Regelsatzes in Höhe von 570 Euro monatlich pro Person geltend.
Die Klage ist erst- und zweitinstanzlich ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Dort-
mund vom 8.12.2010; Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom
20.8.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Klagen auf
Bewilligung einmaliger Leistungen in Höhe von 1450 Euro, einer Zahlung für zwei Hörgeräte in
Höhe von 2600 Euro sowie eines höheren Mietzuschusses seien bereits unzulässig. Teilweise
fehle es insoweit bereits an einer gerichtlich überprüfbaren Verwaltungsentscheidung der
Beklagten; im Übrigen handle es sich um eine unzulässige Klageerweiterung im Rahmen des
Berufungsverfahrens. Soweit die Kläger höhere Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung, eine einmalige Beihilfe für zwei Fahrräder sowie die Übernahme der auf
dem Girokonto entstandenen Sollzinsen begehren, sei die Berufung unbegründet. Der Beklagte
habe die den Klägern zustehenden Leistungen zutreffend berechnet. Höhere
Grundsicherungsleistungen stünden unter keinem (verfassungs-)rechtlichen Gesichtspunkt zu;
für die geltend gemachten Einzelbedarfe seien die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt.

[3] Zur Durchführung des beabsichtigten Beschwerdeverfahrens gegen die Nichtzulassung der
Revision im Urteil des LSG haben die Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH)
beantragt.

II

[4] Der Antrag auf Bewilligung von PKH ist nicht begründet. PKH ist nur zu bewilligen, wenn die
beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz iVm § 114 Zivilprozessordnung ); daran fehlt es hier.
Hinreichende Aussicht auf Erfolg wäre nur zu bejahen, wenn einer der drei in § 160 Abs 2 SGG
abschließend aufgeführten Zulassungsgründe durch einen zugelassenen Prozessbevollmäch-
tigten (§ 73 Abs 4 SGG) mit Erfolg geltend gemacht werden könnte; denn nur diese Gründe
können zur Zulassung der Revision führen. Ein solcher Zulassungsgrund ist nicht ersichtlich.

- 3 -

[5] Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG); denn sie
wirft keine Rechtsfrage auf, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit
oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig
ist (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17). Insbesondere soweit die Kläger geltend machen, der
Regelsatz sei zu gering, um auch im Alter menschenwürdig zu leben, liegt schon infolge der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 (BVerfGE 125, 175 ff) keine
Klärungsbedürftigkeit vor. Anhaltspunkte dafür, dass eine Divergenzrüge (§ 160 Abs 2 Nr 2
SGG) Aussicht auf Erfolg versprechen könnte, bestehen nicht. Die Kläger können sich
schließlich auch nicht auf einen Verfahrensmangel berufen, auf dem die angefochtene
Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG). Entgegen der Ansicht der
Kläger ist der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit eröffnet. Eine des Weiteren behauptete
fehlerhafte Beweiswürdigung durch das LSG (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) kann nach der
ausdrücklichen Regelung des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht Gegenstand einer
Nichtzulassungsbeschwerde sein. Auch mit der Behauptung, Teile des Vortrags seien nicht,
nicht zutreffend oder nur unzureichend gewürdigt worden, wenden sich die Kläger im Ergebnis
lediglich gegen die Beweiswürdigung wie auch die rechtliche Würdigung bestimmter
Sachverhalte durch das LSG. Zudem ist das Gericht nicht verpflichtet, sich mit jedem
Vorbringen in der Begründung seiner Entscheidung ausdrücklich zu befassen. Insbesondere ist
es nicht verpflichtet, auf sämtliche Tatsachen und Rechtsansichten einzugehen, die im Laufe
des Verfahrens zur Sprache gebracht worden sind (BVerfGE 96, 205, 217). Deshalb kann
regelmäßig ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz)
nicht angenommen werden, wenn das Gericht Ausführungen eines Beteiligten unerwähnt lässt,
die nach seinem Rechtsstandpunkt unerheblich oder offensichtlich haltlos sind (BVerfGE 70,
288, 293 f). Dies ist nur anders, wenn das Gericht Kernvortrag der Kläger außer Acht gelassen
hätte, den es auch ausgehend von seiner Rechtsansicht hätte beachten müssen. Dafür liegen
jedoch nach Aktenlage keine Anhaltspunkte vor.

[6] Mit der Ablehnung der PKH entfällt zugleich die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen
der PKH (§ 73a Abs 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).

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BSG, B 4 RA 131/98 B vom 27.01.1999, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Az: B 4 RA 131/98 B

Kläger und Beschwerdeführer,

Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Bundesversicherungsanstalt für Angestellte,

Ruhrstraße 2, 10709 Berlin,

Beklagte und Beschwerdegegnerin.

Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat am 27. Januar 1999 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. M., die Richter Dr. B. und
Dr. S. sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. S. und
T.

beschlossen:



Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil

des Landessozialgerichts für das Saarland vom 17. Juli 1998 wird zurückge-

wiesen.



Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.



- 2 -



Gründe:



I



Der Kläger, der den Beruf des Einzelhandelskaufmanns erlernt hat und vor Ausübung ei-

ner selbständigen Erwerbstätigkeit zuletzt bis zum Jahre 1988 als Geschäftsführer ab-

hängig beschäftigt war, begehrt im Rahmen des Hauptsacheverfahrens die Gewährung

einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit. Das Landessozialgericht (LSG) hat das

in vollem Umfang zusprechende erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abge-

wiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen folgendes ausgeführt: Das Bundessozi-

algericht (BSG) habe zur Bestimmung der Wertigkeit des bisherigen Berufs für

Angestellte die folgenden Gruppen gebildet:

-unausgebildete Angestellte (Ungelernte)

-Angestellte mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren (Angelernte)

-Angestellte mit längerer Ausbildung, regelmäßig von drei Jahren (Ausge-

bildete) und

-Angestellte mit hoher beruflicher Qualität.

Ausgehend von diesen Kriterien sei der Kläger der Gruppe der Angestellten mit längerer

Ausbildung zuzuordnen und könne daher unter Berücksichtigung der festgestellten Lei-

stungseinschränkungen zumutbar noch auf Tätigkeiten der Anlernebene (hier: Angestell-

ter in der Registratur und im Archiv) verwiesen werden.



Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit der

vorliegenden Nichtzulassungsbeschwerde und beruft sich zur Begründung seines Rechts-

mittels insbesondere auf eine Abweichung des Berufungsurteils von der Rechtsprechung

des BSG. Das LSG habe das von diesem im Bereich der Angestelltenversicherung zu-

grunde gelegte Sechs-Stufen-Schema undifferenziert zusammengefaßt und nur lücken-

haft angewandt. Dadurch sei es zu einer für den Kläger ungünstigen Bewertung seines

bisherigen Berufs und einer unzutreffenden bzw unzumutbaren Verweisung auf eine

Tätigkeit im Anlernbereich gekommen.



II



Die auf den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz

) gestützte Beschwerde des Klägers ist zulässig, aber unbegründet (vgl zur Unter-

scheidung in Fällen der vorliegenden Art Bundesverfassungsgericht vom

1. Oktober 1997, 1 BvR 454/95, LKV 1998, 141 f = ZBR 1998, 168 ff). Das Berufungsge-

richt hat zwar die vom Senat in Konkretisierung des einschlägigen Gesetzesrechts formu-



- 3 -



lierten Obersätze im Einzelfall unzutreffend angewandt, seiner Entscheidung aber keinen

eigenen - von der oberstgerichtlichen Rechtsprechung abweichenden - abstrakten

Rechtssatz zugrunde gelegt und den Aussagen des BSG entgegengehalten.



Weder Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) noch das allgemeine Rechtsstaatsprinzip - und

ebensowenig das Sozialstaatsprinzip - gewährleisten einen Instanzenzug (BVerfG, Be-

schluß vom 19. Februar 1992, 1 BvR 1935/91 in SozR 3-1500 § 160 Nr 6 mH auf

BVerfGE 4, 74, 94 f; 8, 174, 181 f; 11, 232, 233; ebenso BVerfGE 28, 21, 36). Insbeson-

dere ist es demgemäß auch nicht geboten, stets das Rechtsmittel der Revision zu eröff-

nen (BVerfGE 19, 323). Kann aber das Gesetz den Zugang zur Revisionsinstanz voll-

ständig versperren, kann es die Zulassung des Rechtsmittels im Rahmen der normativen

Ausgestaltung durch die jeweilige Prozeßordnung, deren Art 19 Abs 4 GG ohnehin stets

bedarf (BVerfGE 60, 253, 268, 269), grundsätzlich auch von formalen und inhaltlichen

Voraussetzungen abhängig machen. Das Institut der Revision ist daher eine nach ge-

setzgeberischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen geformteprozessuale Einrichtung

(BVerfGE 49, 148, 160), bei deren Gestaltung ein Verlust an Chancen zur Realisierung

materieller Gerechtigkeit im Einzelfall grundsätzlich in Kauf genommen werden kann

(BVerfGE 60, 253, 268). Eine äußerste Grenze der Auslegung einschlägiger gesetzlicher

Vorschriften besteht von Verfassungs wegen lediglich insofern, als einfachgesetzlich er-

öffnete Möglichkeiten, ein Rechtsmittel einzulegen bzw seine Zulassung zu erstreiten,

nicht in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise be-

schränkt werden dürfen (vgl BVerfGE 10, 264, 268, ständige Rechtsprechung; zuletzt

etwa BVerfG in NVwZ 1994, Beilage 4, 27 = BayVBl 1994, 530; speziell zur Nichtzulas-

sungsbeschwerde im SGG-Verfahren BVerfG in SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10).

Das BSG fungiert als eines der fünf obersten Bundesgerichte (Art 96 Abs 1 GG) grund-

sätzlich als höchstes Rechtsmittelgericht innerhalb seines Gerichtszweiges (vgl BVerfGE

8, 174, 177; BT-Drucks V/1449, S 3, 4 und Leibholz/Rinck/Hesselberger, Kommentar zum

Grundgesetz, Art 95 GG RdNr 11; Bettermann, JZ 1958, 235 ff mwN). Seine Aufgabe be-

steht demgemäß neben der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen gerichtlichen Ver-

fahrens im wesentlichen in der Einheit und Fortbildung des materiellen Bundes- bzw des

in § 162 SGG ausdrücklich aufgeführten Landesrechts (vgl BVerfGE 10, 285, 295;

BT-Drucks 7/861, S 10; BT-Drucks 7/2024, S 3). Nur innerhalb dieses öffentlichen Anlie-

gens und der vornehmlich hieran orientierten Ausgestaltung der Revision kann das Indivi-

dualinteresse an der Beseitigung und Ersetzung unrichtiger Instanzentscheidungen zum

Zuge kommen: Es dient als unverzichtbar notwendiges Vehikel der Klärung des abstrak-

ten Rechts und hat nur insofern und insoweit, als hieran ein unabweisbarer Bedarf be-

steht, Anspruch auf die hieraus für den konkreten Sachverhalt zu erteilende Antwort.

Dem entspricht äußerlich die doppelte Notwendigkeit von (ggf im Wege der Beschwerde

erkämpfter) Zulassungsentscheidung und Einlegung der Revision, inhaltlich ihre Abhän-



- 4 -



gigkeit vom tatsächlichen Vorliegen der im Gesetz enumerativ aufgeführten Zulassungs-

gründe. Die Beschwerde nach § 160a SGG gegen die vom Berufungsgericht verweigerte

Zulassung der Revision dient in diesem Zusammenhang allein der Herbeiführung der

Statthaftigkeit des Rechtsmittels in der Hauptsache durch Klärung und Feststellung eines

im öffentlichen Interesse liegenden Entscheidungsbedarfs im Zusammenhang eines

sachlich allenfalls nach Zulassung und zulässiger Einlegung der Revision zu beurteilen-

den Tatbestandes. Sie hat damit weder eine originäre Sachentscheidung noch eine auf

die Sachentscheidung der Vorinstanz bezogene Rechtsmittelentscheidung zum Ziel, son-

dern betrifft ausschließlich die hiervon gänzlich unabhängig zu beantwortende Frage, ob

das Berufungsgericht zutreffend die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision ver-

neint hat (BVerwGE 34, 40, 41 f). Der Beschwerdeführer wird unter diesen Umständen

auf dem "schmalen Weg zum Revisionsgericht" (vgl Baring, Die Nichtzulassungsbe-

schwerde im Verwaltungsgerichtsverfahren, NJW 1965, 2280) gezwungenermaßen in die

Rolle eines Anwalts öffentlicher Belange gedrängt.



Die genannten Gegebenheiten eröffnen den Kontext, in dem die hier allein in Frage ste-

henden Nrn 1 und 2 des § 160 Abs 2 SGG sowie die hierzu bzw zu § 160a SGG ergan-

gene Rechtsprechung zu sehen sind. Eine "grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache"

liegt demgemäß im besonderen Zusammenhang der Eröffnung des Zugangs zur Revi-

sionsinstanz (vgl BSGE 2, 45, 47 f; BVerwGE 70, 24, 25) nur dann vor, wenn sie dazu

zwingt, im Interesse der Fortbildung des Rechts oder seiner einheitlichen Auslegung eine

Rechtsfrage zum revisiblen Recht zu klären. Die Rechtsfrage muß hierzu einerseits zu

einer aufgrund ihrer Bedeutung für die Sicherung oder Erhaltung der Rechtseinheit bzw

die Fortbildung des Rechts über den Einzelfall hinausgehenden Entscheidung führen

(BSG in SozR 1500 § 160a Nrn 7 und 31), darf aber andererseits nicht nur abstrakt von

Interesse sein (vgl BFH vom 28. April 1972, III B 40/71, BFHE 105, 335), sondern muß

gerade im konkreten Fall tragend entscheidungserheblich und klärungsfähig sein. Auf-

grund dieser Vorbedingungen ist gleichzeitig für das Revisionsverfahren sichergestellt,

daß die oberstgerichtliche Rechtsprechung ihrer Funktion entsprechend über die streitige

Entscheidung des jeweils zur Entscheidung stehenden Einzelfalles hinaus stets auch ih-

rerseits verallgemeinerungsfähige Aussagen zum Inhalt der von ihr nach § 162 SGG an-

zuwendenden Rechtssätze trifft.



Ist ein Rechtsproblem auf diese Weise beantwortet, verbleibt dem Revisionsgericht abge-

sehen von den Ausnahmefällen des Auftretens erneuter Klärungsbedürftigkeit und sich

hieraus ggf abermals ergebender grundsätzlicher Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1

SGG (vgl etwa BSG in SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 13 und BFHE 97, 281 ff,

284 mwN) im wesentlichen nur die Sicherung der Rechtseinheit. Weder der allein auf die

Bewahrung einer Übereinstimmung auf abstrakt-genereller Ebene beschränkte Aufga-

benbereich des BSG noch der funktionelle Anwendungsbereich der Nichtzulassungsbe-

schwerde, deren Gegenstand wie dargestellt gerade nicht die Kontrolle sachlicher



- 5 -



Rechtsfehler ist, sind indessen bereits dann eröffnet, wenn Instanzgerichte im Einzelfall

eine Entscheidung treffen, die mit den Vorgaben der oberstgerichtlichen Rechtsprechung

nicht übereinstimmt (vgl BSG in SozR 1500 § 160a Nr 7; BVerwG in Buchholz 310 § 108

VwGO Nr 266; BFHE 129, 313). Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall,

sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Re-

vision wegen Abweichung (BSG in SozR 1500 § 160a Nr 67). Vielmehr weicht das LSG

nur dann iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG als spezialgesetzlich geregeltem Unterfall der Zu-

lassung wegen grundsätzlicher Bedeutung (vgl BVerwG in Buchholz 310 § 132 Abs 2

Ziff 2 VwGO Nr 2) von einer Entscheidung ua des BSG ab, wenn es auch seinerseits zu-

mindest sinngemäß und in scheinbar fallbezogene Ausführungen gekleidet (BSG in SozR

1500 § 160 Nr 28; BAG AP Nr 9 zu § 72a ArbGG 1979 Divergenz) einen abstrakten

Rechtssatz aufstellt, der der zum selben Gegenstand gemachten und fortbestehend aktu-

ellen - nicht also etwa von der zwischenzeitlichen Gesetzes- oder Rechtsprechungsent-

wicklung überholten (BSG in SozR 1500 § 160a Nrn 58, 61) - abstrakten Aussage des

BSG entgegensteht und dem Berufungsurteil tragend zugrunde liegt (BSG in SozR 1500

§ 160a Nr 67; BAG in AP § 72a ArbGG 1979 Nrn 1, 2, 10). Hieran fehlt es im vorliegen-

den Fall.



Der Kläger hat zwar den im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu stellenden Anforderun-

gen (vgl BAG AP § 72a ArbGG 1979 Nr 9) genügend in ausreichendem Umfang darge-

legt, daß den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils aus seiner Sicht zwingend ein

divergierender abstrakter Rechtssatz zu entnehmen sei. Indessen ergibt eine sachliche

Überprüfung dieser Behauptung, daß das LSG die "Rechtsprechung des Bundessozialge-

richts", lediglich im dort entschiedenen Einzelfall unzutreffend angewandt hat.



Zur Gewährleistung einer zuverlässigen Abgrenzung von den Fällen einer fehlerhaften

Rechtsanwendung erfordert die Anwendung von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG stets unverzicht-

bar, daß das LSG selbst zweifelsfrei in den Gründen seiner Entscheidung wenigstens

mittelbar und (im Ergebnis) eindeutig einen Rechtssatz aufstellen wollte (BVerfG in NJW

1996, S 45 mwN; BAG AP § 72a ArbGG 1979 Divergenz Nr 15). Hieran fehlt es evident

bereits immer dann, wenn das LSG eine Rechtsfrage übersehen (BVerwG in Buchholz

310 § 132 VwGO Nr 147) oder Tatsachen anders beurteilt hat, als dies in der angezoge-

nen Entscheidung geschehen ist (BVerwG in Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 128; BFHE

129, 313). Die genannte Voraussetzung kann aber auch nicht bereits dann angenommen

werden, wenn sich ein abstrakter Obersatz erst nachträglich aus der Sicht eines kundigen

Lesers logisch induktiv aus der Urteilsbegründung ableiten läßt (vgl BAG AP § 72a ArbGG

1979 Nrn 11, 13); andernfalls läge bei falscher Rechtsanwendung und Vorliegen einer

einschlägigen Entscheidung des BSG oder des BVerfG stets eine Divergenz vor. Eine mit

Hilfe der Revisionszulassung zu beseitigende Gefährdung der Rechtseinheit ist vielmehr

nur und erst dann zu befürchten, wenn die Ausführungen des Berufungsurteils unzwei-

felhaft die Deduktion des gefundenen Ergebnisses aus einem sich aus der Entscheidung



- 6 -



selbst wenigstens schlüssig ergebenden Rechtssatz, den das LSG als solchen auch

tatsächlich vertreten wollte (BVerfG und BAG aaO), erkennen lassen. Dies ist insbe-

sondere nicht der Fall, wenn sich das angefochtene Urteil - wie hier - auf den Boden "der

Rechtsprechung des Bundessozialgerichts" stellt und damit (nach dem Sachzusammen-

hang eindeutig) die Rechtssätze benennt, auf die es sich stützen will, dann aber unmittel-

bar anschließend dessen Aussagen zum - auf sechs Hauptstufen begrenzten - sog Mehr-

stufenschema (vgl Urteil des Senats in SozR 3-2600 § 43 Nr 13, 14) nur bruchstückhaft

wiedergibt.



Mißversteht das Berufungsgericht in dieser Weise einen Rechtssatz, dem es erkennbar

zu folgen gewillt war, und subsumiert es dementsprechend den von ihm festgestellten

Sachverhalt fehlerhaft (oder geht es zwar von einem zutreffenden Verständnis des Ober-

satzes aus, ordnet aber dennoch den von ihm festgestellten Sachverhalt unrichtig zu),

handelt es zwar im Einzelfall fehlerhaft, gefährdet aber - worauf es im vorliegenden Zu-

sammenhang allein ankommt - nicht die Rechtseinheit.



Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

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BSG, B 4 AS 69/10 S vom 20.07.2010, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss
in dem Rechtsstreit

Az: B 4 AS 69/10 S

L 7 AS 404/10 B ER (Bayerisches LSG)
S 10 AS 254/10 ER (SG Landshut)


1.
2.
3.
Antragsteller und Beschwerdeführer,



gegen



Arbeitsgemeinschaft für Grundsicherung für Arbeitsuchende Region Passau-Land,
Spitalhofstraße 37a, 94032 Passau,
Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin.



Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat am 20. Juli 2010 durch die
Richterin S. K. als Vorsitzende sowie die Richterinnen

B. und H.
beschlossen:


Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts
vom 25. Juni 2010 - L 7 AS 404/10 B ER - wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.


- 2 -

Gründe:


[Abs. 1]
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die vorläufige Ge-
währung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Antrag-
stellerin zu 1 hat mit einem von ihr verfassten Schreiben vom 6.7.2010 gegen den
vorgenannten Beschluss ausdrücklich Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Mit dieser
Entscheidung hat das Bayerische LSG die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss
des SG Landshut vom 21.5.2010 - S 10 AS 254/10 ER - zurückgewiesen.



[Abs. 2]
Die Beschwerde der Antragsteller ist unzulässig. Der Beschluss des LSG vom 25.6.2010 ist,
worauf das LSG in der Entscheidung zutreffend hingewiesen hat, gemäß § 177 SGG nicht mit
der Beschwerde an das BSG anfechtbar.



[Abs. 3]
Die Verwerfung des Rechtsmittels der Antragsteller erfolgt ohne Beteiligung der ehrenamtlichen
Richter in entsprechender Anwendung des § 169 SGG.



[Abs. 4]
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

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BSG, B 4 AS 59/12 B vom 10.05.2012, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss
in dem Rechtsstreit

Az: B 4 AS 59/12 B
L 6 AS 299/11 (LSG Nordrhein-Westfalen)
S 23 (30) AS 403/08 (SG Dortmund)

Klägerin und Beschwerdeführerin,

gegen

Jobcenter Olpe,
Franziskanerstraße 6, 57462 Olpe,

Beklagter und Beschwerdegegner.

Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat am 10. Mai 2012 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. V. sowie die Richterinnen
S. K. und B.


beschlossen:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des
Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Januar 2012 - L 6 AS 299/11 -
wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:


[Abs 1] Unter den Beteiligten ist ein Anspruch der Klägerin auf Grundsicherungsleistungen nach dem
SGB II für die Zeit von Januar 2007 bis August 2008 streitig. Das SG Dortmund hat die Klage
mit Urteil vom 13.12.2010 abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin hat das
LSG Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 19.1.2012 zurückgewiesen. Gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem vorbezeichneten, ihr am 3.3.2012 zugestellten, Urteil hat die Klägerin mit
einem von ihr selbst verfassten Schreiben vom 2.4.2012 ausdrücklich Beschwerde eingelegt.

[Abs 2] Die Beschwerde ist nach § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG durch Beschluss ohne
Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht innerhalb der
am 3.4.2012 abgelaufenen einmonatigen Frist durch einen Prozessbevollmächtigten eingelegt
worden ist (§ 160a Abs 1, § 64 Abs 2 S 1 SGG). Sie entspricht damit auch nicht der
gesetzlichen Form, weil sie nicht wirksam durch einen vor dem BSG zugelassenen
Prozessbevollmächtigten eingelegt worden ist (§ 73 Abs 4 SGG). Hierauf ist die Klägerin in der
Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils hingewiesen worden.

[Abs 3] Eine von der Klägerin ebenfalls beabsichtigte Revision ist nicht statthaft, da das LSG die Revi-
sion in seinem Urteil ausdrücklich nicht zugelassen hat und ein die Revision zulassender Be-
schluss des BSG (§ 160a Abs 4 S 2 SGG) nicht vorliegt.

[Abs 4] Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

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BSG, B 2 U 396/02 B vom 14.02.2003, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss

in dem Rechtsstreit

Az: B 2 U 396/02 B

Kläger und Beschwerdegegner,

Prozessbevollmächtigte:

gegen

Unfallkasse Sachsen-Anhalt,
Käsperstraße 31, 39261 Zerbst,

Beklagte und Beschwerdeführerin.

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat am 14. Februar 2003 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. B. sowie die Richter K.
und B.

beschlossen:

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des
Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. September 2002 wird als unzulässig
verworfen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren
zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

Die gegen die Nichtzulassung der Revision im angefochtenen Urteil des Landessozialge-
richts (LSG) gerichtete, auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und
des Verfahrensmangels gestützte Beschwerde ist unzulässig. Die dazu gegebene Be-
gründung entspricht nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialge-
richtsgesetzes (SGG) festgelegten Form. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bun-
dessozialgerichts (BSG) erfordern diese Vorschriften, dass der Zulassungsgrund schlüs-
sig dargetan wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 34, 47 und 58; vgl hierzu auch
Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Aufl, 2002, IX,
RdNr 177 und 179 mwN). Daran mangelt es hier.

Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche
Bedeutung hat. In der Beschwerdebegründung muss nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG
diese grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aufgezeigt werden. Hierzu ist zunächst
darzulegen, welcher konkreten abstrakten Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beige-
messen wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 11). Denn die Zulassung der Revision erfolgt
zur Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen und nicht zur weiteren Entscheidung des
Rechtsstreits. Die abstrakte Rechtsfrage ist klar zu formulieren, um an ihr die weiteren
Voraussetzungen für die begehrte Revisionszulassung nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG prü-
fen zu können (Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 181). Dazu ist erforderlich, dass ausge-
führt wird, ob die Klärung dieser Rechtsfrage grundsätzliche, über den Einzelfall hinaus-
gehende Bedeutung hat. Insbesondere hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass die
Rechtsfrage klärungsbedürftig, also zweifelhaft, und klärungsfähig, mithin rechtserheblich
ist, so dass hierzu eine Entscheidung des Revisionsgerichts zu erwarten ist (BSG SozR
3-1500 § 160 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16). Zur Klärungsfähigkeit gehört auch,
dass die Rechtsfrage in einem nach erfolgter Zulassung durchgeführten Revisionsverfah-
ren entscheidungserheblich ist (BSG Beschluss vom 11. September 1998 - B 2 U
188/98 B -).

Die Klärungsbedürftigkeit ist zu verneinen, wenn die Rechtsfrage bereits höchstrichterlich
beantwortet ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 51; BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65)
oder wenn die Antwort unmittelbar aus dem Gesetz zu ersehen ist (BSG SozR 1300 § 13
Nr 1), wenn sie so gut wie unbestritten ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17), wenn sie prak-
tisch außer Zweifel steht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 4) oder wenn sich für die Antwort in
anderen Entscheidungen bereits ausreichende Anhaltspunkte ergeben (BSG SozR 3-
1500 § 146 Nr 2 und § 160 Nr 8; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990,
RdNr 117; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 66). Die Klärungsbedürftigkeit ist schließlich
nicht gegeben, wenn die Rechtsfrage nicht mehr geltendes Recht betrifft und nicht er-
kennbar wird, dass noch eine erhebliche - genau zu bezeichnende - Anzahl von Fällen

- 3 -

nach diesen Vorschriften zu entscheiden sind (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 19; Be-
schlüsse des Senats vom 15. September 1986 - 2 BU 104/86 -, vom 23. August 1996
- 2 BU 149/96 -, vom 26. Oktober 1998 - B 2 U 252/98 B - nachfolgend Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 2000 - 1 BvR 2198/98 - sowie vom 29. April
1999 - B 2 U 178/98 B - HVBG-Info 1999, 2943; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 187)
oder dass die Rechtsfrage für das neue Recht weiterhin von Bedeutung ist (BSG SozR
1500 § 160a Nr 58; Beschlüsse des BSG vom 26. November 1996 - 3 BK 4/96 -,
31. März 1999 - B 7 AL 170/98 B - und 6. Mai 1999 - B 11 AL 209/98 B -).

Die Beklagte hält die Frage für eine grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage, "ob Strafge-
fangene während des Arbeitseinsatzes zu DDR-Zeiten zum Kreis der in der Sozialver-
sicherung der ehemaligen DDR versicherten Personen gehörten und Unfälle beim Ar-
beitseinsatz entsprechend Arbeitsunfälle nach DDR-Recht waren, oder ob sich unabhän-
gig von dieser Frage bereits aus §§ 6 Abs 2, 3 und 38 StVG ergibt, dass Unfälle von
Strafgefangenen während des Arbeitseinsatzes zu DDR-Zeiten als Arbeitsunfälle nach
den Vorschriften der ehemaligen DDR zu werten waren, mit der Folge, dass im Rahmen
des doppelten Prüfrechts entsprechende Unfälle auch nach dem Recht des Dritten
Buches der RVO zu entschädigen sind". Diese Frage habe über den Einzelfall hinausge-
hende Bedeutung, da allein bei ihr - der Beklagten - noch zahlreiche Parallelfälle anhän-
gig seien. Die aufgezeigte Frage sei klärungsbedürftig, weil das BSG zu diesem
Problemkreis bisher noch nicht Stellung genommen habe. Ihre Beantwortung ergebe sich
auch nicht zweifelsfrei aus dem Gesetz selbst. Sie sei schließlich in einem anschließen-
den Revisionsverfahren auch klärungsfähig und entscheidungserheblich.

Die Beschwerdebegründung der Beklagten entspricht nicht den dargestellten besonderen
Anforderungen an die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechts-
frage. Entgegen der bloßen Behauptung der Beklagten steht die Beantwortung der
Rechtsfrage praktisch außer Zweifel, weil sie sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Der
Unfall des Klägers vom 27. Dezember 1985 während eines Arbeitseinsatzes im Rahmen
seiner Strafhaft war Arbeitsunfall der Sozialversicherung der DDR. Durch das Strafvoll-
zugsgesetz der DDR (StVG) vom 7. April 1977 (GBl I Nr 11 S 109) wurde ein Unfallver-
sicherungsschutz während der Haft eingeführt. Dies ergibt sich eindeutig aus den vom
LSG angezogenen Vorschriften der §§ 6 und 38 StVG (vgl Beschluss des Thüringer LSG
vom 25. Februar 2002 - L 1 U 92/01 - HVBG-Info 2002, 2053). Die unter Hinweis auf die
Rechtsauffassungen der für die Strafgefangenen zuständigen Unfallversicherungsträger
in den Ländern Sachsen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern durch die Beklagte ver-
tretene gegenteilige Auffassung erschließt sich dem Senat weder aus den Ausführungen
in ihrer Beschwerdebegründung noch aus ihren Schriftsätzen im Berufungsverfahren.

- 4 -

Soweit die Beklagte als Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend macht,
das LSG hätte ihrem Vertagungsantrag entsprechen müssen und nicht entscheiden dür-
fen, hat sie diesen Verfahrensfehler nicht schlüssig dargelegt. Ihrem weiteren Vorbringen
ist zu entnehmen, dass einer ihrer Mitarbeiter auf telefonische Anfrage des LSG der Ent-
scheidung nach einer Verhandlung ohne Beteiligung der Beklagten zugestimmt habe und
hilfsweise den Antrag gestellt habe, die Revision zuzulassen. Zwar macht die Beklagte
weiter geltend, der betreffende Mitarbeiter sei mit dem Prozessstoff überhaupt nicht ver-
traut gewesen. Sie hat indes weiter weder vorgetragen, dass dieser Mitarbeiter zur Ab-
gabe der zitierten Erklärung nicht befugt gewesen sei, noch dass dem entscheidenden
Senat des LSG dieser Umstand bekannt gewesen sei.

Die Beschwerde war daher als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbs 2
iVm § 169 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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BSG, B 1 KR 63/11 B vom 21.09.2011, Bundessozialgericht
Seite 1

1 BUNDESSOZIALGERICHT
2 Beschluss

3 in dem Rechtsstreit

4 Az.: B 1 KR 63/11 B
5 L 5 KR 347/10 (Bayerisches LSG)
6 S 2 KR 346/09 (SG Regensburg)

7
8 ...
9 Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer

10 Prozessbevollmächtigte
11 …

12 gegen

13 ...-Krankenkasse
14 ...

15 Beklagte und Beschwerdegegnerin

16 Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 21. September 2011 durch
17 den Präsidenten M... sowie die Richterin Dr. R... und den
18 Richter Dr. E...
19 beschlossen:

20 Der Antrag des Klägers, ihm für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der
21 Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Juni 2011 Prozesskosten-
22 hilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin ... , zu gewähren, wird
23 abgelehnt.

Seite 2

1 Gründe:

I.
2 [Abs. 1] Der bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Kläger ist mit seinem Begehren, Kostenerstat-
3 tung für die (wiederholte) Entfernung harter und weicher Zahnbeläge im Jahr 2008 zu erhalten
4 und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, medizinisch ausreichende Leistungen zur
5 Zahnbelagentfernung zu erbringen, in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG. hat ua
6 ausgeführt, der Sachleistungsanspruch sei nach Nr 107 Bema-Z auf die einmalige Entfernung
7 harter Zahnbeläge pro Kalenderjahr begrenzt (Urteil vom 28.6.2011).

8 [Abs. 2] Der Kläger begehrt die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung seiner
9 Rechtsanwältin für seine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

II.

10 [Abs. 3] Der Antrag des Klägers ist abzulehnen, da er keinen Anspruch auf PKH unter Beiordnung eines
11 Rechtsanwaltes hat. Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm 5 114, 5 121 ZPO kann einem bedürfti-
12 gen Beteiligten für das Beschwerdeverfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt und ein
13 Rechtsanwalt beigeordnet werden, wenn — ua - die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende
14 Aussicht auf Erfolg bietet. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

15 [Abs. 4] Der Kläger kann aller Voraussicht nach mit seinem Begehren auf Zulassung der Revision nicht
16 durchdringen. Nach Durchsicht der Akten fehlen - auch unter Würdigung des Vorbringens des
17 Klägers - Anhaltspunkte dafür, dass er einen der in § 160 Abs 2 Nr1 bis 3 SGG abschließend
18 aufgeführten Zulassungsgründe darlegen könnte.

19 [Abs. 5] 1. Die Sache bietet weder Hinweise für eine über den Einzelfall des Klägers hinausgehende
20 grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache noch ist ersichtlich, dass das LSG entscheidungs-
21 tragend von der Rechtsprechung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abgewichen sein
22 könnte (Zulassungsgründe des § 160 Abs 2 Nr 1 und Nr2 SGG). Insbesondere zu der sich hier
23 stellenden Rechtsfrage nach dem Umfang einer Zahnreinigung als Leistung der GKV hat der
24 erkennende Senat grundlegend am 21.6.2011 entschieden: Nach den Richtlinien für eine aus-
25 reichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (idF vom
26 4.6./24.9.2003, BAnz Nr 226 vom 3.12.2003 S 24966, zuletzt geändert durch Beschluss vom
27 1.3.2006; BAnz Nr 111 vom 17.6.2006 S 4466) gehören als sonstige Behandlungsmaßnahmen
28 nach B.Vl.1. zur vertragszahnärztlichen Versorgung das Entfernen von harten verkalkten Be—
29 lägen und die Behandlung‘von Erkrankungen der Mundschleimhaut. Leistungen können Ver-
30 sicherten als Naturalleistungen nur dann von einem Vertragszahnarzt zu Lasten der GKV er-

Seite 3

1 bracht und abgerechnet werden, wenn sie im Bema-Z (hier Nr 107) aufgeführt sind. Eine grund-
2 rechtsorientierte Leistungsausweitung kann nur bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig töd-
3 lichen oder wertungsmäßig hiermit vergleichbaren Erkrankungen in Betracht gezogen werden
4 (BSG Urteil vom 21.6.2011 - B 1 KR 17/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Ange-
5 sichts der vorhandenen und im Volltext in juris vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist ver-
6 öffentlichten höchstrichterlichen Rechtsprechung ist nicht ersichtlich, dass weiterer Klärungs-
7 bedarf aufgezeigt werden kann (vgl. Kummer Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010,
8 RdNr 316 mwN).

9 [Abs. 6] 2. Auch bestehen keine Anhaltspunkte, dass der Kläger einen die Revisionszulassung recht-
10 fertigenden Verfahrensfehler des LSG bezeichnen könnte (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2
11 Nr 3 SGG). Allerdings ist die Vorinstanz insbesondere dem in der mündlichen Verhandlung
12 gestellten Antrag auf Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zur
13 erhöhten Notwendigkeit der Zahnbelagsentfernung beim Kläger nicht nachgekommen. Auf die
14 Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) kann eine Nichtzulassungsbeschwerde
15 indes nur gestützt werden, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne
16 hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Das LSG hat die Beweiserhebung zur medizinischen
17 Notwendigkeit zwar alleine mit dem Hinweis auf Nr 107 Bema-Z abgelehnt. Der anwaltlich ver-
18 tretene Kläger hat jedoch lediglich unter Bezug auf eine wissenschaftliche Stellungnahme zur
19 Zahnsanierung vor und nach Organtransplantationen „ein erhöhtes Risiko einer bakteriellen Infek-
20 tion nach der Organtransplantation“ geltend gemacht. Hiervon ausgehend wird sich mangels
21 durchgreifender Hinweise auf eine grundrechtsorientierte Leistungsausweitung nicht schlüssig
22 aufzeigen lassen, dass weitere Ermittlungen von Amts nahe gelegen hätten (hierzu vgl Meyer-
23 Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 103 RdNr 8 mwN). Im Übrigen wird mit Blick auf
24 die Hauptanträge (Kostenerstattung trotz fehlender Einhaltung des Beschaffungswegs und Fest-
25 stellung trotz Subsidiarität) voraussichtlich auch nicht dargelegt werden können, dass die Ent-
26 scheidung der Vorinstanz auf einem Verfahrensfehler beruht.

27 M Dr. E Dr R

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EGMR 20584/11 vom 16.05.2013, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
23. Mai 2013

Beschwerde Nr. 20584/11
... ./. Deutschland

...

Ihre am 27.März 2011 eingelegte Beschwerde wurde hier unter der obigen Nummer
registriert.

Hiermit teile ich Ihnen mit, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwischen
dem 2. Mai 2013 und dem 16. Mai 2013 in Einzelrichterbesetzung (H. Keller, unterstützt von
einem Berichterstatter in Übereinstimmung mit Artikel 24 Absatz 2 der Konvention)
entschieden hat, die Beschwerde für unzulässig zu erklären. Diese Entscheidung erging am
zuletzt genannten Datum.

Soweit die Beschwerdepunkte in seine Zuständigkeit fallen, ist der Gerichtshof aufgrund aller
zur Verfügung stehenden Unterlagen zu der Auffassung gelangt, dass die in Artikel 34 und
35 der Konvention niedergelegten Voraussetzungen nicht erfiillt waren.

Diese Entscheidung ist endgültig und unterliegt keiner Berufung an den Gerichtshof sowie an
die Grosse Kammer oder eine andere Stelle. Sie werden daher Verständnis dafür haben, dass
die Kanzlei Ihnen keine weiteren Auskünfte über die Beschlussfassung des Einzelrichters
geben und auch keinen weiteren Schriftverkehr mit Ihnen in dieser Angelegenheit führen
kann. Sie werden in dieser Beschwerdesache keine weiteren Zuschriften erhalten, und die
Beschwerdeakte wird ein Jahr nach Datum dieser Entscheidung vernichtet werden.

Das vorliegende Schreiben ergeht nach Artikel 52A der Verfahrensordnung des
Gerichtshofes.

Mit freundlichen Grüßen
Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

...
Referent

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1 BvR 1484/10

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BVerfG, 1 BvR 1484/10 vom 28.09.2010, Bundesverfassungsgericht
Ausfertigung

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1484/10 -

In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde

des

gegen a) den Beschluss des Bundessozialgerichts
vom 21. Mai 2010 - B 1 KR 6/10 BH -

b) das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts
vom 17. November 2009 – L 5 KR 187/08 -

und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

und Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten K...
die Richter B...
und S...
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BverfGG in der Fassung der Bekannt-
machung vom 11. August 19993 (BGBl I S. 1473)
vom 28. September 2010 einstimmig beschlossen:

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird
abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung ohne
Aussicht auf Erfolg ist.

Die Verfassungsbeschwerde wird – unbeschadet einer
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - nicht zur
Entscheidung angenommen.

Von einer Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BverfGG
abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

K... B... S...

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20584/11 EGMR

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LSG BAY, L 5 B 314/08 KR ER vom 03.06.2008, Bayerisches Landessozialgericht
Ausfertigung

L 5 B 314/08 KR ER
Sozialgericht Regensburg
S 14 KR 69/08 ER

BAYR. LANDESSOZIALGERICHT

In der B e s c h w e r d e s a c h e

- Antragsteller und Beschwerdeführer -

g e g e n

... - Krankenkasse,

- Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin -

wegen einstweiliger Anordnung

erlässt der 5. Senat des Bayer. Landessozialgerichts in München

am 3. Juni 2008

ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden Richter am Bayer. Landesso-
zialgericht M... sowie die Richterin am Bayer. Landessozialgericht W....—
-W.. und den Richter am Bayer. Landessozialgericht R... folgenden

Beschluss:

I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Regensburg vom 12.03.2008 wird zurückgewie-
sen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

G r ü n d e

Der am geborene Antragsteller ist multimorbid und
leidet insbesondere an einer chronischen dialysepflichtigen
Niereninsuffizienz‚ weswegen er laufend hämodialysiert wird. Er
begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes Fahrtkostener-
stattung von der Antragsgegnerin, bei welcher er gesetzlich
krankenversichert ist.

Mit Widerspruchsbescheid vom 05.02.2008 wies die Antragsgegne-
rin mehrere Widersprüche des Antragstellers gegen Fahrtkosten-
abrechnungen zurück, weil diese das notwendige Maß überschrit-
ten hätten, unter anderem weil die Fahrten zu ambulanten Be-
handlungen außerhalb der Dialyse nicht erstattungsfähig seien.

Dagegen hat der Antragsteller Klage zum Sozialgericht Regens-
burg erhoben und gleichzeitig einstweiligen Rechtsschutz bean-
tragt. Unbestritten müsse die Antragsgegnerin die Fahrtkosten
zu medizinisch notwendigen Behandlungen erstatten. Er sei als
Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Erwerbsunfähige
bei einem Regelsatz von monatlich 278,00 EUR nicht in der Lage,
die erforderlichen Taxikosten zu tragen. Zudem seien nicht nur
20 Cent, sondern 30 Cent pro gefahrenen Kilometer erstattungs-
pflichtig. Dagegen hat sich die Antragsgegnerin gewandt und
ausgeführt, grundsätzlich übernehme sie die notwendigen Fahrt-
kosten für notwendige medizinische Behandlungen. Die entspre-
chende gesetzliche Regelung lasse jedoch höhere als die bislang
angesetzten Kostenerstattungen nicht zu.

Mit Beschluss vom 12.03.2008 hat das Sozialgericht den Antrag
zurückgewiesen im Wesentlichen mit der Begründung, eine unmit-
telbare Gefährdung für Leib und Leben des Antragstellers sei
bei der Nichtgewährung des einstweiligen Rechtsschutzes nicht
erkennbar. Zu beachten sei, dass die Entscheidung des einstwei-

- 3 -

ligen Rechtsschutzverfahrens zu Gunsten des Antragstellers die
Hauptsache vorwegnehmen würde, weil im Falle der Unrechtmäßig-
keit dieser Entscheidung der Erstattungsanspruch der Antrags-
gegnerin mangels finanzieller Leistungskraft des Antragstellers
ins Leere liefe. Eine konkrete Gefährdung des Antragstellers
sei nicht erkenntlich, zumal der Antragsteller dargetan habe,
er könne mit einem eigenen bzw. geliehenen Pkw fahren. Aus den
medizinischen Unterlagen ergebe sich, dass der Antragsteller
öffentliche Verkehrsmittel nutzen könne, wenn auch nicht regel-
mäßig. Die Fahrkostenabrechnungen der Beklagten seien auch der
Höhe nach zutreffend erfolgt, insbesondere seien nur 20 Cent
je gefahrenen Kilometer, nicht aber 30 Cent erstattungsfähig.

Dagegen hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt und geltend
gemacht, streitig sei nicht die Erstattungshöhe in Höhe von
30 Cent oder 20 Cent, sondern er beantrage die Übernahme von
Fahrkosten zu ambulanten Behandlungen mit jeglichem Transport-
mittel, nicht nur mit Taxen. Das Vorgehen der Antragsgegnerin
stelle einen Verstoß gegen seine Menschenwürde dar, weil er im-
mer wieder um Zahlungsaufschübe betteln müsse. Der Zweck des
Schonvermögens, aus welchem er die Kosten vorstrecken müsse,
werde von der Antragsgegnerin verkannt. Die Verweigerung der
notwendigen Fahrkosten sei ein Angriff auf seinen Leib und sein
Leben. Es sei abzusehen, dass die Verwandten des Antragstellers
künftig nicht mehr bereit sein könnten, ihr Fahrzeug zur Verfü-
gung zu stellen. Auch im Übrigen sei der angefochtene Beschluss
rechtswidrig.

Die Antragsgegnerin hat Zurückweisung der Beschwerde begehrt
und auf ihr bisheriges Vorbringen Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig
(§§ 172 ff. Sozialgerichtsgesetz — SGG —)‚ aber unbegründet.

- 4 -

Unter Bezugnahme auf die zutreffenden Ausführungen des ange-
fochtenen Beschlusses ist zunächst auszuführen, dass für die
begehrte Regelungsanordnung im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG
ein Anordnungsgrund‚ der die Eilbedürftigkeit begründet sowie
ein Anordnungsanspruch, welcher die Rechtsgrundlage für das mat
terielle Begehren bildet, bestehen muss. Weil vorliegend keine
konkrete Gefährdung für Leib und Leben des Klägers durch Nicht-
behandlung einer lebensbedrohlichen Krankheit im Streite steht,
ist im Wege des summarischen Verfahrens zu entscheiden, ob der
geltend gemachte einstweilige Rechtsschutz zu gewähren ist oder
nicht.

In Würdigung der Beschwerdeschrift vom 11.04.2007 ergibt sich,
dass der Antragsteller sein Begehren erweitert hat und nunmehr
die Übernahme von Fahrkosten zu ambulanten Behandlungen mit
jeglichem Transportmittel streitig ist. Nicht mehr zu befinden
ist hinsichtlich der Erstattungshöhe ob 20 oder 30 Cent pro ge-
fahrenem Kilometer zu zahlen wären.

Ein solches weitgehendes Begehren ist dem einstweiligen Rechts-
schutz nicht zugänglich, zumal die Antragsgegnerin erklärt hat,
dass sie grundsätzlich die Fahrkosten zur Dialyse, zur statio-
nären Behandlung sowie im Übrigen nach Maßgabe des 5 60 Sozial-
gesetzbuch V übernimmt. Danach hat sie auch gehandelt, indem
sie die entsprechenden Kostenerstattungen für die Vergangenheit
erbracht hat — wenn auch die Höhe der zu erstattenden Leistung
und deren Umfang streitig geblieben ist. Eine generelle Ver-
pflichtung der Antragsgegnerin, Fahrkosten in angefallener Höhe
zu nicht näher konkretisierten Behandlungen zu erstatten ist
damit nicht veranlasst. Eine solche Entscheidung widerspräche
auch der gesetzlichen Regelung in § 60 SGB V, welche in einer
klaren Ordnungsstruktur bestimmt, unter welchen Voraussetzungen
welche Fahrkostenerstattungen geleistet werden dürfen.

Die Beschwerde des Antragstellers ist deshalb in vollem Umfang
zurückzuweisen.

- 5 -

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gegen diesen Beschluss ist Beschwerde zum Bundessozialgericht
nicht eröffnet, § 177 SGG.

M... W...—W... R...

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siehe auch
L 5 B 748/08 KR
1 BvR 1601/08

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SG R, S 14 KR 69/08 ER vom 12.03.2008, Sozialgericht Regensburg
S 14 KR 69/08 ER

SOZIALGERICHT REGENSBURG

In dem Antrags Verfahren


— Antragsteller —

g e g e n

… —Krankenkasse,

— Antragsgegnerin —

erlässt der Vorsitzende der 14. Kammer, Richter am Sozialge-
richt Dr. E… , ohne mündliche Verhandlung am
12. März 2008 folgenden

Beschluss:

I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anord-
nung bezüglich der Erstattung von Fahrtkosten zur
ambulanten Behandlung wird abgelehnt.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2-

Gründe

Die Beteiligten streiten in dem Hauptverfahren und vorliegenden
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Erstattung
von Fahrtkosten.

Der am ... geborene Antragsteller (Ast) ist Dialysepati—
ent, im Rahmen der Schwerbehindertenrechts verfügt er über das
Merkzeichen "G" und "RF". Streitig ist zum einen, ob für die
Fahrten mit dem privaten Pkw zu den Behandlungen 20 Cent oder
30 Cent pro gefahrene Kilometer erstattet werden, zum anderen
ob Fahrten mit dem Taxi anlässlich ambulanter Behandlungen zu
übernehmen sind.

Letztlich mit Widerspruchsbescheid vom 05.02.2008 sind beide
Begehren des Ast abgelehnt worden. Der Ast selbst bezieht Hilfe
zum Lebensunterhalt durch das Sozialamt Regensburg.

Mit seinem Antrag auf einstweilige Anordnung möchte er gerade
wegen des Verwiesenseins auf Hilfe zum Lebensunterhalt die
Fahrtkosten bzw. die erhöhten Fahrtkosten bezahlt bekommen, um
seine Fahrten zu gewährleisten. Derzeit werde er durch Angehö-
rige gefahren, dieser Zustand sei jedoch nicht tragbar, falls
die Hilfsperson ausfallen sollte.

Die Antragsgegnerin (Ag) führte zu dem Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung aus, dass weder ein Anordnungsanspruch
noch ein Anordnungsgrund gegeben sei. Der Anordnungsanspruch
hinsichtlich einer erhöhten Entschädigung mit einer Pauschale
von 30 Cent pro gefahrenen Kilometer scheitere an dem anwendba-
ren Bundesreisekostengesetz, wonach ein erhebliches dienstli-
ches Interesse bestehen müsse (analog angewandt auf das Kran-

- 3 -

kenversicherungsrecht). Dies sei nicht gegeben. Ebenso seien
die Taxifahrten nicht zu übernehmen, da die Voraussetzungen
nach den Krankentransport—Richtlinien beim Ast nicht vorliegen
würden. Nachdem er die erforderlichen Merkzeichen "aG" und "H"
nicht aufweise‚ des Weiteren nicht die Pflegstufe II, sei auf
eine hohe Behandlungsfrequenz abzustellen. Der Medizinische
Dienst der Krankenversicherung habe sich dahingehend eingelas-
sen, dass eine solche nicht gegeben sei.

Des Weiteren liege kein Anordnungsgrund vor, da der Ast durch-
aus öffentliche Verkehrsmittel benutzen könne. Schwere oder un-
zumutbare, nicht anders abzuwendende Nachteile würden nicht
entstehen. Als letztes Mittel würden dem Ast Leistungen der So-
zialhilfe zur Verfügung stehen.

Bezug genommen wird zur Ergänzung der Gründe auf die Ausführun-
gen des Ast sowie der Ag.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zuläs-
sig, jedoch nicht begründet.

Gemäß § 86 b Abs.2 Sozialgerichtsgesetz TSGG) kann das Gericht
der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug
auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass
durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirkli-
chung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich
erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur
Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streiti-
ges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Antrag
ist schon vor Klageerhebung zulässig. Erfasst werden somit in
§ 86 Abs. 2 SGG sowohl die sogenannte Sicherungsanordnung als
auch die sogenannte Regelungsanordnung.

- 4 -

Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist,
dass sowohl ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund ge-
geben sind. Anordnungsanspruch ist dabei der materielle An-
spruch, für den der Antragsteller vorläufigen Rechtschutz
sucht, Anordnungsgrund ist die Eilbedürftigkeit der begehrten
Sicherung oder Regelung (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m.
§ 920 ZPO). Das Gericht prüft, ob Anspruch und Grund glaubhaft
gemacht worden sind. Eine endgültige Entscheidung in der Haupt-
sache wird durch die einstweilige Anordnung nicht vorweggenom—
men .

Aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zuläs-
sigen summarischen und pauschalen Prüfung der Sach- und Rechts-
lage kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass zumindest ein An-
ordnungsgrund nicht gegeben ist. Das Gericht sieht ebenso wie
die Ag keine unzumutbaren Nachteile für den Ast, das Hauptver-
fahren abzuwarten. Denn wenn nunmehr positiv für den Ast im
Verfahren der einstweiligen Anordnung entschieden werden würde,
so käme dies der Vorwegnahme der Hauptsache gleich, da dem Ast
die begehrten Fahrtkosten vorerst zugestanden würden. Nachdem
der Ast Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt bezieht, wären
diese Leistungen nicht mehr rückabwickelbar, falls sich im
Hauptverfahren herausstellen sollte, dass dem Ast der Anspruch
nicht zusteht. Soweit eine Verweisung auf Leistungen der Sozi-
falhilfe ausscheidet‚ müsste bei Nichtgewährung der beantragten
Leistungen eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben des Ast
bestehen (LSG Niedersachsen—Bremen, NZS 2004, 112). Dies hat
der Ast ebenso nicht dargetan. Vielmehr gibt er selber zu, dass
er im Notfall durch Angehörige gefahren werden kann. Er benö-
tigt die einstweilige Anordnung nur deshalb, um für den Ausfall
dieser Personen oder dieser Person eine Rückversicherung zu ha-
ben. Dies ist mit dem Rechtsinstitut der einstweiligen Anord-
nung mangels nunmehriger konkreter Gefährdung nicht machbar.
Zwar geben die hereingereichten ärztlichen Bescheinigungen um-
fassende Diagnosen des Ast an, wie z.B. die Niereninsuffizienz
seit 1977 und darauffolgende Nierentransplantationen. Eine
Übernahme der Taxikosten wird auch durch die ärztlichen Be-

scheinigungen für Fahrten außer zu den Dialysebehandlungen zur
ambulanten Untersuchungen gefordert. Insoweit ist jedoch darge-
tan, dass der Ast seinen eigenen Pkw fahren kann, dies ihm je-
doch mitunter oftmals nicht möglich ist. Zudem kann der Ast, so
die Bescheinigungen, Bus und Bahn benutzen, diese jedoch nicht
regelmäßig. Im Hinblick auf die Möglichkeiten der Fortbewegung
ist eine erhebliche Gefährdung, die für einen Anordnungsan—
spruch erforderlich wäre, nicht gegeben.

Zudem zweifelt das Gericht an dem Anordnungsanspruch. Zum einen
ist der Betrag von 20 Cent gesetzlich im anwendbaren Reiseko-
stengesetz ausgewiesen, zum anderen sind die Taxifahrten zu den
ambulanten Behandlungen durch die Krankentransportrichtlinien
nur für Fälle einer hohen und dichten Behandlungsfrequenz vor-
behalten, nachdem der Ast weder das Merkzeichen "aG” noch "H"
noch die Pflegestufe II aufweist. Die hohe Behandlungsfrequenz
hat der Medizinische Dienst der Krankenversicherung nach Sich-
tung der Unterlagen abgelehnt. Diese Stellungnahme müsste durch
weitere Beweisaufnahmen erst erschüttert werden. Dafür ist das
Hauptverfahren zuständig, nicht im Zusammenhang mit dem Fehlen
des Anordnungsgrundes das Verfahren des einstweiligen Rechts-
schutzes.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Beschluss ist gemäß den §§ 172 Abs.1, 173 SGG Be-
schwerde zum Bayer. Landessozialgericht statthaft. Die Be-
schwerde ist binnen eines Monats nach Zustellung des Beschlus-
ses beim Sozialgericht Regensburg, Safferlingstraße 23, 93053
Regensburg, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeam—
ten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde in-
nerhalb der Frist beim Bayer. Landessozialgericht, Ludwigstraße

15‚ 80539 München oder bei der Zweigstelle des Bayer. Landesso—
zialgerichts‚ Rusterberg 2, 97421 Schweinfurt, schriftlich oder
mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäfts-
stelle eingelegt wird.

Der Vorsitzende der 14. Kammer

Dr. E...
Richter am Sozialgericht

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L 5 B 314/08 KR ER

L 5 B 748/08 KR ER C

1 BvR 1601/08

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SG R, S 14 KR 60/08 vom 13.06.2008, Sozialgericht Regensburg
SOZIALGERICHT REGENSBURG

GERICHTSBESCHEID

in dem Rechtsstreit

- Kläger -

Proz. Bev.: D.

gegen

... Krankenkasse,

Die 14. Kammer des Sozialgerichts Regensburg erlässt durch ihren Vorsitzenden, Richter
am Sozialgericht ... , am 13. Juni 2008 ohne mündliche Verhandlung folgenden

Gerichtsbescheid:

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Tatbestand und Entscheidungsgründe:

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Fahrtkosten. Der am ...

geborene Kläger ist multimorbid und leidet an einer dialysepflichtigen chronischen

Niereninsuffizienz. Mit Antrag vom 10.05.2007 begehrte er die Übernahme von

Fahrtkosten mit einem Taxi mit Rechnung vom 26.04.2007 in Höhe von 60,00 €.

Weitere Taxikosten vom 28.06.2007 wurden mit Antrag vom 07.07.2007 in Rech-

nung gestellt. Die Beklagte wies mit Bescheid vom 08.05.2007 und dann mit Be-
scheid vom 22.08.2007 darauf hin, dass die Taxifahrt vom 26.04. nicht übernom-
men werden könne, da nicht im Zusammenhang mit der ... erfolgt. Im Be-
scheid vom 22.08.2007 ist dargetan, dass die Fahrtkosten zu einer ambulanten
Behandlung ebenso nicht übernommen werden können, da nicht für die ...
erfolgt. Der dagegen eingelegte Widerspruch des Klägers führte zu zwei Stellung-
nahmen
des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), wonach
keine hohe Behandlungsfrequenz gegeben sei und somit die Voraussetzungen für
eine Kostenübernahme nicht vorliegen würden. Dies wurde dem Kläger mit Wider-
spruchsbescheid vom 05.02.23008 so mitgeteilt unter Hinweis auf die Kranken-
transport-Richtlinien.

Dagegen legte der Kläger Klage zum Sozialgericht Regensburg ein. Diese Klage
(S 14 KR 60/08) wurde mit dem Rechtsstreit S 14 KR 66/08 verbunden. Unter dem
Aktenzeichen S 14 KR 60/08 wurden beide Rechtsstreitigkeiten weitergeführt. Der
vormalige Rechtsstreit S 14 KR 66/08 bezeichnet zwar in seiner Klage wiederum
den Bescheid vom 22.08.2007, aus der Vollmacht an den Vertreter des Klägers
geht jedoch hervor, dass damit die Kilometerpauschale beklagt werden sollte. Die-
se wurde mit Antrag vom 21.10.2007 (als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X)
bezeichnet durch den Kläger bei der Beklagten eingereicht. Es sollten nicht Fahrt-
kosten in Höhe von 20 Cent, sondern von 30 Cent angesetzt werden. Mit Be-
scheid vom 29.10.2007 wies die Beklagte darauf hin, dass gemäß dem Kranken-

- 3 -

versicherungsrecht nur 20 Cent angeordnet werden könnten. Der dagegen einge-
legte Widerspruch endete im Widerspruchsbescheid vom 05.02.2008.

Daneben betrieb der Kläger einen weiteren Rechtsstreit unter seinem eigenen
Namen unter dem Az. S 14 KR 70/08. Insoweit erging Gerichtsbescheid vom
02.05.2008 wegen Unzulässigkeit dieser Klage. Ein weiteres Verfahren als einst-
weilige Anordnung unter dem Az S 14 KR 69/08 ER betrieben endete mit dem Be-
schluss vom 12.03.2008, wonach der Antrag zurückgewiesen wurde. Eine Be-
schwerde dagegen hatte keinen Erfolg (Beschluss des BayLSG vom 03.06.2008).

Die Prozessbevollmächtigten des Klägers beantragen sinngemäß,

sowohl die Bescheide vom 08.05.2007 und 22.08.2007 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.02.2008 wie
den Bescheid vom 29.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchs-
bescheids vom 05.02.2008 aufzuheben und dem Kläger für
Fahrten zur ambulanten Untersuchung und Behandlung die
Taxikosten zu erstatten bzw. soweit selbst gefahren wird, einen
höheren Entschädigungssatz von 0,30 € anzusetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass Gerichtsbescheid ergehen kann.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte so-
wie die Gerichtsakten in den Verfahren S 14 KR 66/08, S 14 KR 70/08 und S 14
KR 69/08 ER sowie die Beklagtenakten. Sämtlicher Inhalt war Gegenstand der

Entscheidungsfindung.

II.

Die zulässigen Klagen sind im Sinne einer objektiven Klagehäufung nicht begründ-
et, denn die Bescheide der Beklagten erweisen sich als rechtmäßig.

Das Gericht kann gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbe-
scheid entscheiden, da der Sachverhalt keine besonderen Schwierigkeiten tat-
sächlicher bzw. rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.

Das Gericht macht ebenso von der Vorschrift des § 136 Abs.3 SGG Gebrauch,
der im Verfahren des Gerichtsbescheids ebenso seine Anwendung findet und
verweist auf die Darstellung in den Entscheidungsgründen der Bescheide und Wi-
derspruchsbescheide der Beklagten, denen es folgt und die sie sich zu eigen
macht.

Die Beklagte hat zu Recht § 60 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) i. V. m.
dem Bundesreisekostengesetz (BRKG) angewandt, wonach die Höchstvergü-
tungspauschale von 0,20 € pro gefahrenem Kilometer anzusetzen ist. Für eine hö-
here Höchstvergütungspauschale bleibt somit von Gesetzes wegen kein Raum. D
iese Handhabung entspricht dem § 5 BRKG, wonach 20 Cent pro Kilometer
festgeschrieben sind; ein erheblich darüber hinausgehendes („dienstliches“) be-
stehendes Interesse für eine Wegstreckenentschädigung von 30 Cent pro Kilome-
ter kann im Fall des Klägers nicht gesehen werden. Er selbst gibt kein darüber
hinausgehendes Interesse an, verweist nur darauf, dass der Höchstbetrag eben
30 Cent sei. Dies reicht nicht aus.

Soweit es die Fahrkosten zu den ambulanten Behandlungen außerhalb der ...
betrifft (Taxifahrten) fehlt es schon an der vorherigen Genehmigung durch die
Beklagte; des Weiteren sind die Voraussetzungen nach den anwendbaren Kran-
kentransport-Richtlinien nicht erfüllt. Der Kläger weist in seinem Schwerbehinder-
tenausweis nicht die Merkzeichen „aG“, „BL“ oder „H“ auf (nur ...)
und verfügt nicht über die Pflegestufe II oder III in der Pflegeversiche-
rung. Eine hohe Behandlungsfrequenz wurde durch den MDK zu Recht abgelehnt.

Wie das BayLSG in seinem Beschluss vom 03.06.2008, in Bestätigung des Be-
schlusses des SG Regensburg vom 12.03.2008 ausführt, hat die Beklagte grund-
sätzlich zu Recht die Fahrkosten zur ... und zur stationären Behandlung so-
wie nach Maßgabe des § 60 SGB V übernommen. Eine weiter darüber hinausge-
hende Entscheidung lassen die Vorschriften nicht zu.

- 5 -

Somit bestehen keine Ansprüche, weder nach dem Sachleistungsprinzip des § 13
Abs. 1 SGB V noch als Kostenerstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 3 SGB V (die-
ser kann nicht weiter reichen, als ein Sachleistungsanspruch).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Gerichtsbescheid kann mit der Berufung angefochten werden, da es dem Klä-
ger nicht nur um die Einforderung einer Summe von unter 750,00 € geht(§ 144
SGG), sondern die Klage darauf gerichtet ist, weiterhin und künftig Taxikosten
bzw. Fahrtkosten zu übernehmen bzw. in höherer Art zu übernehmen.

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L 5 KR 187/08 (Bayerisches LSG)
B 1 KR 6/10 BH (Bundessozialgericht)
1 BvR 1484/10 (Bundesverfassungsgericht)
20584/11 (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

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BSG, B 1 KR 6/10 BH vom 21.05.2010, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss

in dem Rechtsstreit

Az: B 1 KR 6/10 BH
L 5 KR 187/08 (Bayerisches LSG)
S 14 KR 60/08 (SG Regensburg)

Kläger und Antragsteller

gegen

Beklagte.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 21 Mai 2010 durch den Präsidenten
M. sowie die Richter Dr. K. und Dr. H. beschlossen:

Der Antrag des Klägers, ihm für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung
der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. November 2009
Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts zu gewähren, wird abgelehnt.

- 2 -

Gründe:

I

[Abs. 1]
Der 1963 geborene, bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Kläger leidet an einer Nieren-
erkrankung, weshalb ihm ua im Dezember 2007 eine Niere implantiert wurde, zudem an
Erkrankungen des Herzkreislaufsystems, einem Zustand nach Schilddrüsenkarzinom, Schwer-
hörigkeit sowie orthopädischen Krankheiten. Deshalb sind bei ihm ein Grad der Behinderung
von 100 nach dem SGB IX und die Merkzeichen “G“ sowie “RF“ festgestellt worden. Er hat
Leistungen der Grundsicherung für Erwerbsunfähige beantragt. Mit seinem Begehren, für
ambulante Behandlungen Taxikosten und bei Eigenfahrten eine Erstattung von 30 Cent anstelle
von 20 Cent je gefahrenem Kilometer zu erhalten, ist der Kläger bei der Beklagten und in den
Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt, für einen
Generalantrag zu allgemeiner Übernahme von Fahrtkosten fehle das Rechtsschutzbedürfnis.
Für eine orthopädische und kardiologische Behandlung jeweils in Regensburg habe der Kläger
öffentliche Verkehrsmittel benutzen können. Seine Mobilität sei nicht vergleichbar mit der eines
schwerbehinderten Menschen eingeschränkt, bei welchem die Voraussetzungen der Merk-
zeichen “aG“, “Bl“ oder “H“ erfüllt seien. Weder seien diese Merkzeichen noch eine Pflege-
stufe II oder III beim Kläger festgestellt worden. Eine höhere Erstattung als 20 Cent je Kilometer
könne der Kläger nach der gesetzlichen Regelung nicht beanspruchen, da ein höherer
Erstattungssatz nach § 5 Abs 2 Bundesreisekostengesetz (BRKG vom 26.5.2005 BGBl I 1418)
ausschließlich aus dienstlichen Erfordernissen heraus zu begründen sei (Urteil vom 17.11.2009).

[Abs. 2]
Der Kläger begehrt die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines
Rechtsanwalts für Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

II

[Abs. 3]
Der Antrag des Klägers auf Gewährung von PKH unter Beiordnung eines anwaltlichen Bevoll-
mächtigten ist abzulehnen.

[Abs. 4]
Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 144, 121 ZPO kann einem bedürftigen Beteiligten für das
Beschwerdeverfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet
werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und
nicht mutwillig erscheint. An dieser Erfolgsaussicht fehlt es. Der Kläger kann aller Voraussicht
nach in dem von ihm beabsichtigten Beschwerdeverfahren mit seinem Begehren auf Zulassung
der Revision nicht durchdringen. Auf der Grundlage des Vorbringens des Klägers und nach
Aktenlage gibt es bei summarischer Prüfung keine Hinweise darauf, dass eine der

- 3 -

abschließend in § 160 Abs 2 SGG genannten Gründe für die Zulassung der Revision in einem
Beschwerdeverfahren bejaht werden könnte. Das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde
ermöglicht dagegen keine weitergehende, umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle der zuvor
ergangenen Entscheidungen. Ob das LSG-Urteil allgemein in Einklang mit Recht und Gesetz
steht, ist für den Erfolg einer Nichtzulassungsbeschwerde ohne Belang (vgl zB BSG SozR 1500
§ 160a Nr 7).

[Abs. 5]
Die beabsichtigte Nichtzulassungsbeschwerde bietet im Hinblick auf den Zulassungsgrund der
Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) keine hinreichende Aussicht auf Erfolg da nichts dafür
spricht, dass der Kläger den gesetzlichen Darlegungsvoraussetzungen genügen könnte. Der
Kläger führt allerdings in seinem PKH-Gesuch eine Reihe von Entscheidungen des BVerfG und
des BSG an, von denen das LSG nach seiner Auffassung abgewichen ist. Um den Zulassungs-
grund einer Rechtsprechungsdivergenz nach § 160 Abs 2 SGG entsprechend den
Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG darzulegen, müsste der Kläger indes ent-
scheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einer-
seits und in den herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidungen andererseits gegenüber-
stellen und Ausführungen dazu machen können, weshalb beide miteinander unvereinbar sein
sollen. Hierzu müsste der Kläger darlegen, dass das LSG einen vom BVerfG oder BSG
abweichenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt habe, aus dem sich das Bedürfnis nach Her-
stellung von Rechtseinheit in einem Revisionsverfahren ergibt (vgl zB BSG Beschluss vom
21.1.2010 – B 1 KR 128/09 B -RdNr 5 mwN). Ein solches Vorhaben würde vorliegend nach aller
Voraussicht daran scheitern, dass das LSG der höchstrichterlichen Rechtsprechung folgen
wollte und die vom Kläger im Kern allein geltend gemachte fehlerhafte Anwendung der höchst-
richterlichen Rechtsprechung nach der gesetzlichen Regelung des § 160 Abs 2 SGG nicht die
Zulassung der Revision ermöglicht.

[Abs. 6]
Auch das Vorbringen, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1
SGG), bietet für das angestrebte Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren keine hinreichende
Aussicht auf Erfolg. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der
Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und aus-
führen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich
sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG
SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; siehe auch BSG
SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Von den vielen Fragen, die der Kläger insoweit
formuliert hat, kommt unter Berücksichtigung der durch höchstricherliche Rechtsprechung
bereits geklärten Fragen lediglich die vom Kläger angedeutete Frage näher in Betracht, ob § 60
Abs 3 Nr 4 SGB V bei Benutzung eines privaten Kraftfahrzeugs auf den Höchstbetrag lediglich
nach § 5 Abs 1 Satz 2 BRKG verweist, oder ob insoweit die erhöhte Wegstreckenentschädigung
von 30 Cent je Kilometer bei Bestehen eines erheblichen dienstlichen Interesses an der
Benutzung eines Kraftwagens nach § 5 Abs 2 Satz 1 BRKG in Betracht kommt. Auch unabhän-

- 4 -

gig von einer höchstrichterlichen Klärung ist indes eine Rechtsfrage dann als nicht klärungsbe-
dürftig anzusehen, wenn ihre Beantwortung so gut wie unbestritten ist (vgl zB BSG SozR 1500
§ 160 Nr 17) oder die Antwort von vorneherein praktisch außer Zweifel steht (vgl zB BSGE 40, 40
= SozR 1500 § 160a Nr 4). So liegt es hier bei der vom Kläger indirekt aufgeworfenen Frage
unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien (vgl BT-Drucks 12/3608 S 82) und dem Sinn
und Zweck der Verweisungsregel in § 60 Abs 3 Nr 4 SGB V, die für den Ausnahmefall des
§ 5 Abs 2 Satz 2 BRKG keinen Anwendungsraum bietet.

Schließlich fehlt es auch an einer hinreichenden Aussicht auf Erfolg dafür, dass der Kläger im
angestrebten Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren einen Verfahrensmangel geltend machen
kann, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann
der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1
Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des §§ 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf
einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Für
einen solchen Verfahrensmangel liegt nach der gebotenen summarischen Prüfung nichts vor,
zumal der in der mündlichen Verhandlung durch einen Rechtssekretär der DGB-Rechtsschutz
GmbH vertretene Kläger Sachanträge gestellt hat und eine Verletzung des Grundsatzes der
freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) die Zulassung der Revision nicht zu recht-
fertigen vermag.

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab.

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1 BvR 1484/10

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BSG, B1 KR 43/04 B vom 27.06.2005, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss

in dem Rechtsstreit

Az: B 1 KR 43/04 B

Klägerin und Beschwerdeführerin,

Prozessbevollmächtigter:

gegen

Kaufmännische Krankenkasse – KKH,
Karl-Wiechert-Allee 61, 30625 Hannover,
Beklagte und Beschwerdegegnerin.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 27. Juni 2005 durch den
Präsidenten von W. sowie die Richter Prof. Dr. S.
und Dr. H.

beschlossen:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision
im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. April
2004 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

-2-

Gründe:

I

[Abs 1] Die Klägerin ist mit ihrem Begehren, ihr die Kosten für die privatärztliche Behandlung bei
Dr. K in Höhe von 2.226,32 DM sowie vier mal 1.400,36 € für jeweils eine extrakorporale
Photopherese bei den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat
in seinem Urteil vom 20. April 2004 ua ausgeführt, die Voraussetzungen des § 13 Abs 3 Fünftes
Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) seien nicht erfüllt. Es verweise auf die Entscheidungsgründe
des Urteils des Sozialgerichts (SG). Danach kam eine Kostenerstattung für die extrakorporalen
Photopheresen nicht in Betracht, weil eine positive Empfehlung des Bundesausschusses zu
dieser neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode fehle. Im Übrigen wären die Maßnah-
men von Dr. Kinnerhalb der vertragsärztlichen Versorgung zu erbringen gewesen. Die
Leistungen seien auch nicht unaufschiebbar gewesen. Das LSG hat ergänzt, auf die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) könne sich die Klägerin nicht
stützen, da es um eine Inlandsbehandlung gehe; zudem werde auch nach § 18 SGB V nur eine
solche Behandlung erstattet, die zum Leistungsumfang der vertragsärztlichen Versorgung
gehöre, was bei der hier streitigen nicht der Fall sei, wie es das SG in seinem Urteil ausführlich
dargelegt habe. Dass sich die Klägerin im Inland zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung nur bei Vertragsärzten behandeln lassen könne, verstoße nicht gegen
Art 3 Grundgesetz (GG), da das Zulassungssystem die Qualität und die Beachtung des
Wirtschaftlichkeitsgebots sichere. Der Anspruch aus § 13 Abs 3 2. Fallgruppe SGB V scheitere
bereits daran, dass sich die Klägerin in die Behandlung eines Nicht-Vertragsarztes gegeben
habe (BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 7).

[Abs 2] Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil
des LSG vom 20. April 2004.

II

[Abs 3] Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 Satz 3 Sozial-
gerichtsgesetz (SGG) zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2
Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisions-
zulassungsgründe nach § 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG.

[Abs 4] 1. Soll die Revision nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechts-
sache zugelassen werden, muss in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung
dargelegt werden (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu ist es nach der ständigen Rechtspre-
chung des Bundessozialgerichts (BSG) erforderlich, eine Rechtsfrage klar zu formulieren und

- 3 -

aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt, und dass die
Rechtsfrage klärungsbedürftig sowie klärungsfähig ist, dh sie im Falle der Zulassung der Revi-
sion entscheidungserheblich wäre (vgl Senat, Beschluss vom 28. Februar 2005, B 1 KR 6/04 B;
BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500
§ 240 Nr 33 S 151 f mwN). Hieran fehlt es. Die Beschwerde sieht es als klärungsbedürftige
Rechtsfrage an,"ob sich gesetzlich Krankenversicherte auf Grund der neuen
EuGH-Rechtsprechung grundsätzlich von jedem - in einem EG-Mitgliedsstaat niedergelasse-
nen - Arzt auf Kosten ihrer gesetzlichen Krankenkasse ambulant behandeln lassen dürfen". Zur
Entscheidungserheblichkeit dieser Rechtsfrage hat sich die Beschwerde jeglicher
Ausführungen enthalten. Entscheidungserheblichkeit bedeutet, dass es für die Entscheidung
des Rechtsstreits auf die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfrage ankommt und die
Entscheidung bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin in ihrem
Sinne hätte ausfallen müssen. Hat ein geltend gemachter Anspruch mehrere Voraussetzungen
und wurde er vom Berufungsgericht verneint, weil eine dieser Voraussetzungen nicht vorliegt,
muss dargelegt werden, dass auch die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind. Anderenfalls ist
der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen, das die Entscheidung über die aufgeworfene
Rechtsfrage Konsequenzen für den Ausgang des Rechtsstreits hat. Kann mangels
entsprechenden Vortrags nicht ausgeschlossen werden, dass der geltend gemachte Anspruch
unabhängig vom Ergebnis der angestrebten rechtlichen Klärung womöglich am Fehlen einer
weiteren, bisher unbeachtet gebliebenen Anspruchsvoraussetzung scheitern müsste, fehlt es
an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit und damit der Klärungsfähigkeit der
aufgeworfenen Rechtsfrage (vgl dazu Senat, Beschluss vom 28. Februar 2005, B 1 KR 6/04 B;
Beschluss vom 6. Dezember 2004, B 1 KR 96/03 B; BSG, Beschluss vom 30. August 2004,
SozR 4-1500 § 160a Nr 5 mwN). So aber liegt es hier. Der Kostenerstattungsanspruch des § 13
Abs 3 SGB V setzt nach ständiger Rechtsprechung des BSG voraus, dass Kosten tatsächlich
entstanden sind (BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 4). Dies ist aber weder nach dem Tatbestand noch
nach den Entscheidungsgründen des LSG-Urteils oder nach dem Vorbringen der Beschwerde
vorgetragen oder sonst ersichtlich.

[Abs 5] Soweit die Klägerin dagegen einen Freistellungsanspruch geltend machen will, der ebenfalls
vom Anspruch des § 13 Abs 3 SGB V umfasst ist (vgl BSG, ebenda mwN), setzt dieser eine
rechtsgültige Zahlungsverpflichtung voraus. Dass eine solche besteht, hat die Beschwerde
nicht dargelegt. Darüber hinaus fehlt es an Darlegungen dazu, dass sich die Klägerin die
Behandlung als eine notwendige Leistung entweder selbst beschaffen musste, weil die
Beklagte sie nicht rechtzeitig erbringen konnte (§ 13 Abs 3, 1. Fallgruppe SGB V) oder dass die
Forderung, der sich die Klägerin ausgesetzt sieht, gerade darauf beruht, dass die Beklagte die
Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (§ 13 Abs 3, 2. Fallgruppe SGB V). Dazu hätte besonderer
Anlass bestanden, weil das LSG-Urteil in den Entscheidungsgründen davon ausgeht, dass die
Behandlung nicht zum Leistungsumfang der vertragsärztlichen Versorgung gehört und ein
Notfall nicht vorgelegen habe. Das BSG ist aber an die im Urteil getroffenen tatsächlichen

-4-

Feststellungen zur Zulassung der Revision gebunden, außer wenn in Bezug auf diese
Feststellung zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 SGG), woran
es fehlt.

[Abs 6] 2. Auch so weit sich die Beschwerde auf den Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG be-
ruft und geltend macht, das LSG-Urteil sei vom Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG) vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02 (NJW 2003, 1236 = NZS 2003, 253f) abge-
wichen, es hätte nicht ausnahmslos die Kostenübernahme von der Anerkennung seitens des
Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen fordern dürfen, fehlt es an § 160a Abs 2
Satz 3 SGG genügenden Darlegungen. Wer sich auf diesen Zulassungsgrund beruft, muss
entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in
einer höchstrichterlichen Entscheidung andererseits gegenüber stellen und begründen,
weshalb diese miteinander unvereinbar seien (vgl Senat, Beschluss vom 28. Februar 2005,
B 1 KR 10/04 B; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 160a RdNr 15, § 160 RdNr 10 ff mwN).
Daran fehlt es. Die Beschwerde zitiert zwar Passagen aus dem Beschluss des BVerfG, benennt
aber keinen dazu konträren Rechtssatz des LSG-Urteils, aus dem sich die Notwendigkeit zur
Herstellung von Rechtseinheit durch eine höchstrichterliche Entscheidung ergeben könnte.
Abgesehen davon, dass das BVerfG in dem genannten Beschluss keine konkreten materiell-
rechtlichen Ansprüche auf die Gewährung bestimmter Leistungen aus Art 2 Abs 2 Satz 2 GG
abgeleitet, sondern im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes unter dem Gesichtspunkt des
Art 19 Abs 4 GG vom Beschwerdegericht eine "besonders intensive und nicht nur summarische
Prüfung der Erfolgsaussichten" oder eine Folgenabwägung verlangt hat, trägt die Beschwerde
der Sache nach allenfalls vor, das LSG sei den Grundsätzen des BVerfG nicht gefolgt. Dies
stellt indessen keine Divergenz im Sinne eines bewussten Aufstellens abweichender
Rechtssätze dar (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26). Ebenso wenig legt die Beschwerde dar,
dass aus den von ihr genannten Aussagen des BVerfG hätte zwingend ein Anspruch auf die
begehrten Leistungen folgen müssen.

[Abs 7] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Landessozialgericht Hamburg,
L 1 KR 43/04
vom 10.11.2004
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BSG, B 1 KR 19/10 B vom 23.02.2010, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss

in dem Rechtsstreit



Az: B 1 KR 19/10 B

L 5 KR 92/08 (Schleswig-Holsteinisches LSG)

S 8 KR 333/06 (SG Lübeck)





Klägerin und Beschwerdeführerin,

Prozessbevollmächtigte:



gegen



BARMER GEK,

Axel-Springer-Straße 44, 10969 Berlin,

Beklagte und Beschwerdegegnerin,

Prozessbevollmächtigte:



Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 9. Juli 2010 durch

Sden Präsidenten M. sowie den Richter Dr. H. und

die Richterin Dr. B.



beschlossen:



Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des

Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Dezember 2009 wird als unzulässig

verworfen.



Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.



- 2 -



Gründe:



I



[Abs. 1] Die 1952 geborene, bei der beklagten Ersatzkasse (KK) versicherte Klägerin, bei der im August

2004 eine Bauchspeicheldrüsen- und Nierentransplantation durchgeführt wurde, ist mit ihrem

Begehren, die Beklagte möge die Kosten für die Fahrten zu ambulant-ärztlichen Kontrollbe-

handlungen in der Charité Berlin und bei dem Nephrologen in Pinneberg auch über den

17.1.2005 hinaus übernehmen, in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat im

Wesentlichen ausgeführt: Ein Anspruch auf Übernahme der Fahrkosten nach § 60 Abs 1 Satz 3

SGB V in Verbindung mit den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92

Abs 1 Satz 2 Nr 12 SGB V scheitere schon an der fehlenden vorherigen Genehmigung durch

die Beklagte; im Übrigen seien aber auch die Voraussetzungen eines Ausnahmefalls nach den

Krankentransportrichtlinien (KrTransp-RL - BAnz Nr 18 S 1342) nicht erfüllt. Insbesondere sei

eine "hohe Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum" iS von § 8 Abs 2 KrTransp-RL

nicht gegeben. Im Anschluss an die Anforderungen, die das Urteil des BSG vom 28.7.2008 (B 1

KR 27/07 R - SozR 4-2500 § 60 Nr 5) aufgestellt habe, genüge die von der Klägerin ange-

gebene Häufigkeit der Behandlungen im Verhältnis zur Behandlungsdauer nicht (2005:

14 Fahrten, 2006 und 2007: Behandlungsfrequenz in einem Abstand von knapp sechs Wochen;

2008 und 2009: B5ehandlungsfrequenz im Abstand von 13 Wochen). Aus § 115a Abs 2 Satz 4

SGB V könne die Klägerin keine Ansprüche herleiten, da diese Vorschrift nur die Beziehungen

der Leistungserbringer regele und dem Versicherten über § 60 Abs 2 Nr 4 SGB V hinaus keine

Leistungsansprüche vermittele (Urteil vom 10.12.2009).



[Abs. 2 ] Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-

Urteil. Sie beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.



II



[Abs. 3] 1. Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbs 2

SGG iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a

Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des geltend gemachten Re-

visionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 160 Abs 2

Nr 1 SGG.



[Abs. 4] Wer sich auf diesen Zulassungsgrund beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und aus-

führen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich so-

wie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR

3-1500 § 160a Nr 21 S 38; SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; siehe auch BSG SozR 3-2500 § 240



- 3 -



Nr 33 S 151 f mwN). Rechtsfragen sind in aller Regel nicht mehr klärungsbedürftig, wenn sie

bereits von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entschieden worden sind (vgl zB BSG

SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17; BSG SozR 1500 § 160 Nr 51 S 52 mwN). Nach diesem Maßstab

hat die Klägerin die Erfordernisse der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nicht hinrei-

chend dargelegt.



[Abs. 5] Die Klägerin formuliert zwar die Rechtsfrage,

ob "die Nachsorge in einem Transplantationszentrum nach einer Organübertragung gem.

§ 9 Abs. 1 des Transplantationsgesetzes und die dortige entsprechende ärztliche

nachstationäre Behandlung nach § 115 a Abs 2 Sz. 4 SGB V vergleichbar ist mit den

Beispielen der Anlage 2 der Krankenhaustransportrichtlinien oder nicht".



[Abs. 6] Sie hat jedoch nicht hinreichend dargetan, dass diese Rechtsfrage trotz der bereits

vorliegenden Rechtsprechung des BSG (vgl insbesondere BSG SozR 4-2500 § 60 Nr 5) noch

klärungsbedürftig ist.



[Abs. 7] Das BSG hat bereits über die Ausfüllung des auch hier einschlägigen Tatbestandsmerkmals

"hohe Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum" iS von § 8 Abs 2 KrTransp-RL ent-

schieden. Seine Auslegung ist danach zu bestimmen, ob die Behandlung, zu deren Ermög-

lichung die Fahrten durchgeführt werden sollen, mit den in Anlage 2 der RL genannten anderen

Behandlungsformen von ihrem zeitlichem Ausmaß her wertungsmäßig vergleichbar ist; dabei

ist die Häufigkeit einerseits und die Gesamtdauer andererseits gemeinsam zu den

Regelbeispielen der Dialysebehandlung, der onkologischen Strahlentherapie sowie der

onkologischen Chemotherapie in Beziehung zu setzen. Dieser Maßstab ergibt sich aus der

Absicht des Gesetzgebers, ab 1.1.2004 Fahrkosten in der ambulanten Behandlung

grundsätzlich gar nicht mehr zu erstatten und nur in "besonderen" Ausnahmefällen etwas

anderes gelten zu lassen, nicht aber schon breitflächig allgemein in Härtefällen. Dabei hat der

Senat eine "hohe Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum" bei einer dauerhaften

Behandlung angenommen, bei der die Behandlungsfrequenz zumindest einmal pro Woche

beträgt (vgl BSG aaO RdNr 29 ff). Wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat, ist die

gesetzeskonforme Konkretisierung der Ausnahme nach § 60 Abs 1 Satz 3 SGB V durch die

KrTransp-RL nicht aufgrund ranghöheren Rechts erweiternd auszulegen. Mit der Änderung des

§ 60 SGB V zum 1.1.2004 (durch Art 1 Nr 37 des Gesetzes zur Modernisierung der

Gesetzlichen Krankenversicherung vom 14.11.2003 , BGBl I 2190) hat der

Gesetzgeber vielmehr stärker als zuvor auf die medizinische Notwendigkeit der im

Zusammenhang mit der KKn-Leistung erforderlichen Fahrt abgestellt und die Möglichkeit der

KKn, Fahrkosten generell in Härtefällen zu übernehmen, verfassungskonform beseitigt (vgl im

Einzelnen BSG SozR 4-2500 § 60 Nr 1 RdNr 13 f).



- 4 -



[Abs. 8 ] Mit dieser Rechtsprechung und ihren Maßstäben setzt sich die Klägerin nicht im Einzelnen aus-

einander. Die weitere Ausfüllung dieser Maßstäbe bewegt sich im Bereich der Subsumtion,

kann also keine "grundsätzliche" Bedeutung begründen. Die Klägerin legt auch nicht dar, dass

diese Rechtsprechung in den Entscheidungen der Instanzgerichte oder im Schrifttum nachhaltig

auf Kritik gestoßen und deshalb erneut klärungsbedürftig geworden ist. Sie vertritt im

Wesentlichen lediglich, dass die im LSG-Urteil berücksichtigte Behandlungsfrequenz in ihrem

Fall für einen Leistungsanspruch ausreichend sei. Im Kern läuft das Beschwerdevorbringen der

Klägerin darauf hinaus, dass sie die inhaltliche Richtigkeit des zweitinstanzlichen Urteils

angreift. Ein solches Vorbringen vermag die Revisionsinstanz jedoch auch dann nicht zu

eröffnen, wenn die geltend gemachte Rechtswidrigkeit aus einer vermeintlich fehlerhaften

Umsetzung der BSG-Rechtsprechung im Einzelfall hergeleitet wird; denn zulässiger

Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht, ob das Berufungsgericht in der Sache

richtig entschieden hat (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 15).



[Abs. 9] Soweit die Klägerin sinngemäß auch die Rechtsfrage stellt, ob § 115a Abs 2 Satz 4 SGB V da-

hingehend auszulegen sei, dass bei medizinisch notwendigen Kontrolluntersuchungen nach

Organübertragungen nach § 9 Abs 1 Transplantationsgesetz auch die entsprechenden Fahr-

kosten umfasst seien, wird ebenfalls deren Klärungsbedürftigkeit nicht hinreichend dargelegt.

Das BSG hat bereits entschieden, dass § 60 SGB V die Ansprüche auf Fahrkosten abschlie-

ßend regelt (BSG SozR 4-2500 § 60 Nr 5 RdNr 14; BSG SozR 4-2500 § 60 Nr 2 RdNr 12; BSG

SozR 4-2500 § 60 Nr 1 RdNr 9). Auch hierauf geht die Beschwerdebegründung nicht ein.



[Abs. 10 ] Im Übrigen legt die Klägerin zudem die Entscheidungserheblichkeit der angesprochenen

Fragen nicht hinreichend dar, denn das LSG hat den Anspruch der Klägerin auch deshalb

verneint, weil die nach § 60 Abs 1 Satz 3 SGB V notwendige vorherige Genehmigung der KK

gefehlt habe. Die Beschwerdebegründung hätte demnach Ausführungen enthalten müssen,

dass ein Anspruch an dieser Voraussetzung nicht scheitert.



[Abs. 11] 2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat analog § 160a Abs 4 Satz 2 Halbs 2 SGG

ab.



[Abs. 12] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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BSG, B 1 KR 155/06 vom 02.11.2006, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT



Beschluss



in dem Rechtsstreit



Az: B 1 KR 155/06 B



Kläger und Beschwerdeführer,

Prozessbevollmächtigte:



gegen





Barmer Ersatzkasse,

Lichtscheider Straße 89-95, 42285 Wuppertal,

Beklagte und Beschwerdegegnerin.



Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 24. Januar 2007 durch den

Präsidenten von Wulffen sowie die Richter Prof. Dr. Schlegel

und Dr. Hauck



beschlossen:



Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil

des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 2. November 2006 wird als

unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.



- 2 -



Gründe:



I



[Abs. 1] Der bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Kläger ist mit seinem Begehren, 1.410 € Kosten

einer Positronen-Emissions-Tomographie (PET) zur Abklärung des Vorhandenseins von Rezi-

diven oder Metastasen seines operierten Adenokarzinoms des Rektums erstattet zu erhalten, in

den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung

ua ausgeführt, der frühere Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen und jetzige

gemeinsame Bundesausschuss habe die neue Untersuchungsmethode im Zeitpunkt der

Behandlung nicht empfohlen gehabt. Auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

(BVerfG) vom 6. 12. 2005 (1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5) könne

sich der Kläger nicht stützen, da es als Behandlungsalternative zunächst geboten gewesen sei,

eine Kernspintomographie (MRT) durchzuführen. Das Bestehen eines Erstattungsanspruchs

könne auch nicht von nachträglichen Umständen - wie den durch die Tomographien (MRT und

PET) gewonnenen Erkenntnissen - abhängig sein (Urteil vom 2. 11. 2006).



[Abs. 2] Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-

Urteil und beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreits, Divergenz und Ver-

fahrensfehler.



II



[Abs. 3] Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 Satz 3 Sozial-

gerichtsgesetz (SGG) zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2

Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisions-

zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung, der Divergenz und des Verfahrensfehlers

(Zulassungsgründe des § 160 Abs 2 Nr 1, 2 und 3 SGG).



[Abs. 4] 1. Die Beschwerde legt den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nicht hinreichend

dar. Den Darlegungserfordernissen an eine Grundsatzrüge genügt eine Nichtzulassungsbe-

schwerde nur dann, wenn eine Rechtsfrage klar formuliert und ausgeführt wird, inwiefern diese

Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig

und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38;

BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Die

Beschwerde sieht folgende Fragen als grundsätzlich bedeutsam an:

"1) Setzt eine Eintrittspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung außerhalb des Leis-

tungskatalogs gemäß den Grundsätzen der Entscheidung des BVerfG vom



- 3 -



6. Dezember 2005 ausnahmslos und in jedem Fall voraus, dass zuvor das

- theoretische - Spektrum der im Leistungskatalog enthaltenen Behandlungs-/Unter-

suchungsmethoden durchgeführt wurde, oder kommt es entscheidend auf deren

Geeignetheit und Erfolgsaussichten im konkreten Fall an?



2) Ist es dem Patienten in den unter 1) genannten Fällen verwehrt, die fehlende Geeig-

netheit bzw Erfolgsaussicht der im Leistungskatalog enthaltenen Methoden dadurch

nachzuweisen, dass er diese nach Inanspruchnahme der streitgegenständlichen

Behandlung noch durchführen lässt und sich deren Erfolglosigkeit ergibt?"



[Abs. 5] Die Beschwerde hält zudem die Frage für grundsätzlich bedeutsam, "wie die vom BVerfG in der

oa Entscheidung aufgestellten Grundsätze im Falle von Diagnostikmethoden umzusetzen sind".



[Abs. 6] Hinsichtlich der Fragen zu 1) und 2) bedarf es keiner Entscheidung, ob damit eine Rechtsfrage

hinreichend klar bezeichnet ist, denn die Beschwerde geht jedenfalls nicht hinreichend auf die

Klärungsbedürftigkeit der Fragen ein. Ist eine Frage bereits von der höchstrichterlichen Recht-

sprechung entschieden, ist sie grundsätzlich nicht mehr klärungsbedürftig (vgl zB BSG SozR

3-1500 § 160 Nr 8 S 17; BSG SozR 1500 § 160 Nr 51 S 52). Soll gleichwohl eine

grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage geltend gemacht werden, obliegt es dem

Beschwerdeführer darzulegen, in welchem Umfang, von welcher Seite und mit welcher

Begründung der Rechtsprechung widersprochen worden ist bzw die Anforderungen der

Rechtsfrage umstritten sind (vgl zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 51 S 52 mwN). Daran fehlt es.

Die Beschwerde setzt sich nicht mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung auseinander,

wonach es für die Prüfung der Frage, ob eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard

entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, auf die konkreten Verhältnisse des Einzelfalls

ankommt (vgl zB BSG, Urteil vom 4. 4. 2006 - B 1 KR 7/05 R - SozR 4-2500 § 31 Nr 4,

RdNr 21, 31, Tomudex; BSG, Urteil vom 26. 9. 2006 - B 1 KR 1/06 R - RdNr 26 ff, - Ilomedin,

zur Veröffentlichung vorgesehen mwN). Die Beschwerde geht auch nicht auf die

Rechtsprechung ein, wonach für die fehlende Geeignetheit oder Erfolgsaussicht einer

Behandlungsmethode auf den Zeitpunkt der Behandlung, nicht aber auf einen späteren

Zeitpunkt abzustellen ist (vgl zB BSG, Urteil vom 4. 4. 2006 - B 1 KR 12/05 R - RdNr 23 mwN -

interstitielle Brachytherapie, zur Veröffentlichung vorgesehen; BSG, Urteil vom 7. 11. 2006 - B 1

KR 24/06 R - RdNr 15, LITT, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die Beschwerde hat sich

schließlich auch nicht mit derjenigen Rechtsprechung auseinandergesetzt, nach welcher im

Rahmen der Würdigung der voraussichtlichen Erfolgschancen einer Methode zu

Behandlungsbeginn auch später publizierte Kenntnisse Berücksichtigung finden können, soweit

diese im Behandlungszeitpunkt bereits vorgelegen haben (vgl zB BSG, Urteil vom 26. 9. 2006 -

B 1 KR 1/06 R - RdNr 25, 27 - Ilomedin, zur Veröffentlichung vorgesehen; BSG, Urteil vom

7. 11. 2006 - B 1 KR 24/06 R - RdNr 32 ff, LITT, zur Veröffentlichung vorgesehen).



- 4 -



[Abs. 7] Mit der dritten Frage hat die Beschwerde demgegenüber bereits eine Rechtsfrage nicht hinrei-

chend klar formuliert, sondern lediglich eine generelle Problematik aufgezeigt, vergleichbar

etwa mit dem - ebenfalls nicht ausreichenden - Vorbringen, eine Norm sei verfassungswidrig

(vgl zu Letzterem zB BSG, Beschluss vom 22. 7. 1993 - 11 BAr 5/92; BSGE 40, 158 = SozR

1500 § 160a Nr 11; BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 45). Zudem hat sich die Beschwerde auch

insoweit nicht mit der Klärungsbedürftigkeit in Würdigung der höchstrichterlichen

Rechtsprechung auseinander gesetzt, ebenso wenig wie mit der Entscheidungserheblichkeit

der Frage.



[Abs. 8] 2. Soweit sich die Beschwerde auf den Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG beruft und

geltend macht, das LSG-Urteil sei vom Beschluss des BVerfG vom 6. 12. 2005 (aaO) abge-

wichen und beruhe auf dieser Abweichung, fehlt es an § 160a Abs 2 Satz 3 SGG genügenden

Darlegungen. Wer sich auf diesen Zulassungsgrund beruft, muss entscheidungstragende ab-

strakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einer höchstrichterlichen

Entscheidung andererseits gegenüberstellen und begründen, weshalb diese miteinander unver-

einbar seien (vgl zB BSG, Beschluss vom 27. 6. 2005 - B 1 KR 43/04 B; BSG, Beschluss vom


18. 7. 2005 - B 1 KR 110/04 B mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichen-

den Rechtssatz aufgestellt hat und nicht etwa lediglich nur fehlerhaft das Recht angewendet hat

(vgl zB BSG, Beschluss vom 15. 1. 2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160

Nr 26 S 44 f). An der Darlegung eines vom LSG bewusst abweichend aufgestellten Rechtssat-

zes fehlt es. Das LSG hat ausgeführt, der Kläger könne sich nicht auf den Beschluss des

BVerfG vom 6. 12. 2005 (aaO) stützen, da eine schulmedizinische Behandlungsmethode zur

Verfügung gestanden habe. Es sei zunächst geboten gewesen, eine Kernspintomographie

durchzuführen. Wieso die Beschwerde ausgehend von diesen rechtlichen Überlegungen des

LSG zu der Ansicht gelangt, das LSG habe die Auffassung vertreten, alle Behandlungsalterna-

tiven müssten vorab - ungeachtet ihrer Erfolgsaussicht und Geeignetheit im konkreten Fall -

abgespult worden sein, bevor die Rechtsprechung des BVerfG greife, hat sie nicht dargelegt.

Im Kern wendet sich die Beschwerde insoweit vielmehr gegen die Feststellung des LSG, die

Durchführung einer Kernspintomographie sei vorrangig geboten gewesen. Damit legt sie aber

nicht eine Divergenz im Rechtssinne dar.



[Abs. 9] 3. Mit ihrem Vorbringen, das LSG hätte ein Sachverständigengutachten zur Eignung und zum

Erfolg einer Kernspintomographie und zur Überlegenheit der PET einholen müssen, legt die Be-

schwerde ein Verstoß gegen die Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) nicht hinreichend dar. Nach

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend ge-

macht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Ver-

fahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf

eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag be-

zieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Danach hätte die Be-

schwerde im Einzelnen aufzeigen müssen, dass ein Beweisantrag in der Sitzungsniederschrift



- 5 -



protokolliert oder im Urteilstatbestand aufgeführt worden ist, den das Gericht übergangen hat

(vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 20; SozR 1500 § 160 Nr 64). Entsprechender Vortrag fehlt.

Stellt ein anwaltlicher Bevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung beim LSG - wie im Falle

des Klägers - nur noch einen Sachantrag, darf das Gericht davon ausgehen, dass andere,

zuvor schriftsätzlich gestellte Beweisanträge nicht weiter verfolgt werden sollen (vgl BSG SozR

4-1500 § 160 Nr 1 S 2).



[Abs. 10] 4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 3 SGG).



[Abs. 11] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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BSG, B 1 KR 149/06 B vom 15.01.2007, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT



Beschluss

in dem Rechtsstreit

Az: B 1 KR 149/06 B



Kläger und Beschwerdeführer,

Prozessbevollmächtigte:



gegen



Hanseatische Ersatzkasse,

Wandsbeker Zollstraße 86-90, 22041 Hamburg,

Beklagte und Beschwerdegegnerin.



Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 15. Januar 2007 durch den

Präsidenten von W. sowie die Richter Dr. K.

und Dr. H.



beschlossen:



Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil

des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. September 2006 wird als

unzulässig verworfen.



Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.



- 2 -



Gründe:



I



[Abs 1] Der bei der beklagten Ersatzkasse pflichtversicherte Kläger, kaufmännischer Angestellter mit

Anspruch auf sechsmonatige Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall, bezog

Krankengeld (Krg) ab 25. April 2000 wegen derselben Krankheit (Wirbelsäulenleiden und

somatisierte Depression) für 78 Wochen - unter Einrechnung der Zeit fortgezahlten Arbeits-

entgelts - bis zum 26. November 2002. Trotz bis zum 6. Januar 2003 ärztlich bescheinigter

Arbeitsunfähigkeit (AU) nahm der Kläger im Dezember 2002 seine Arbeit wieder auf. Wegen

erneuter AU zahlte seine Arbeitgeberin vom 28. Januar bis zum 27. Juli 2003 Arbeitsentgelt

fort. Mit seinem Begehren, ab 28. Juli 2003 Krg für weitere 140 Tage zu erhalten, ist der Kläger

in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat ua ausgeführt,

die Voraussetzungen eines Krg-Anspruchs nach § 48 Abs 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch

(SGB V) seien ab 28. Juli 2003 nicht erfüllt. Der Kläger habe im Dreijahreszeitraum vom

25. April 2000 bis zum 24. April 2003 wegen derselben Krankheit für 78 Wochen Krg bezogen.

Die sechsmonatige Fortzahlung des Arbeitsentgelts, die den Krg-Anspruch zum Ruhen

gebracht habe (§ 49 Abs 1 Nr 1 SGB V), sei nach § 48 Abs 3 Satz 1 SGB V wie eine Zeit des

Bezugs vom Krg zu berücksichtigen. Nach Beginn des neuen Dreijahreszeitraums mit dem

25. April 2003 habe wegen derselben Krankheit kein neuer Anspruch auf Krg bestanden, weil

der Kläger wegen derselben Krankheit weiterhin arbeitsunfähig und nicht erwerbstätig gewesen

sei oder der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden habe. Die Anrechnung des

sechsmonatigen Entgeltfortzahlungszeitraums auf den Krg-Bezug verstoße nicht gegen den

allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art 3 Abs 1 Grundgesetz (Urteil vom 14. September 2006).

Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-



[Abs 2] Urteil und beruft sich auf Divergenz und auf die grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreits.



II



[Abs 3] Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 Satz 3 Sozial-

gerichtsgesetz (SGG) zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2

Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisions-

zulassungsgründe der Divergenz und der grundsätzlichen Bedeutung (Zulassungsgründe des

§ 160 Abs 2 Nr 2 und 1 SGG).

[Absatz 4] 1. Soweit sich die Beschwerde auf den Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG beruft und

geltend macht, das LSG-Urteil sei vom Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

(BVerfGE 92, 53 = SozR 3-2200 § 385 Nr 6) abgewichen, fehlt es an § 160a Abs 2 Satz 3 SGG



- 3 -



genügenden Darlegungen. Wer sich auf diesen Zulassungsgrund beruft, muss entscheidungs-

tragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einer höchst-

richterlichen Entscheidung andererseits gegenüberstellen und begründen, weshalb diese mit-

einander unvereinbar seien (vgl zB BSG, Beschluss vom 27. Juni 2005 - B 1 KR 43/04 B; BSG,

Beschluss vom 18. Juli 2005 - B 1 KR 110/04 B mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst

einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat und nicht etwa lediglich nur fehlerhaft das

Recht angewendet hat (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f). An der Darlegung

eines vom LSG bewusst abweichend aufgestellten Rechtssatzes fehlt es. Die Beschwerde legt

lediglich dar, dass das LSG einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz unter

Hinweis auf Entscheidungen des BVerfG (BVerfGE 79, 224 = SozR 2200 § 180 Nr 46; 53, 313

= SozR 4100 § 168 Nr 12) verneint hat, nicht aber die von der Beschwerde für einschlägig

erachtete Entscheidung des BVerfG vom 11. Januar 1995 (BVerfGE 92, 53 = SozR 3-2200

§ 385 Nr 6) zugrunde gelegt hat. Damit legt die Beschwerde indessen keine Divergenz im

Sinne eines bewussten Aufstellens abweichender Rechtssätze dar.



[Abs 5] 2. Die Beschwerde legt auch den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nicht hinrei-

chend dar. Den Darlegungserfordernissen an eine Grundsatzrüge genügt eine Nichtzulas-

sungsbeschwerde nur dann, wenn eine Rechtsfrage klar formuliert und ausgeführt wird, inwie-

fern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungs-

bedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a

Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN).

Die Beschwerde sieht die Frage als grundsätzlich bedeutsam an, ob die Bestimmung des § 48

Abs 3 Satz 1 SGB V verfassungsgemäß ist. Es bedarf keiner Entscheidung, ob damit eine

Rechtsfrage hinreichend klar bezeichnet ist, obwohl die bloße Behauptung der Verfassungswid-

rigkeit einer Norm hierfür regelmäßig nicht genügt (vgl zB BSG, Beschluss vom 22. Juli 1993

- 11 BAr 5/92; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; vgl auch BVerfG SozR 1500 § 160a

Nr 45). Auch wenn man insoweit die Begründung zum Vorliegen einer Divergenz in die

Beschwerdebegründung für die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache einbezieht, geht

die Beschwerde jedenfalls nicht hinreichend auf die Klärungsbedürftigkeit der Frage ein. Ist eine

Frage bereits von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entschieden, ist sie grundsätzlich

nicht mehr klärungsbedürftig (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17; BSG SozR 1500 § 160

Nr 51 S 52). Soll gleichwohl eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage geltend gemacht

werden, obliegt es dem Beschwerdeführer darzulegen, in welchem Umfang, von welcher Seite

und mit welcher Begründung der Rechtsprechung widersprochen worden bzw die Anforderun-

gen der Rechtsfrage umstritten ist (vgl zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 51 S 52 mwN). Daran fehlt

es. Die Beschwerde nimmt schon nicht die höchstrichterliche Rechtsprechung in den Blick, die

bereits die Vorgängerregelung in § 189 Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 385 RVO als

eine verfassungskonforme Ausgestaltung des Leistungsrechts angesehen hat (vgl BSGE 56,

191 = SozR 2200 § 385 Nr 6). Zudem geht die Beschwerde nicht auf die Rechtsprechung ein,

wonach der Ausschluss von Doppelleistungen, der der Ruhensregelung in § 49 SGB V



- 4 -



zugrunde liegt, und an den § 48 Abs 3 Satz 1 SGB V anknüpft, aus Gründen der Gleichbehand-

lung nicht nur sachlich gerechtfertigt, sondern geradezu als geboten angesehen werden kann

(vgl BSG SozR 3-2500 § 49 Nr 3 S 8 mwN). Schließlich setzt sich die Beschwerde auch nicht

damit auseinander, dass die von ihr selbst zitierte Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 92, 53,

71 = SozR 3-2200 § 385 Nr 6 S 21) es als verfassungskonform ansieht, dass im

Sozialversicherungsrecht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einerseits Maßstab für die

Heranziehung zu Beiträgen ist, andererseits die durch den Versicherungsfall verursachte

Einbuße an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit Maßstab für die Berechnung von Lohner-

satzleistungen ist. Fehlt es an einer durch den Versicherungsfall verursachten Einbuße an wirt-

schaftlicher Leistungsfähigkeit, ist - jedenfalls ohne eingehende, hier fehlende Darlegungen -

nicht ersichtlich, wieso Raum für Lohnersatzleistungen sein soll. Ebenso wenig ist ohne

entsprechende, hier nicht vorhandene Darlegungen ersichtlich, wieso derjenige, der volles

Arbeitsentgelt bezieht, beitragsrechtlich zu privilegieren wäre. Die Beschwerde geht auch nicht

darauf ein, dass vorliegend lediglich die Leistungs-, nicht aber die Beitragsseite betroffen ist.



[Abs 6] 3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 3 SGG).



[Abs 7] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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BSG, B 1 KR 128/09 B vom 21.01.2009, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss

in dem Rechtsstreit

Az: B 1 KR 128/09 B
L 5 KR 100/08 (LSG Rheinland-Pfalz)
S 5 KR 118/06 (SG Trier)

Klägerin und Beschwerdeführerin,

Prozessbevollmächtigter:

gegen

BARMER GEK,

Axel-Springer-Straße 44, 10960 Berlin,

Beklagte und Beschwerdegegnerin.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 21. Januar 2010 durch den
Präsidenten M., den Richter Dr. K. und die Richterin
Dr. B.
beschlossen:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des
Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. August 2009 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

[Abs 1]
Die 1957 geborene, bei der beklagten Ersatzkasse versichert gewesene Klägerin, die an se-
kundär progredienter Multipler Sklerose leidet, ist mit ihrem Begehren auf Erstattung der ihr von
März 2005 bis 28.2.2009 entstandenen Kosten (132 Euro pro Quartal, insgesamt 2.112 Euro)
für das Mittel "Algonot plus" in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Landes-
sozialgericht (LSG) hat die Berufung gegen das klageabweisende erstinstanzliche Urteil
zurückgewiesen und ua ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch nach § 13 Abs 3 Satz 1
Fall 2 SGB V: Das hier betroffene Mittel unterfiele - wäre es ein Arzneimittel - mangels erforder-
licher arzneimittelrechtlicher Zulassung nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenver-
sicherung. Wäre "Algonot plus" dagegen als Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel ein-
zustufen, scheitere die Leistungspflicht der Beklagten daran, dass solche Mittel grundsätzlich
nicht beansprucht werden könnten und dass die Bestandteile des Mittels nicht unter die Aus-
nahmeregelungen fielen, die der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) nach § 31 Abs 1
Satz 2 SGB V in den Arzneimittel-Richtlinien festgelegt habe. Leistungsrechtliche Er-
leichterungen kämen weder unter dem Blickwinkel eines sog Seltenheitsfalls noch unter
demjenigen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6.12.2005
(BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5) in Betracht; die Krankheit der Klägerin sei nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht als lebensbedrohlich einzustufen und
stehe einer solchen Krankheit auch nicht gleich. Ferner fehle es an einer nicht ganz fern
liegenden Aussicht auf eine positive Einwirkung des Mittels auf den Krankheitsverlauf (Urteil
vom 20.8.2009).

[Abs 2]
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-
Urteil.

II

[Abs 3]
Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2
SGG iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a
Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Re-
visionszulassungsgründe nach § 160 Abs 2 Nr 1 und Nr 2 SGG.

[Abs 4]
1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160
Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese
Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig

- 3 -

und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38;
BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; s auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Die
Klägerin formuliert die Rechtsfrage, "ob die Arzneimittelrichtlinien den gesetzlichen An-
forderungen des § 34 Abs 1 Satz 2 und 3 SGB V sowie § 92 Abs 2 Satz 2 SGB V entsprechen";
sie meint, die Vorgehensweise des GBA führe "zwangsläufig zu einem ... Systemversagen".
Damit werden die Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung indessen
nicht erfüllt. Die Klägerin übersieht, dass sich das LSG in dem hier zu entscheidenden Fall -
anders als in dem Beschwerdeverfahren B 1 KR 127/09 B - gar nicht auf Ausnahmeindikationen
von der Verschreibungspflicht nach § 34 SGB V gestützt hat, sondern auf andere tatsächliche
und rechtliche Gesichtspunkte (fehlende Arzneimittelzulassung; fehlende Ausnahmeindikation
für Lebens- bzw Nahrungsergänzungsmittel nach § 31 Abs 1 Satz 2 SGB V). Damit aber fehlt
es schon an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage.

[Abs 5]
2. Die Klägerin macht als Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG geltend, das LSG-
Urteil weiche vom Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 (aaO) ab. Auch damit kann sie jedoch
nicht durchdringen. Um eine Rechtsprechungsdivergenz entsprechend den Anforderungen des
§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG darzulegen, müssen nämlich entscheidungstragende abstrakte
Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in dem heran-
gezogenen höchstrichterlichen Urteil andererseits gegenübergestellt und Ausführungen dazu
gemacht werden, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (vgl zB Leitherer in:
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 160a RdNr 15 ff, § 160 RdNr 10 ff,
jeweils mwN). Das Beschwerdevorbringen enthält darauf bezogen keine hinreichenden Aus-
führungen. Es wird schon nicht behauptet, dass das LSG (das dem BVerfG folgen wollte) einen
vom BVerfG abweichenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt habe, aus dem sich das Bedürf-
nis nach Herstellung von Rechtseinheit in einem Revisionsverfahren ergibt. Geltend gemacht
wird im Kern vielmehr nur, dass das LSG-Urteil auf einer fehlerhaften Anwendung der Recht-
sprechung des BVerfG beruhe; dazu wird dann auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen
der Klägerin verwiesen, welche abweichend von der Einschätzung des LSG das Kriterium der
besonderen Krankheitsschwere erfüllten (die wiederum erst Voraussetzung für eine grund-
rechtsorientierte Erweiterung des Leistungsspektrums auf der Rechtsfolgenseite wäre). Das
Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde dient indessen nicht dazu, die angezweifelte sach-
liche Richtigkeit der Begründung des LSG erneut durch das BSG umfassend überprüfen zu
lassen.

[Abs 6]
3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

[Abs 7]
4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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BSG, B 1 KR 110/04 B vom 18.07.2005, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT







Beschluss







in dem Rechtsstreit







Az: B 1 KR 110/04 B







Klägerin und Beschwerdeführerin,







Prozessbevollmächtigte:







gegen







Deutsche Angestellten-Krankenkasse,



Nagelsweg 27-31, 20097 Hamburg,







Beklagte und Beschwerdegegnerin.







Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 18. Juli 2005 durch den



Präsidenten von W. sowie die Richter Dr. K.



und Dr. H.



beschlossen:







Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landes-



sozialgerichts Hamburg vom 14. Juli 2004 wird als unzulässig verworfen.



Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.









- 2 -







Gründe:



I







[Abs 1] Die am 30. November 1995 geborene Klägerin ist mit ihrem Begehren, wegen idiopathischen



Kleinwuchses ab 14. Juli 2004 von der Beklagten eine Therapie mit dem für diese Indikation



nach deutschem Arzneimittelrecht nicht zugelassenen Arzneimittel Somatropin zu erhalten, in



den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat ua ausgeführt, die



Voraussetzungen des Anspruchs aus § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch



(SGB V) und § 31 Abs 1 SGB V seien unter Berücksichtigung der Einschränkungen aus § 2



Abs 1 Satz 3 SGB V und § 12 Abs 1 SGB V nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundes-



sozialgerichts (, Urteil vom 19. März 2002, B 1 KR 37/00 R, BSGE 89, 184 = SozR



3-2500 § 31 Nr 8) nicht erfüllt. Es bleibe dahingestellt, ob und wann ein (idiopathischer) Klein-



wuchs eine Krankheit iS von § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V sei. Von einer schwerwiegenden



(lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkran-



kung könne der Senat nach dem Eindruck in der mündlichen Verhandlung nicht ausgehen, zu-



mal sich die Klägerin noch in vorpubertärem Alter befinde und ihr Wachstumsprozess nicht



abgeschlossen sei. Selbst wenn man dies aber und zugleich unterstelle, dass eine andere The-



rapie nicht verfügbar sei, könne jedenfalls von einem Konsens in den einschlägigen



Fachkreisen über einen voraussichtlichen Nutzen des Arzneimittels nicht gesprochen werden



(Urteil vom 14. Juli 2004).







[Abs 2] Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-



Urteil. Sie macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Divergenz und Verfahrens-



fehler geltend.









II









[Abs 3] Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 Satz 3 Sozial-



gerichtsgesetz (SGG) zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2



Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisions-



zulassungsgründe nach § 160 Abs 2 Nr 1, 2 und 3 SGG.







[Abs 4] 1. Soll die Revision nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechts-



sache zugelassen werden, muss in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung



dargelegt werden (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu ist es nach der ständigen Rechtspre-



chung des BSG erforderlich, eine Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie



über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt, und dass die Rechtsfrage klärungsbe-



dürftig sowie klärungsfähig ist, dh sie im Falle der Zulassung der Revision entscheidungserheb-



lich wäre (vgl Senat, Beschluss vom 28. Februar 2005, B 1 KR 6/04 B; BSG SozR 3-1500









- 3 -









§ 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f



mwN). Wird ein Urteil - wie vorliegend - nebeneinander auf mehrere selbstständige Begründun-



gen gestützt, so kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nur dann zur Zulassung der Revision



führen, wenn im Hinblick auf jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund vorliegt und form-



gerecht gerügt wird (vgl Senat, Beschluss vom 24. März 2005, B 1 KR 94/04 B; Senat, Be-



schluss vom 16. Juni 1998, B 1 KR 5/98 B; BSG SozR 1500 § 160a Nr 38; Hennig, SGG,



§ 160a RdNr 207 mwN). Hieran fehlt es. Das LSG hat die Berufung der Klägerin



zurückgewiesen,weildergeltendgemachteAnspruchausmehrerenvoneinander



unabhängigen Gründen nicht bestehe: Zum einen sei der idiopathische Kleinwuchs, soweit es



sich überhaupt um eine Krankheit handele, jedenfalls keine schwerwiegende Krankheit. Zum



anderen bestehe auf Grund der Datenlage nicht die begründete Aussicht, dass mit dem



betroffenen Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Im Hinblick auf diese, die



Entscheidung jeweils selbstständig tragenden Begründungen im LSG-Urteil hätte die



Beschwerdefürbeide voneinanderunabhängigeBegründungsstränge



Revisionszulassungsgründe behaupten und darlegen müssen. Daran fehlt es.









[Abs 5] Bereits die Darlegungen der Beschwerde zum ersten Begründungsstrang reichen nicht hin. Die



Beschwerde bezieht sich insoweit auf den Seiten 5 f und 9 f der Beschwerdebegründung auf



mehrere Rechtsfragen, die unterschiedlich formuliert und (teilweise in den Fragestellungen



selbst) mit weiterem tatsächlichen und rechtlichen Vorbringen untermauert werden. Diese Fra-



gen werden schlussendlich auf Seite 16 sinngemäß und - den Darlegungserfordernissen des



§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG entsprechend - hinreichend klar wie folgt zusammengefasst:









[Abs 6] 1. Wann ist eine schwerwiegende, dh die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig



beeinträchtigende Erkrankung anzunehmen?









[Abs 7] 2. KönnenStudienergebnisse ausausländischen abgeschlossenen



Zulassungsverfahren als ausreichende Erkenntnisse zum Nachweis dafür



herangezogen werden, dass mit einem in Deutschland zulassungsüberschreitend



angewandten Arzneimittel ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden



kann bzw dass in Fachkreisen Konsens über den Einsatz des Arzneimittels für die



konkrete streitige Indikation besteht?









[Abs 8] Bezüglich dieser Fragen ist indessen nicht erkennbar, dass sie in dem angestrebten Revisions-



verfahren klärungsfähig bzw entscheidungserheblich sein können.









[Abs 9] Insoweit ist von Bedeutung, dass das LSG zu Frage 1. angenommen hat, dass eine die ge-



nannten Ausmaße erreichende Krankheit bei der Klägerin nicht bestehe. Es hat sich dazu zum



einen auf den Wachstumsprozess der Klägerin gestützt, die sich noch in einem vorpubertären



Alter befinde, und zum anderen darauf, dass nach dem Eindruck, den der Senat in der münd-



lichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen habe, nicht festgestellt werden könne, dass sie









- 4 -









durch ihre Körpergröße in ihrer Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt sei. Hinzuweisen ist



weiter darauf, dass der Senat im Sandoglobulin®-Urteil (BSGE 89, 184 191 f = SozR 3-2500



§ 31 Nr 8) den Ausgangspunkt des Vorliegens einer "schwerwiegenden" Erkrankung bereits



dahin näher definiert hat, dass es um eine "lebensbedrohende oder die Lebensqualität auf



Dauer nachhaltig beeinträchtigende" Krankheit gehen muss. Die Beschwerde wirft in



Ergänzung dieser Rechtsprechung letztlich nur die Frage auf, in welcher Weise die



beschriebenen Merkmale weiter konkret auszufüllen sind. Dies wird daran deutlich, dass sie



sich hierzu auf den Seiten 6 bis 9 ihrer Begründung ausführlich mit der besonderen Situation



der Klägerin befasst und sich dazu auf das bei ihr bestehende Leiden (= Kleinwuchs im



Kindesalter) bezieht. Es bestand vor dem aufgezeigten Hintergrund indessen sowohl Anlass, im



Einzelnen darzulegen, dass es bei der aufgeworfenen Frage um eine Rechtsfrage von



allgemeiner, über den Einzelfall der Klägerin und ihre spezifische Erkrankung hinausgehende



Bedeutung geht, als auch die Notwendigkeit darauf einzugehen, dass hier nicht lediglich eine



(mit Blick auf § 163 SGG) nur mit Verfahrensrügen angreifbare Tatfrage im Raum steht. Die



Frage, ob das LSG den Sachverhalt zutreffend unter einen in der höchstrichterlichen



Rechtsprechung bereits mit Auslegungshinweisen versehenen Rechtsbegriff subsumiert hat, ist



regelmäßig kein im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren beachtlicher Gesichtspunkt (vgl



§ 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG). Zum anderen kann angesichts der Vielzahl der in der Medizin



diskutierten Krankheitsbilder die Frage nach den Behandlungsmöglichkeiten und dem



Behandlungsanspruch für ein einzelnes Leiden nicht in den Rang einer Rechtsfrage von



grundsätzlicher Bedeutung gehoben werden (vgl zB Beschlüsse des Senats vom 20. Juni 2004



- B 1 KR 1/03 B, vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 92/03 B und vom 21. Dezember 2004 - B 1 KR



11/03 B). Unter dem Blickwinkel, ob die Frage in einem Revisionsverfahren überhaupt



klärungsfähig ist, hätte die Beschwerde vor allem darauf eingehen müssen, dass ein



allgemeiner Bedarf bestehen soll und es überhaupt möglich ist, die im Sandoglobulin-Urteil



aufgestellten Voraussetzungen für einen Off-Label-Use in Bezug auf das streitige Merkmal



revisionsrechtlich weiter zu präzisieren. Hierzu hätte dargelegt werden müssen, dass eine



genauere Konkretisierung der Merkmale unter Zuhilfenahme allgemein gültiger Kriterien



unabhängig von den Verhältnissen im Zusammenhang mit einer einzelnen Krankheit in



Betracht kommt. Daran fehlt es.









[Abs 10] Soweit die Beschwerde mit ihrer zweiten Frage eine weitere Voraussetzung des Off-Label-Use



im Falle der Klägerin für grundsätzlich bedeutsam hält, fehlt es an der Entscheidungserheblich-



keit. Der Senat dürfte - wie dargelegt - in einem Revisionsverfahren schon nicht zu Grunde le-



gen, dass hier das vorgreifliche Merkmal einer bestehenden schwerwiegenden Erkrankung er-



füllt ist.









[Abs 11] 2. Auch soweit sich die Beschwerde auf den Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG be-



ruft und geltend macht, das LSG-Urteil sei vom Urteil des Senats vom 19. Oktober 2004,



B 1 KR 27/02 R (vorgesehen für BSGE und SozR) abgewichen, fehlt es an § 160a Abs 2 Satz 3









- 5 -









SGG genügenden Darlegungen. Wer sich auf diesen Zulassungsgrund beruft, muss entschei-



dungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einer



höchstrichterlichen Entscheidung andererseits gegenüberstellen und begründen, weshalb diese



miteinander unvereinbar seien (vgl Senat, Beschluss vom 27. Juni 2005, B 1 KR 43/04 B;



Senat, Beschluss vom 28. Februar 2005, B 1 KR 10/04 B; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,



SGG, 8. Aufl 2005, § 160a RdNr 15, § 160 RdNr 10 ff mwN). Daran fehlt es. Die Beschwerde



zitiert zwar Passagen aus dem Urteil des BSG, benennt aber keinen dazu konträren Rechtssatz



des LSG-Urteils, aus dem sich die Notwendigkeit zur Herstellung von Rechtseinheit durch eine



höchstrichterliche Entscheidung ergeben könnte. Während das BSG in der zitierten Entschei-



dung sich mit Maßnahmen zur Behandlung einer Krankheit auseinander setzt, die so selten



auftritt, dass ihre systematische Erforschung praktisch ausscheidet, geht das LSG-Urteil nicht



von einem solchen Sachverhalt aus. Dies stellt indessen keine Divergenz iS eines bewussten



Aufstellens abweichender Rechtssätze dar (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26).









[Abs 12] 3. Soweit die Beschwerde vorbringt, das LSG hätte bezüglich des Vorliegens einer schwerwie-



genden Erkrankung sowie zum Bestehen ausreichender Kenntnisse aus Studien der Phase III



über den Einsatz von Somatropin bei idiopathischem Kleinwuchs Beweis erheben müssen, legt



sie einen Verfahrensfehler nicht in der gebotenen Weise dar. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist



die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird, auf dem die ange-



fochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nach



Halbsatz 2 der Regelung auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich



auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.



Insoweit fehlt es an der Bezugnahme auf einen berücksichtigungsfähigen Beweisantrag. Hierzu



geht das BSG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es jedenfalls rechtskundig vertre-



tenen Beteiligten wie hier der rechtsanwaltlich vertretenen Klägerin obliegt, in der mündlichen



Verhandlung alle diejenigen Anträge zur Niederschrift des Gerichts zu stellen, über die das Ge-



richt entscheiden soll (vgl Senat, Beschluss vom 27. Juni 2005, B 1 KR 40/04 B mwN). Sinn der



erneuten Antragstellung ist es, zum Schluss der mündlichen Verhandlung auch darzustellen,



welche Anträge nach dem Ergebnis der für die Entscheidung maßgebenden mündlichen Ver-



handlung noch abschließend gestellt werden, mit denen sich das LSG dann im Urteil befassen



muss, wenn es ihnen nicht folgt. Dem genügt die Beschwerde mit ihrem Hinweis nicht, die Klä-



gerin habe ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 14. Juli 2004 hilfsweise beantragt,



Dr. A zur Kausalität zwischen Somatropin-Therapie und Wachstum zu vernehmen.



Ungeachtet der Frage, ob damit eine bloße Beweisanregung oder tatsächlich ein Beweisantrag



bezeichnet wird (vgl hierzu §§ 373, 404 Zivilprozessordnung iVm § 118 SGG und Senat,



Beschluss vom 16. März 2005, B 1 KR 19/04 B; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9), bezeichnet die



Beschwerde damit keinen Beweisantrag zum Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung



oder zum Bestehen ausreichender Erkenntnisse. Der Hinweis auf frühere Äußerungen der



Klägerin in Schriftsätzen für das Gericht genügt unter Berücksichtigung der Warnfunktion, die



- wie dargelegt - der Antragswiederholung zukommen soll, gerade nicht.









- 6 -









[Abs 13] Soweit die Beschwerde mit dem Vortrag, die Klägerin habe nicht davon ausgehen müssen,



dass das Gericht den mit Schriftsatz vom 11. Juli 2004 vorgelegten Urkunden keine Beachtung



schenke, beabsichtigt haben sollte, die Gehörsrüge zu erheben, so ist diese ebenfalls nicht hin-



reichend dargelegt. Die Beschwerde setzt sich insoweit nicht damit auseinander, dass das



LSG-Urteil ausdrücklich auf Seite 7 im ersten Absatz der Entscheidungsgründe auf die



überreichten Urkunden, das Schreiben der Fa. Lvom 9. Juli 2004, eingeht und den



kanadischen Pädiater Prof. G zitiert hat, der nicht davon ausgehe, "dass gesunde



Kleinwüchsige unterm Strich von der Therapie profitieren" würden. Im Kern geht es der



Beschwerde auch an dieser Stelle um die Beweiswürdigung des LSG-Urteils. Nach § 160 Abs 2



Nr 3 2. Halbsatz SGG kann die Beschwerde aber nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1



Satz 1 SGG gestützt werden.







[Absatz 14] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

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BSG, B 14 EG 6/98 B vom 28.01.1999, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT


Beschluß
in dem Rechtsstreit



Az: B 14 EG 6/98 B



Klägerin und Beschwerdeführerin,
Prozeßbevollmächtigter:



gegen



Land Nordrhein-Westfalen,
vertreten durch das Landesversorgungsamt Nordrhein-Westfalen,
Von-Vincke-Straße 23-25, 48143 Münster,
Beklagter und Beschwerdegegner.



Der 14. Senat des Bundessozialgerichts hat am 28. Januar 1999 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. L. , die Richter Dr. U. und
Dr. N. sowie den ehrenamtlichen Richter Dr. D. und die
ehrenamtliche Richterin P.
beschlossen:


Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil
des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. April 1998 wird zurück-
gewiesen.



Kosten sind nicht zu erstatten.



-2-

Gründe:



Die Klägerin begehrt rückwirkende Gewährung von Erziehungsgeld (Erzg) für ihre 1987
geborene Tochter. Sie lebte während der möglichen Bezugszeit des Erzg mit ihrer Familie
in Belgien. Ein seinerzeit gestellter Antrag ist von dem Beklagten unter Hinweis auf ihren
Wohnsitz durch bindenden Bescheid abgelehnt worden. Im Hinblick auf das Urteil des Eu-
ropäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen H und Z (C 245/94 und
312/94) machte die Klägerin im November 1996 erneut den Anspruch auf Erzg geltend;
ihr stehe ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zu, da sie einen Antrag auf Überprü-
fung des bindenden Bescheides und auf Gewährung von Erzg innerhalb der Ausschluß-
frist des § 44 Abs 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nur deshalb versäumt habe,
weil der Beklagte bei der Bescheidung der von ihr anläßlich der Geburt weiterer Kinder in
den Jahren 1990 und 1992 gestellten Anträge auf Erzg weiterhin seine unzutreffende
Rechtsauffassung zugrunde gelegt und sie nicht darauf hingewiesen habe, daß die Frage
der Erzg-Berechtigung von deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen
Mitgliedstaat der Europäischen Union und einem Beschäftigungsverhältnis in Deutschland
bereits Gegenstand eines Rechtsstreits vor dem Landessozialgericht (LSG) gewesen und
von diesem anders beurteilt worden sei als von dem Beklagten. Aus diesem
Fehlverhalten sei ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch erwachsen, der die
Versäumung der Ausschlußfrist des § 44 Abs 4 SGB X heile. In den Vorinstanzen hatte
die Klägerin keinen Erfolg. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.


Mit der dagegen erhobenen Beschwerde macht die Klägerin die grundsätzliche Bedeu-
tung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ) und einen Verfah-
rensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend. Die Frage, ob die Begrenzung einer rückwir-
kenden Leistungsgewährung auf einen Zeitraum von vier Jahren in § 44 Abs 4 SGB X
auch auf den der Klägerin hier zustehenden sozialrechtlichen Herstellungsanspruch an-
zuwenden sei, sei in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht einheit-
lich entschieden worden, was sich insbesondere aus den Urteilen des BSG in SozR 1300
§ 44 Nr 18 einerseits sowie in SozR 1300 § 44 Nr 17 und BSGE 60, 158 andererseits er-
gebe. Diese Rechtsfrage bedürfe weiterer Klärung. Außerdem habe das LSG das Recht
der Klägerin auf Gehör verletzt, weil es das Vorbringen der Klägerin unberücksichtigt ge-
lassen habe, daß dem Beklagten die europarechtliche Fragestellung rechtzeitig bekannt
gewesen sei.


Die Beschwerde der Klägerin ist unbegründet. Sie kann eine Zulassung der Revision we-
der wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) noch
wegen des Vorliegens eines Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründen. Die
Revision kann wegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur zugelassen
werden, wenn die zu entscheidende Rechtsfrage klärungsbedürftig und klärungsfähig ist.
Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, die sich nicht unmittelbar und ohne weiteres aus

-3-



dem Gesetz beantworten läßt und von der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht
entschieden worden ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8). Klärungsfähig ist die Rechts-
frage nur, wenn sie im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich ist (vgl
BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.


Das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß die Anwendung des sozial-
rechtlichen Herstellungsanspruchs dann nicht in Betracht kommt, wenn das fehlerhafte
Handeln der Verwaltung (nur) in einer falschen Sachentscheidung liegt und sich die Fol-
gen darin erschöpfen. Denn für das in richterlicher Rechtsfortbildung entwickelte
Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ist nur dort Raum, wo es an
gesetzlichen Regelungen fehlt (vgl zuletzt Bundesverwaltungsgericht, NJW 1997, 2966).
Dies ist hinsichtlich der Behandlung rechtswidriger Verwaltungsakte nicht der Fall. Hier
hat der Gesetzgeber dem Betroffenen zunächst das Recht eingeräumt, die im SGG vor-
gesehenen Rechtsbehelfe einzulegen (Widerspruch, Klage, Berufung usw). Ist ein derar-
tiger Bescheid bestandskräftig geworden (vgl § 77 SGG), besteht die Möglichkeit eines
Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X. Damit ist die Korrektur von Verwaltungsentschei-
dungen, welche die Rechte eines Betroffenen verletzen, grundsätzlich abschließend ge-
regelt (so die neueste Rechtsprechung des BSG im Anschluß an: BSGE 60, 158, 164 ff
= SozR 1300 § 44 Nr 23, vgl Urteil des 13. Senats vom 30. Oktober 1997 - 13 RJ 71/96
= SGb 1998, 110 sowie Urteil des 5. Senats vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 36/96 = NZS 1998,
247, beide zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).


Allerdings hat die Rechtsprechung des BSG einen Herstellungsanspruch dann für möglich
gehalten, wenn sich der Nachteil des Betroffenen nicht in der Versagung der Leistung
durch einen bindend gewordenen Bescheid erschöpft, sondern darauf beruht, daß der
Betroffene im Vertrauen auf die Richtigkeit der dem Bescheid zugrundeliegenden Rechts-
auffassung andere, ihm günstige Maßnahmen unterlassen hat (BSG SozR 1300 § 44
Nr 18), insbesondere eine anderweitige rechtzeitige Antragstellung. Insoweit ist der Vor-
trag der Klägerin nachvollziehbar, daß die ebenfalls unrichtigen späteren Bescheide über
das Erzg für die weiteren Kinder von 1990 und 1992 als solche zwar nach § 44 SGB X
korrigierbar waren und insoweit, als es um die Leistungsversagung in diesen beiden Fäl-
len ging, die Anwendung des Herstellungsanspruchs ausschlossen, nicht aber insoweit,
als der erste, hier streitige Fall betroffen ist, für den als Fehlverhalten der Verwaltung nicht
nur die falsche Bescheiderteilung an sich, sondern eine Bestätigung der falschen Rechts-
auffassung in den nachfolgenden Bescheiden sowie eine unterbliebene Aufklärung über
die anderweitig anhängigen Verfahren geltend gemacht wird, was zur Versäumung der
Frist des § 44 Abs 4 SGB X geführt habe.


Auch wenn die Klägerin im Wege des Herstellungsanspruchs so gestellt werden müßte,
daß ihr erst 1996 gestellter "Zugunstenantrag" bereits als 1992 gestellt gilt, führt dies je-
doch nicht dazu, daß ihr Leistungen rückwirkend ab 1988 zu gewähren wären. Denn es ist

-4-



- wie das BSG bereits geklärt hat (vgl BSGE 60, 245) - auf den Herstellungsanspruch die
eine rückwirkende Leistungsverpflichtung begrenzende Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X
entsprechend anwendbar, so daß hier eine nachträgliche Leistung für die Zeit vor 1992
nicht mehr in Betracht kommt. Auch wenn der Fall einer Wiedereinsetzung wegen
Versäumung der Frist des § 44 Abs 4 SGB X im Wege des Herstellungsanspruchs (vgl
dazu Ladage, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, 1990, 87, 92) in der Rechtspre-
chung des BSG noch nicht entschieden worden ist, bedarf es nicht der Durchführung ei-
nes Revisionsverfahrens in dieser Sache. Die Entscheidung läßt sich ohne weiteres an-
hand der bisherigen Rechtsprechung treffen, die § 44 Abs 4 SGB X als Ausdruck eines
allgemeinen Rechtsgedankens bezeichnet hat, der eine mehr als vier Jahre zurückrei-
chende Leistungserbringung ausschließt (BSGE 60, 245).


Der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensfehler der Verletzung des rechtlichen
Gehörs kann nicht zur Zulassung der Revision führen, weil er - als gegeben unterstellt - in
der Sache nicht zum Erfolg führen könnte.



Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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BSG, B 11a AL 11/07 B vom 23.01.2007, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluss
in dem Rechtsstreit
Az: B 11a AL 11/07 B

L 3 AL 2271/04 (LSG Baden-Württemberg)
S 5 AL 2169/98 (SG Konstanz)

.....................................................,
Klägerin und Beschwerdeführerin,
Prozessbevollmächtigter:
............................................................,

g e g e n


Bundesagentur für Arbeit,
Regensburger Straße 104, 90478 Nürnberg,
Beklagte und Beschwerdegegnerin.

Der 11a. Senat des Bundessozialgerichts hat am 21. August 2007 durch
die Vizepräsidentin Dr. W.-S. sowie den Richter
Dr. V. und die Richterin Dr. R.

beschlossen:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landes-
sozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Dezember 2006 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.


- 2 -

G r ü n d e :

[1] Die ausschließlich auf Verfahrensfehler des Landessozialgerichts (LSG) gestützte Beschwerde
ist unzulässig, da ihre Begründung nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialge-
richtsgesetz (SGG) entspricht.

[2] Nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG muss in der Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde ein
geltend gemachter Verfahrensmangel bezeichnet werden. Eine ordnungsgemäße Bezeichnung
setzt voraus, dass die verletzte Verfahrensnorm und die eine Verletzung vermeintlich begrün-
denden Tatsachen substantiiert und schlüssig dargelegt werden (stRspr, ua BSG SozR 1500
§ 160a Nr 14 und SozR 3-1500 § 73 Nr 10). Eine solche Darlegung ist der von der Beschwer-
deführerin vorgelegten Begründung nicht zu entnehmen.

[3] Die Beschwerdeführerin rügt in ihrer Beschwerdebegründung vom 23. Januar 2007, das LSG
habe das rechtliche Gehör (§ 62 SGG) dadurch verletzt, dass es am 13. Dezember 2006 ent-
schieden habe, obwohl sie mit Schreiben vom 12. Dezember 2006 die Aufhebung des Termins
und eine Verschiebung um sechs Wochen beantragt habe. Es kann dahinstehen, ob in der Be-
schwerdebegründung überhaupt hinreichende Gründe für eine Terminverlegung wegen Ver-
hinderung dargelegt werden. Ein erheblicher Grund für eine Terminverlegung liegt grundsätzlich
nur bei einer plötzlichen Verhinderung vor (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 8. Aufl
2005, § 62 Rz 6d mwN). Zweifel an der Plötzlichkeit der Verhinderung, die durch die Beschwer-
debegründung nicht beseitigt werden, ergeben sich insbesondere aus der Art der behaupteten
Umstände.

[4] Abgesehen davon, dass die Beschwerdebegründung den Verfahrensgang in der Vorinstanz
nicht lückenlos nachgezeichnet hat (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 62), fehlt es jedenfalls
an einem schlüssigen Vortrag zu der Frage, in welcher Weise der Vertagungsgrund durch die
Klägerin glaubhaft gemacht worden ist. Nach dem gemäß § 202 SGG auch im Verfahren der
Sozialgerichtsbarkeit anwendbaren § 227 Abs 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) kann ein
Termin aus erheblichen Gründen aufgehoben oder vertagt werden. Die Entscheidung liegt im
Ermessen des Vorsitzenden bzw des Gerichts, doch hat das Gesetz Maßnahmen dieser Art zur
Straffung des Verfahrens an erhebliche Gründe geknüpft, die nach § 227 Abs 2 ZPO auf
Verlangen des Vorsitzenden bzw des Gerichts glaubhaft zu machen sind. Die Klägerin macht
zwar geltend, dass sowohl sie als auch ihre Bevollmächtigten erkrankt bzw aus pflegerischen
Gründen an einer Terminwahrnehmung verhindert gewesen seien. In der Beschwerde-
begründung wird jedoch nicht dargelegt, dass sie der Anforderung des Gerichts (vom
8. Dezember 2006), ihre Verhinderung und die Verhinderung ihrer Bevollmächtigten durch Vor-
lage entsprechender Belege (Arztbescheinigung etc) glaubhaft zu machen, nachgekommen sei.
Es ist lediglich vorgetragen worden, es sei eine ärztliche Bescheinigung hinsichtlich der
Arbeitsunfähigkeit des Ehemanns der Klägerin sowie dessen Schwerbehindertenausweis vor-


- 3 -

gelegt worden. In der Beschwerdebegründung wird jedoch nicht aufgezeigt, dass ein derartiger
Nachweis hinsichtlich der Klägerin und der weiteren Prozessbevollmächtigten C Z ge-
führt worden ist. Soweit sich in der Beschwerdebegründung die Behauptung findet, es seien für
C Z diesbezüglich "Auskünfte" vorgelegt worden, ergibt sich jedenfalls nicht nachvoll-
ziehbar, welchen genauen Inhalt die angeblichen Auskünfte gehabt haben sollen. Dies wäre
aber erforderlich gewesen, um darzulegen, dass ein erheblicher Grund tatsächlich glaubhaft
gemacht worden ist. Denn die Erkrankung bzw sonstige Verhinderung muss sich schlüssig aus
der vorgelegten Bescheinigung ergeben; die Bescheinigung muss so substantiiert sein, dass
das Gericht auf ihrer Grundlage in der Lage ist, die Frage der behaupteten Verhinderung selbst
zu beurteilen (vgl BFH, Beschluss vom 17. Mai 2000 - IV B 86/99 - BFH/NV 2000, 1353;
BVerwG, Beschluss vom 22. Mai 2001 - 8 B 69/01 - NJW 2001, 2735 mwN). Die erforderlichen
Darlegungen wären im Übrigen ausweislich des Inhalts der vorgelegten Berufungsakte auch
nicht möglich gewesen, denn nach dem Inhalt der Berufungsakte sind entsprechende
Auskünfte für die Klägerin und die Bevollmächtigte C Z nicht beigebracht, sondern nur
deren Einholung als Beweismittel angeregt worden.


[5] Die unzulässige Beschwerde ist zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 2, § 169 SGG).


[6] Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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BSG, 9 RV 24/94 vom 11.10.1994, Bundessozialgericht
Das Folgende ist zunächst ein Auszug aus der Entscheidung vom 12.03.1996 über den Prozesskostenhifeantrag im Hauptverfahren. Zur Entscheidung vom 18.06.1996 im Hauptverfahren siehe unten.



Prozesskostenhilfe ist nicht zu bewilligen, weil der Kl. nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen in der Lage ist, die Kosten der Prozeßführung aus seinem Vermögen aufzubringen (§ 73 a I 1 SGG iVm §§ 114, 115 II ZPO). Zum Vermögen eines Antragstellers gehören Ansprüche gegen eine Rechtsschutzversicherung (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, § 73 a Rz 6 a) und ebenso ein satzungsgemäßer Anspruch auf kostenlosen Rechtsschutz durch eine Gewerkschaft oder einen Verband (Henning/Danckwerts/König, SGG, Stand 1993, § 73 a Anm 5.3). Da Prozeßkostenhilfe eine besondere Art der Sozialhilfe auf dem Gebiet gerichtlichen Rechtsschutzes ist (BverfGE 9, 256, 258; 35, 348, 355), ist ein Antragsteller wegen des für Sozialhilfe und Prozeßkostenhilfe gleichermaßen geltenden Subsidiaritätsprinzips verpflichtet, die dem Justizfiskus durch Prozesskostenhilfe entstehenden Ausgaben gering zu halten. Ein Gewerkschafts- oder Verbandsmitglied muss deshalb zunächst seine satzungsgemäßen Rechte auf kostenlose Prozeßvertretung ausschöpfen und erwirbt einen Anspruch auf Prozeßkostenhilfe erst, wenn die Gewerkschaft oder der Verband keinen Rechtsschutz gewährt. Die Lage eines solchen Mitglieds ist nicht anders als die eines rechtsschutzversicherten Antragstellers, dem Prozesskostenhilfe erst gewährt wird, wenn er seinen Anspruch gegen die Rechtsschutzversicherung evtl bis zu einem Stichentscheid nach § 17 II der Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB) vergeblich verfolgt hat. (BGH, Betriebsberater 1987, 1845; Baumbach/Lauterbach, ZPO. 53. Aufl 1995 § 114 Rz 67; Rohwer/Kahlmann, SGG, Stand 1995, § 73 a Rz 3).



Die Lage eines Verbands- oder Gewerkschaftsmitglieds unterscheidet sich allerdings von der eines rechtsschutzversicherten Antragstellers, wenn die jeweilige Organisation Rechtsschutz im Einzelfall gewährt: Der Versicherungsnehmer kann dann einen Rechtsanwalt seines Vertrauens wählen, dessen Kosten die Versicherung übernimmt. Der Verband oder die Gewerkschaft dagegen gewährt Rechtsschutz durch einen ihrer Angestellten als „Sachleistung“. Hat der Antragsteller zu dem ihm vom Verband oder der Gewerkschaft gestellten Vertreter kein Vertrauen, so kann es ihm unzumutbar sein, sich bei der Prozessführung durch diesen Angestellten vertreten zu lassen. Dafür reicht allerdings die bloße Behauptung fehlender oder – im Laufe der Vertretung – gestörten Vertrauens nicht aus. Ebenso wie beim Wechsel eines frei gewählten und im Rahmen der Prozeßkostenhilfe beigeordneten Rechtsanwalts sind berechtigte sachliche oder persönliche Gründe erforderlich (vgl dazu Kalthoener/Büttner, Prozeßkostenhilfe und Beratungshilfe, 1988, Rz 569; LSG NRW, ZAP EN-Nr 154/92; zu § 167 SGG aF: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 252 r, Dapperich, Das sozialgerichtliche Verfahren, 1959, 209; BSG, Ausschuß für Verfahrensfragen, Niederschrift vom 6.2.1957, Punkt 1 – unveröffentlicht - ). Solche triftigen Gründe hat der Kl. nicht vorgebracht. Die von ihm geschilderten Eindrücke und Erfahrungen aus einem anderen Rechtsstreit, in dem er von einem Rechtsschutzsekretär seiner Gewerkschaft vertreten war, lassen zwar seine Unzufriedenheit mit dessen Tätigkeit erkennen, reichen nach Art und Gewicht aber nicht aus, um das Vertrauensverhältnis als allgemein und damit auch für diesen Fall gestört anzusehen. Das gilt um so mehr, als der Kl. im Revisionsverfahren voraussichtlich von einem Mitglied der bisher nicht eingeschalteten Bundesrechtsstelle seiner Gewerkschaft vertreten werden würde.



Ein Anspruch des Kl. auf Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der von ihm ausgewählten und bevollmächtigten Rechtsanwältin läßt sich (entgegen Meyer-Ladewig, aao, Rz 4) auch nicht daraus herleiten, daß § 73 a II SGG nach seinem Wortlaut die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe verbietet, wenn der Bet. durch einen Angestellten seines Verbands oder seiner Gewerkschaft tatsächlich vertreten ist, nicht nur, wenn er sich vertreten lassen kann, wie § 11 a Arbeitsgerichtsgesetz bestimmt. Aus der unterschiedlichen Formulierung der Gesetze läßt sich nicht herleiten, daß das Recht auf Prozeßkostenhilfe im sozialgerichtlichen Verfahren weiter geht als im arbeitsgerichtlichen Verfahren (so aber Meyer-Ladewig, aaO, Rz 4). Für eine unterschiedliche Regelung gibt es keinen sachlichen Grund (so zutreffend Zeihe, SGG, Stand 1994, § 73 a Rz 11 a). § 73 a II SGG ist deshalb nur als klarstellendes Verbot zu verstehen, dem mittellosen Bet. zusätzlich zu einem bereits bevollmächtigten Verbands- oder Gewerkschaftsvertreter im Wege der Prozeßkostenhilfe noch einen Anwalt beizuordnen. Die Vorschrift besagt jedoch nichts darüber, was gilt, wenn ein Verbandsvertreter noch nicht bevollmächtigt ist, aber in Anspruch genommen werden kann.



Hätte das mittellose Gewerkschaftsmitglied die Wahl zwischen kostenlosem gewerkschaftlichen Rechtsschutz und der Beiordnung eines frei gewählten Rechtsanwalts (so Meyer-Ladewig, aaO, Rz 4; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, 203), so stände es besser als ein Bet., der über genügend Mittel zur Prozeßführung durch einen Rechtsanwalt verfügt. Dieser Bet. würde in aller Regel verständigerweise aus wirtschaftlichen Gründen das Kostenrisiko meiden und sich regelmäßig für kostenlosen Rechtsschutz durch einen Verbandsvertreter entscheiden. Es besteht deshalb kein Grund, dem finanziell minderbemittelten Bet. aus staatlichen Mitteln die Wahlfreiheit zu finanzieren, die der bemittelte Bet. verständigerweise nicht in Anspruch nimmt.



Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, daß ein mittelloses Gewerkschaftsmitglied mit Anspruch auf kostenlosen Rechtsschutz durch seine Organisation anders behandelt wird, als ein mittelloser Antragsteller, der nicht organisiert ist. Ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot des Art 3 I Grundgesetz (GG) liegt darin nicht. Art 3 I GG verlangt iVm dem Rechtsstaatsprinzip lediglich die Situation bemittelter und Unbemittelter bei der Realisierung gerichtlichen Rechtsschutzes weitgehend anzugleichen (vgl BverfGE 81, 347, 356, NJW 1995, 1415). Darum geht es hier nicht. wer Anspruch auf kostenlosen Rechtsschutz durch seine Organisation hat, ist nicht mittellos. Er ist bereits in jener Lage, in die Prozeßkostenhilfe den Unbemittelten erst versetzen soll: Er kann sein Recht vor Gericht suchen, ohne daran aus wirtschaftlichen Gründen gehindert zu sein. Dafür macht es keinen Unterschied, ob ihn ein Angestellter seiner Organisation oder ein Rechtsanwalt vertritt. Gerichtlicher Rechtsschutz ist auf dem Gebiet des Sozialrechts bereits bei Vertretung durch eine Behörde gewährleistet (BverfGE 22, 349, 358) und erst recht bei Vertretung durch Verbands- oder Gewerkschaftsangestellte, denen der Gesetzgeber in § 166 II SGG Rechtsanwälte gleichgestellt hat. Das Recht, unter letzteren zu wählen (§ 121 I ZPO), hat nur, wer überhaupt Anspruch auf Prozeßkostenhilfe hat.



Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die prozeßkostenhilferechtliche Sonderstellung mittelloser Gewerkschafts- und Verbandsmitglieder mit Anspruch auf kostenlosen Rechtsschutz gegen ihre Organisation lassen sich auch nicht aus Art 9 I und III GG herleiten. Durch den regelmäßigen Ausschluß vom Anspruch auf Prozesskostenhilfe wird weder die kollektive Vertragsfreiheit noch die Tätigkeit der Gewerkschaft (vgl BverfGE 88, 5, 15) noch die Entscheidungsfreiheit des einzelnen, einem Verband oder einer Gewerkschaft beizutreten, ernsthaft beeinträchtigt. Es kann zwar unterstellt werden, daß der einem Organisierten regelmäßig drohende Verlust einer aus öffentlichen Mitteln finanzierten Prozeßkostenhilfe die Entscheidungsfreiheit Mittelloser darüber beeinflußt, einer Gewerkschaft oder einem Verband wegen des dort gebotenen Rechtsschutzes beizutreten. Diese allenfalls geringfügigen Auswirkungen sind aber in Abwägung mit dem Ziel hinzunehmen, Prozeßkostenhilfe nur demjenigen zu gewähren, der sonst aus wirtschaftlichen Gründen gehindert wäre, gerichtliche Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.



BUNDESSOZIALGERICHT



Im Namen des Volkes



Urteil
in dem Rechtsstreit
Az: 9 RV 24/94



Kläger und Revisionsbeklagter,
Prozeßbevollmächtigte:



gegen



Land Sachsen-Anhalt,
vertreten durch den Präsidenten des Landesamtes für Versorgung und Soziales des
Landes Sachsen-Anhalt,
Halle, Neustädter Passage 9,

Beklagter und Revisionskläger.



Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juni
1996 durch Vorsitzenden Richter Dr. S.,
Richter Dr. K. und Richter D a u sowie ehrenamtliche Richterin K.
und ehrenamtlichen Richter B. für Recht erkannt:


Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt
vom 11. Oktober 1994 wird zurückgewiesen.

- 2 -



Der Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

- 3 -



Gründe:



I



Der damals neun Jahre alte Kläger fand am 1. Juni 1950 beim Spielen auf dem Gelände
einer ehemaligen Munitions- und Sprengstoffabrik in R. (S -A.) einen
Sprengkörper. Bei dessen Explosion verlor der Kläger Daumen, Zeige- und Mittelfinger
der linken Hand sowie einen Teil der Handfläche.


Der Beklagte lehnte es ab, dem Kläger auf dessen Antrag vom 4. Juni 1992 Versorgung
zu gewähren, weil der Unfall weder auf nachträgliche Auswirkungen kriegerischer
Vorgänge noch auf Handeln der Besatzungsmacht zurückzuführen sei.


Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 1. November
1993). Das Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten verurteilt, ab 1. Januar 1991
Versorgung nach einer rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu
gewähren (Urteil vom 11. Oktober 1994). Bei der Explosion des Sprengkörpers habe es
sich um einen schädigenden Vorgang infolge einer besonderen Gefahr aus der
militärischen Besetzung deutschen Gebietes gehandelt. Die sowjetische
Besatzungsmacht habe das Fabrikgelände beschlagnahmt, um die Anlagen zu
demontieren und anschließend die Gebäude zu sprengen, ohne das 320 ha große
Grundstück, dessen Umzäunung von der Bevölkerung für eigene Zwecke abgebaut war,
bis zur Übergabe an das Land Sachsen-Anhalt im März 1949 gegen Betreten durch
spielende Kinder zu sichern oder die dort lagernden Sprengstoffe zu räumen. Einer
weiteren Vernachlässigung dieser Pflichten durch das Land Sachsen-Anhalt bis zum
Unfall im Jahre 1950 komme gegenüber dem unmittelbaren Besatzungseinfluß
geringeres Gewicht zu.


Der Beklagte macht mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision geltend, das LSG
habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt und §1 Abs 1 Buchst d
Bundesversorgungsgesetz (BVG) verletzt. Die unterlassene Sicherung des Fabrik-
geländes sei allein dem Land Sachsen-Anhalt zuzurechnen. Nach der Rechtsprechung
(BSGE 20, 114, 115) seien Gefahrenzustände nicht mehr der Besatzungsmacht, sondern
ab Aufgabenübertragung auf eine in Mindestform und -umfang funktionsfähige
Zivilverwaltung dieser zuzurechnen.
Das LSG habe im übrigen verkannt, daß nach der Rechtsprechung (BSGE 2, 99, 101,
102) nicht jede mit der Besatzung ursächlich zusammenhängende Gefahr unter § 5 Abs 1
Buchst d BVG falle. Nur "besatzungseigentümliche" Gefahren seien gemeint. Die
Verletzung der Verkehrssicherungspflicht sei hier aber nicht besatzungseigentümlich.

- 4 -



Der Beklagte beantragt,


das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 11. Oktober 1994
aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Dessau vom 1. November 1993 zurückzuweisen.



Der Kläger beantragt,



die Revision zurückzuweisen.



II



Die Revision ist unbegründet. Der Kläger ist durch unmittelbare Kriegseinwirkung
geschädigt worden; er hat wegen der Folgen dieser Schädigung Anspruch auf
Versorgung. Leistungen sind nach Anl I Kap VIII Sachgebiet K Abschn III Maßgabe 1 i
zum Einigungsvertrag ab 1. Januar 1991 zu gewähren, weil die Voraussetzungen zu
diesem Zeitpunkt vorgelegen haben und der Antrag vor dem 1. Januar 1994 gestellt
worden ist.



Das LSG hat zwischen dem Verhalten der sowjetischen Besatzungsmacht und der
Schädigung des Klägers zu Recht einen versorgungsrechtlich erheblichen Zusam-
menhang hergestellt. Die dagegen gerichteten Angriffe des Klägers bleiben ohne Erfolg.


Zwar trifft der Einwand des Beklagten zu, daß das Verhalten der Besatzungsmacht,
entgegen den Ausführungen des LSG, nicht deshalb als unmittelbare Kriegseinwirkung
gilt, weil es eine mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes
zusammenhängende besondere Gefahr iS des § 5 Abs 1 Buchst d BVG hervorgerufen
hätte. Denn dazu zählen nicht alle mit der militärischen Besetzung verbundenen
Gefahren, sondern aus diesem Kreis nur solche, die für die besonderen Verhältnisse der
militärischen Besetzung typisch sind (BSGE 12, 13, 15).
Nicht besetzungseigentümlich und deshalb vom Versorgungsschutz ausgenommen sind
schädigende Vorgänge, die ihrer Art nach ebenso hätten eintreten können, wenn sie
durch Maßnahmen oder Unterlassungen der deutschen Verwaltung statt durch die
Besatzungsmacht verursacht worden wären (BSGE 17, 225, 229 = SozR BVG § 1 Nr 62).
Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Gebot, das munitionsverseuchte Fabrikgrundstück
gegen Betreten durch spielende Kinder zu sichern, wurde sowohl von der sowjetischen
Besatzungsmacht während der Zeit der Beschlagnahme, als auch anschließend nach
Übertragung des Eigentums im März 1949 von der Verwaltung des Landes
Sachsen-Anhalt verletzt. Diese Verletzung der Verkehrssicherungspflicht war mithin nicht
besetzungseigentümlich.

- 5 -



Gleichwohl hat der Kläger Anspruch auf Versorgung wegen der Verletzungsfolgen. Denn
versorgungsrechtlich geschützt ist auch, wer einen nach zivilrechtlichen Grundsätzen zu
ersetzenden Besatzungspersonenschaden zu einem Zeitpunkt erleidet, zu dem eine
Regelung für die Entschädigung von Besatzungsschäden noch nicht vorhanden war. Das
Versorgungsrecht schließt diese zivilrechtliche Anspruchslücke, indem es Schäden, die
durch Angehörige der Besatzungsmacht verursacht worden sind, zu nachträglichen
Auswirkungen kriegerischer Vorgänge erklärt (§ 5 Abs 2 Buchst a BVG), die ihrerseits als
unmittelbare Kriegseinwirkung iS des § 1 Abs 2 Buchst a BVG gelten (§ 5 Abs 1 Buchst e
BVG).


In den westlichen Besatzungszonen bestand diese Lücke nur bis zum 31. Juli 1945. Denn
für Besatzungsschäden, die vom 1. August 1945 an verursacht worden sind, galt das
Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden vom 1. Dezember 1955 (BGBl I, 734;
vgl dessen § 2).


In der DDR wurde eine Entschädigungsregelung für Besatzungspersonenschäden erst
eingeführt durch das Abkommen vom 11. April 1957 zwischen der Regierung der DDR
und der Regierung der UdSSR über Fragen, die mit der zeitweiligen Stationierung
sowjetischer Streitkräfte auf dem Territorium der DDR zusammenhängen (GBl I 237).
Dieses Abkommen ist nach seinem Art 21 Satz 2 am 27. April 1957 in Kraft getreten
(GBl I 285). Bis dahin eingetretene Schädigungen durch Angehörige der sowjetischen
Streitkräfte stehen in engem Zusammenhang mit Krieg und Besatzung und fallen deshalb
unter §5 Abs 2 Buchst a BVG. Das entspricht auch der Auffassung des
Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (vgl dessen Rundschreiben vom
10. Juni 1991, BArbBl 1991, 9/108). Die sowjetischen Truppen waren bis dahin als Streit-
kräfte einer Besatzungsmacht iS des § 5 Abs 2 Buchst a BVG in der DDR stationiert. Der
Senat hat die sowjetische Besatzungsherrschaft in einer früheren Entscheidung zwar
bereits durch den Vertrag vom 20. September 1955 über die Beziehungen zwischen der
DDR und der UdSSR, in Kraft getreten am 6. Oktober 1955 (GBl I 917), für beendet
gehalten und deshalb Versorgungsansprüche nach § 5 Abs 2 Buchst a BVG wegen eines
erst 1965 durch sowjetische Soldaten in der DDR verursachten Verkehrsunfalls
ausgeschlossen (BSGE 59, 94, 97 = SozR 3100 § 5 Nr 9). Maßgeblich hat der Senat aber
schon damals darauf abgestellt, daß die sowjetischen Truppen in der DDR ihre Stellung
und ihre Befugnisse als Besatzungsmacht durch die Bestimmungen des Vertrages vom
11. April 1957 endgültig verloren haben.


Die Verletzung des Klägers am 1. Juni 1950 ist nach den Feststellungen des LSG eine
Schädigung iS des § 5 Abs 2 Buchst a iVm Abs 1 Buchst e BVG. Daß das LSG diese
Feststellungen im Zusammenhang mit der Erörterung des § 5 Abs 1 Buchst d BVG
getroffen hat, steht nicht entgegen. Der Schaden ist durch Angehörige der sowjetischen
Besatzungsmacht in der DDR verursacht worden. Deren Verhalten war für den Unfall

- 6 -



wesentliche Bedingung iS der auch hier geltenden versorgungsrechtlichen
Kausalitätsnorm (BSG SozR BVG § 5 Nr 35). Das LSG hat unangegriffen festgestellt, daß
der Unfall des Klägers im vorgenannten Sinne nicht auf dessen eigenes Verhalten oder
das Verhalten seiner Eltern zurückzuführen war, sondern auf eine Verletzung der
Verkehrssicherungspflicht. Dabei hat es der Pflichtverletzung durch das Land
Sachsen-Anhalt nur untergeordnete Bedeutung beigemessen und den Unfall des Klägers
wesentlich auf die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die sowjetische
Besatzungsmacht in den Jahren 1945 bis 1949 zurückgeführt. Bei dieser Bewertung sind
Rechtsfehler nicht zu erkennen. Seit März 1949 war zwar das Land Sachsen-Anhalt als
Eigentümer und Eigenbesitzer für den verkehrssicheren Zustand des Grundstücks
verantwortlich. Damit endete aber nicht die Verantwortlichkeit der sowjetischen
Besatzungsmacht als früherer Eigenbesitzer. Grundsätzlich trifft die
Zustandsveranwortlichkeit für Grundstücke den gegenwärtigen Eigenbesitzer. Davon ist in
sinnentsprechender Anwendung der für den Einsturz von Gebäuden getroffenen
Regelung des § 836 Abs 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) aber eine Ausnahme zu
machen (vgl Mertens in Münchner Komm, 2. Aufl 1986, § 823 Rz 192). Der frühere
Eigenbesitzer bleibt jedenfalls übergangsweise verantwortlich, wenn er die von dem
Grundstück ausgehende Gefahr durch vorangegangenes Handeln oder Unterlassen
begründet hat. Die Übergangszeit kann auch angesichts der Nachkriegsverhältnisse nicht
auf ein Jahr beschränkt werden, wie das § 836 Abs 2 BGB vorsieht. Die sowjetische
Besatzungsmacht hatte es hingenommen, daß in den Jahren ab 1945 die Umzäunung
des von ihr beschlagnahmten Fabrikgeländes von der Bevölkerung abgebaut und damit
das vorher gesicherte Grundstück zu einer Gefahrenquelle für spielende Kinder geworden
war. Die Umzäunung wurde bis zum März 1949 weder erneuert oder repariert noch wurde
die massenhaft herumliegende Munition geräumt. Im März 1949 hat sich die
Besatzungsmacht dann des heruntergekommenen, munitionsverseuchten Grundstücks
zu Lasten einer Gebietskörperschaft entledigt, die unter den Mangelverhältnissen der
Nachkriegszeit mit Aufgaben überlastet war und schwerlich in kurzer Zeit das nachholen
konnte, was jahrelang versäumt worden war und den gefährlichen Zustand des
Grundstücks begründet hatte.


Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

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BSG, 9b RAr 7/90 vom 06.03.1991, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT


Im Namen des Volkes



Urteil



in dem Rechtsstreit



Az: 9b RAr 7/90

Klägerin und Revisionsbeklagte,
Prozeßbevollmächtigte:



gegen



Bundesanstalt für Arbeit,
Nürnberg, Regensburger Straße 104,
Beklagte und Revisionsklägerin.



Der 9b Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 6. März
1991 durch Vorsitzenden Richter Dr. S., Richter Dr. W. und Richter
Dr. L. sowie ehrenamtliche Richterin Dr. N. und ehrenamtlichen Richter R.
für Recht erkannt:



- 2 -



Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts
Rheinland-Pfalz vom 16. Februar 1990 und des Sozialgerichts Koblenz vom 28. April
1989 geändert.


Die Klage wird abgewiesen.



Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



- 3 -

Gründe:



I



Die Klägerin, geprüfte Krankenschwester, erhielt von der Beklagten für die Teilnahme an
einer Weiterbildung zur Unterrichtsschwester (Lehrkraft an Krankenpflegeschulen) von
Oktober 1982 bis September 1983 ua Unterhaltsgeld (Uhg) als Darlehen (Bescheid vom
21. oder 25. Oktober 1982). Mit Schreiben vom 19. September 1983 beantragte die
Klägerin die Gewährung des Uhg als Zuschuß statt als Darlehen, weil der Beruf der
Unterrichtsschwester nach einem Runderlaß der Beklagten als Mangelberuf anerkannt
sei. Die Beklagte lehnte eine Überprüfung ihrer rechtsverbindlichen Entscheidung ab
(Bescheid vom 23. Januar 1985, Widerspruchsbescheid vom 11. März 1985) und forderte
die Klägerin zur Rückzahlung des Darlehens in Raten auf (Bescheid vom 25. Januar
1985). Auf einen im April 1988 erneut gestellten, auf Rechtsprechung gestützten Antrag,
das Darlehen in einen Zuschuß umzuwandeln, verweigerte das Arbeitsamt wiederum eine
neue Sachprüfung nach § 44 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren -SGB X- (Bescheid
vom 1. Juli 1988); im Widerspruchsbescheid vom 28. September 1988 wurde die
Gewährung eines Darlehens als rechtmäßig bestätigt. Das Sozialgericht (SG) hat die an-
gefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, über den Antrag der
Klägerin auf Änderung des Bescheides vom 25. Oktober 1982 über das gewährte Uhg
unter Rücknahme der Bescheide vom 23. Januar 1985 und 11. März 1985 gemäß der
Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden (Urteil vom 21. April 1989). Das
Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom
16. Februar 1990). Nach seiner mit dem SG übereinstimmenden Rechtsauffassung hat
die Beklagte eine Überprüfung der Verwaltungsakte und die Gewährung des Uhg als
Darlehen zu Unrecht abgelehnt. Sie müsse den 1982 erlassenen Bescheid insoweit, als
er die Leistung als Zuschuß versagt hat, und die Ablehnung eines neuen Verfahrens
(1985) als unrichtig zurücknehmen (§ 44 SGB X iVm § 152 Arbeitsförde-
rungsgesetz -AFG-); denn die Fortbildung der Klägerin sei deshalb notwendig gewesen,
weil der angestrebte Beruf einer Lehrschwester nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
und nach der Rechtsprechung bundesweit ein Mangelberuf sei (§ 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4
AFG). § 44 Abs 1 SGB X sei nicht anzuwenden; denn die Klägerin habe die Sozialleistung
Uhg bereits erhalten. Deshalb scheide auch der allein auf Abs 1 bezogene Abs 4 aus,
wonach nach der Rücknahme neue Leistungen nicht für länger als vier Jahre rückwirkend
gewährt werden dürfen. Soweit die Klägerin das Darlehen noch nicht zurückgezahlt habe,
sei sie nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X davon für die Zukunft befreit. Soweit sie
Teilleistungen von insgesamt 7.410,-- DM erstattet habe, müsse die Beklagte nach § 44
Abs 2 Satz 2 SGB X für die Vergangenheit ihr Rücknahmeermessen ausüben. In Höhe
des nach dem Antrag vom April 1988 zurückgezahlten Gesamtbetrages von 3.040,-- DM

- 4 -



bleibe keine andere Entscheidung offen, als den Anspruch über den Darlehenscharakter
des Uhg aufzuheben. Falls die Beklagte über den Antrag sofort entschieden hätte, wäre
sie insoweit nach § 44 Abs 2 Satz 1 SGB X verpflichtet gewesen, den Zuschuß
zuzuerkennen; das bestätige § 44 Abs 2 Satz 3 SGB X. Anderenfalls könnte sich die
Verwaltung durch eine Verzögerung den Ermessensspielraum für die Entscheidung nach
§ 44 Abs 2 Satz 2 SGB X verschaffen.


Die Beklagte rügt mit ihrer - vom LSG zugelassenen -Revision eine Verletzung des § 44
Abs 1, 2 und 4 SGB X. Sie begründet ihre Revision allein damit, daß das Uhg wegen
Fristablaufs nach § 44 Abs 4 SGB X nicht mehr als Zuschuß für die Zeit der Fortbildung
(1982/1983) gewährt werden könne. Die Frage, ob die Voraussetzung, dh die
Notwendigkeit der Fortbildung wegen eines Mangelberufs nach § 44 Abs 2 Nr 4 AFG aF,
gegeben ist, sei unerheblich. Die darüber ergangene Entscheidung des Berufungsgerichts
werde allerdings nicht beanstandet. Entgegen der Auffassung des LSG habe die
Verwaltung die beantragte Leistung nicht bereits iS des § 44 Abs 4 SGB X "erbracht". Der
Klägerin sei allein ein Uhg als Darlehen gewährt worden, und ein solches, das
zurückgezahlt werden müsse, unterscheide sich elementar von einem Zuschuß. Selbst
wenn die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens nach § 44 Abs 1 SGB X iVm § 152 Abs 1
AFG die Ablehnung eines Zuschusses für die Vergangenheit zurücknehme, dürfe sie die
angestrebte Zugunstenentscheidung nach § 44 Abs 4 SGB X nicht treffen. Dabei sei der
Vierjahreszeitraum von dem im April 1988 gestellten Antrag ab zu berechnen. Entgegen
der Auffassung des SG lebe durch eine Rücknahme der rechtsverbindlichen Ablehnung
einer Überprüfung der darauf gerichtet gewesene Antrag von 1983 nicht wieder auf in der
Weise, daß er für die Fristberechnung nach § 44 Abs 4 SGB X maßgebend sei. Im üb-
rigen sei auf die nach Auffassung des LSG anwendbare Rücknahmevorschrift des § 44
Abs 2 SGB X die Ausschlußregelung des § 44 Abs 4 SGB X entsprechend anzuwenden,
soweit der Empfänger nachträglich von einer Rückzahlungsverpflichtung befreit werden
wolle. Eine solche Entlastung belaste den Leistungsträger für einen länger als vier Jahre
zurückliegenden Zeitraum ebenso wie eine nachträgliche Zahlung. Der Anspruch auf
Rückzahlung, der wegfallen solle, sei 1982/83 entstanden.



Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen zu ändern und die Klage abzuweisen.



Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.



Sie betont, daß § 44 Abs 4 SGB X nicht die Möglichkeit, einen nicht begünstigenden
Verwaltungsakt zu überprüfen,
regele; die Rücknahme sei - anders als nach § 45 Abs 3 SGB X - zeitlich unbegrenzt
möglich. § 44 Abs 4 SGB X verbiete allein, eine Leistung für die Zeit vor vier Jahren

- 5 -



rückwirkend zu erbringen, dh zu zahlen, nicht aber eine weiter zurückliegende Gewährung
(Bewilligung, Zuerkennung) durch die Rücknahme. Eine Umwandlung des bereits
1982/83 gezahlten Uhg, der Sozialleistung, in einen Zuschuß würde nur vom Antrag ab
der Tilgung die Rechtsgrundlage entziehen. Die rückwirkende Beseitigung der
Tilgungspflicht werde nicht durch § 44 Abs 4 SGB X ausgeschlossen.


Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.


II



Die Revision der Beklagten ist begründet.



Die Klage hat keinen Erfolg. Die Vorinstanzen hätten die Beklagte nicht verpflichten
dürfen, über den Rücknahmeantrag der Klägerin unter Beachtung der gerichtlichen
Rechtsauffassung neu zu entscheiden.



Die Beklagte, die der Klägerin 1982/83 Uhg als zurückzuzahlendes Darlehen gewährte
(§ 44 Abs 2a AFG hier idF des AFKG vom 22. Dezember 1981 - BGBl I 1497 -, § 607
Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch), hat damit zugleich Uhg als übliche, in erster Linie
begehrte Sozialleistung, dh als Zuschuß zum Verbleib (§ 11 Satz 1 Sozialgesetzbuch
Allgemeiner Teil -SGB I- vom 11. Dezember 1975 - BGBl I 3015 -, § 44 Abs 1 bis 2 Satz 2
Nr 4 AFG), abgelehnt. Der versagende Verfügungssatz, der die Klägerin nicht
begünstigte, sondern belastete (vgl die Definition des begünstigenden Verwaltungsaktes
in § 45 SGB X vom 18. August 1980 - BGBl I 1469 -), wäre, falls er unrichtig wäre, nach
§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB X zurückzunehmen und durch eine neue - richtige - Entscheidung
zu ersetzen (BSG Breithaupt 1982, 800). Diese Regelung wird für das
Arbeitsförderungsrecht durch § 152 Abs 1 AFG (idF des Art II § 2 Nr 18 Buchstabe a
SGB X) dahin abgewandelt, daß ein Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft zu-
rückgenommen wird; nach dem 1987 klarstellend angefügten Halbsatz 2
(8. Änderungsgesetz vom 14. Dezember 1987 - BGBl I 2602 - dazu Gesetzesbegründung
in BT-Drucks 11/800 zu Nr 35 - § 152 -) darf aber die Verwaltung nach ihrem Ermessen
die Rücknahme auf die Vergangenheit erstrecken.


Ob die Versagung des Uhg als Zuschuß rechtswidrig war, weil die Lehrschwestertätigkeit
1982/83 ein Mangelberuf war und deshalb die Weiterbildung für sie notwendig gewesen
wäre (§ 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG), war in diesem Verfahren nicht mehr als
Voraussetzung für eine Rücknahme zu entscheiden. Eine Rücknahme des ablehnenden
Verwaltungsaktes wegen einer entsprechenden Rechtswidrigkeit und eine Ersetzung

- 6 -



durch einen Bewilligungsakt ist wegen der Einwirkung der Verfallklausel des § 44 Abs 4
SGB X auf die Rücknahmeregelung schlechthin ausgeschlossen. Die Verwaltung hat jene
beiden Entscheidungen zugunsten eines Antragstellers dann nicht mehr vorzunehmen,
wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung
ausschließlich Leistungen für eine Zeit, die länger als vier Jahre vor dem
Rücknahmeantrag liegt, regelte und wenn der ersetzende Bewilligungsbescheid sich
ebenfalls nur auf den genannten Zeitraum auswirken würde. So war es hier. Der 1988
gestellte Rücknahmeantrag der Klägerin bezieht sich auf Uhg für die 1982/83 durch-
geführte Maßnahme.


Nach § 44 Abs 4 Satz 1 und 2 SGB X werden Sozialleistungen, falls ein Verwaltungsakt
mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen und durch einen
Zugunstenbescheid ersetzt wird, längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der
Rücknahme erbracht. Für die Berechnung des Zeitraumes tritt nach Satz 3 an die Stelle
des Rücknahmeaktes ein Antrag, falls er zur Rücknahme führte. Diese Vollzugsregelung
(BSGE 61, 154, 156 f = SozR 1300 § 48 Nr 32), die zwingend anzuwenden ist (BSGE 60,
158, 160 f = SozR 1300 § 44 Nr 23), steht für die länger als vier Jahre zurückliegende
Zeit, für die keine Leistungen mehr erbracht werden dürfen, einem Rücknahme- und
einem Ersetzungsakt entgegen. Sie ist auf die Rücknahmeregelung bezogen, die
voraussetzt, daß infolge der unrichtigen Entscheidung Sozialleistungen nicht erbracht
wurden (BSGE 62, 10, 13 = SozR 2200 § 1254 Nr 7). "Erbringen" bedeutet tatsächliches
Leisten (§ 43 SGB I, §§ 102 bis 105 SGB X; zu § 18c Abs 1 bis 3
Bundesversorgungsgesetz: RdSchr des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung
vom 18. Juni 1982 - BABl 1982 Heft 9 S 109 -; vgl auch BSG 12. Oktober 1990 - 2 RU
63/89 - RdSchr Nr 9/91 des Bundesverbandes der Unfallversicherungsträger der
öffentlichen Hand). Ein derart zu vollziehender Verwaltungsakt ist nicht mehr zu erlassen,
wenn er nicht ausgeführt werden darf. Er wäre wirkungslos. Von der Verwaltung darf
keine unnötige, überflüssige Tätigkeit verlangt werden, die hier auch die - mitunter recht
schwierige und aufwendige - Prüfung auf eine Unrichtigkeit einbezöge. Ein Antragsteller,
der über § 44 SGB X keine Leistungen mehr für die Vergangenheit erhalten darf, hat kein
rechtliches Interesse an der Rücknahme und der zusprechenden Entscheidung, die nach
Abs 4 nicht vollzogen werden dürfen.


§ 44 Abs 4 SGB X ist hier nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin schon
1983, also innerhalb des Vier-Jahres-Zeitraumes, der die Maßnahmezeit von 1982/83
umfaßte, die Rücknahme und damit die Gewährung des Uhg als Zuschuß beantragt hat.
Selbst wenn ein Antrag wie dieser, der rechtsverbindlich abgelehnt wurde, durch eine
Rücknahme wiederauflebte (vgl dazu BSG Breithaupt 1982, 800), tritt diese Wirkung hier
nicht ein; denn der 1988 von der Klägerin gestellte Antrag, über den in diesem Verfahren
zu entscheiden ist, könnte aus den dargelegten Gründen nicht zu einer Rücknahme und
Ersetzung führen. Dann ist auch nicht der Verwaltungsakt, durch den 1985 der Antrag von

- 7 -



1983 abgelehnt wurde, mitsamt dem Widerspruchsbescheid zurückzunehmen. Diese
Verwaltungsentscheidungen, mit denen die Beklagte eine erneute Sachprüfung abgelehnt
hat, sind auch aus einem anderen verfahrensrechtlichen Grund nicht zurückzunehmen. In
dem abgelehnten Antrag wies die Klägerin nicht auf neue Erkenntnisse hin, die die
Lehrschwestertätigkeit als Mangelberuf beurteilen ließen. Im ersten Abschnitt zur
Eröffnung des dreistufigen Entscheidungsprozesses über eine Rücknahme und eine
Ersetzung eines unrichtigen Verwaltungsaktes ist allein darüber zu befinden, ob
überhaupt ein rechtsverbindlicher Bescheid erneut zu überprüfen ist (BSGE 63, 33, 35 f
= SozR 1300 § 44 Nr 33). Die Verwaltung darf dies ablehnen, falls - wie hier - keine neuen
Erkenntnisse für eine Unrichtigkeit vorgetragen werden oder sonst erkennbar sind (BSG
aaO). Sie soll nicht durch aussichtslose Anträge, die beliebig oft wiederholt werden
könnten, immer wieder zu neuen Sachprüfungen gezwungen werden können.


Die Einschränkung der Rücknahmeregelung (§ 44 Abs 1 SGB X iVm § 152 Abs 1 AFG)
durch die Ausschlußklausel (§ 44 Abs 4 SGB X) entfällt im Fall der Klägerin weder
deshalb, weil die Klägerin das abgelehnte, jetzt erneut beantragte Uhg bereits 1982/83
während der Weiterbildungsmaßnahme erhalten hätte, noch deshalb, weil sie das
ausbezahlte Darlehen in der Zeit seit dem Rücknahmeantrag und vorher nicht länger als
vier Jahre zurückliegend (seit 1985) zurückzahlen muß.


Die Auszahlung der Uhg-Beträge während der Bildungsmaßnahme beruhte nicht auf der
jetzt umstrittenen Gewährung eines Zuschusses, sondern auf der Darlehensgewährung,
deren Vollzug allerdings im Fall einer Rücknahme und Bewilligung eines Zuschusses
deshalb rückgängig gemacht werden müßte, weil die Leistung nicht doppelt gezahlt
werden darf. Das Uhg als Zuschuß hat eine andere Rechtsnatur als das Darlehen, dh als
der nur zur zeitweiligen Nutzung gewährte Uhg-Betrag, wenn auch beide Leistungen der
Sicherung des Lebensunterhaltes während einer beruflichen Bildungsmaßnahme und
zugleich der Motivierung zur Teilnahme dienen (BSGE 58, 160, bes 164 = SozR 4100
§ 138 Nr 11).


Ein Verzicht der Verwaltung auf die Rückzahlung würde nicht wie ein "Erbringen" iS des
§ 44 Abs 1 und 4 SGB X wirken. Die Pflicht zur Rückzahlung des Darlehens ist keine
Folge der - möglicherweise - unrichtigen Entscheidung, durch die ein Zuschuß abgelehnt
wurde. Sie wurde auch nicht durch einen teilweise belastenden Verwaltungsakt iS des
§ 44 Abs 1 SGB X, der mit der begünstigenden Gewährung dieser Leistung verbunden
gewesen wäre, der Klägerin auferlegt. Die Bewilligung des Darlehens stellt einen nicht
teilbaren begünstigenden Verfügungssatz dar, allerdings inhaltlich durch die ein-
geschlossene Rückzahlungspflicht, die der Rechtsnatur des Darlehens eigen ist,
eingeschränkt. Im Gesamtergebnis ist die Klägerin durch die Gewährung des Darlehens
besser gestellt, als wenn die Beklagte ausschließlich ein Uhg als Zuschuß abgelehnt
hätte. Die Rechtslage in diesem Fall ist nach § 44 SGB X, ergänzt durch § 152 Abs 1


- 8 -

AFG, allein nach dem erlassenen und nach dem angestrebten Verwaltungsakt über ein
Uhg als Zuschuß zu beurteilen. Dies wäre noch deutlicher, wenn die Verwaltung die
darüber ergangene Ablehnungsentscheidung zeitlich gesondert von der
Darlehensgewährung erlassen hätte.


Die Klägerin kann sich nicht zu ihren Gunsten auf die Rechtsfolgen der Rücknahme eines
Bescheides berufen, durch den ein begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X zu-
rückgenommen wurde. Die zwingende Rechtsfolge des ersten Aufhebungsaktes, die
Erstattungspflicht nach § 50 SGB X, kann dadurch rückgängig zu machen sein, daß der
Leistungsträger diese Pflicht beseitigt (vgl dazu BSG SozR 1300 § 44 Nr 22; kritisch dazu
Kopp, SGb 1987, 121; vgl auch BVerwG Urteil vom 15. November 1990 - 5 C 78.88). Die
Klägerin hatte aber, wie schon dargelegt, den erhaltenen Darlehensbetrag nicht als
unmittelbare Folge der Ablehnung eines Zuschusses, deren Rechtmäßigkeit umstritten ist
und die nach dem Willen der Klägerin aufgehoben werden soll, in Raten zurückzuzahlen.
Vielmehr war diese Versagung des Uhg nur das Motiv für den Entschluß der Klägerin, an
Stelle eines Zuschusses ein - zinsloses - Darlehen zu nehmen. Die Mittel des
Verwaltungsverfahrensrechts können nicht die wirtschaftlichen Folgen eines Entschlusses
beseitigen, der wegen eines Verwaltungsaktes gefaßt wurde, wenn später behauptet wird,
dieser belastende Verwaltungsakt sei rechtswidrig gewesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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BSG, 9 BV 39/88 vom 24.11.1988, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht

9 BV 39/88

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Kläger und Beschwerdeführer,

Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Beklagte und Beschwerdegegnerin.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat am 24. November



1988







beschlossen:







Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der



Revision durch das Landessozialgericht Hamburg im Urteil



vom 19. Januar 1988 wird zurückgewiesen.



Kosten sind nicht zu erstatten.







- 3 -







Gründe:







Die Revision ist nicht gemäß den §§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 Sozial-



gerichtsgesetz (SGG) zuzulassen, weil die Voraussetzungen, unter



denen ein - hier allein geltend gemachter - Verfahrensmangel zur



Zulassung der Revision führen kann, nicht erfüllt sind. Nach



§ 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbs SGG kann die Rüge eines Verfahrens-



mangels nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1



SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden,



wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozi-



algericht (LSG) ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.







Der Kläger räumt ein, daß er eine Verletzung des § 109 SGG im



Beschwerdeverfahren nicht rügen kann, soweit das LSG dem Antrag,



die Neurologin und Psychiaterin Dr. H. zu hören, nicht gefolgt



ist. Er meint aber, in dem zu Protokoll erklärten und auf 3 109



SGG gestützten Antrag läge ein Beweisantrag, dem das LSG bereits



in Erfüllung seiner Pflicht zur Sachaufklärung nach § 103 SGG von



Amts wegen habe folgen müssen; mit der Ablehnung dieses Antrags



sei also nicht nur § 109 SGG, sondern auch § 103 SGG verletzt. In



einem auf § 109 SGG gestützten Antrag auf Anhörung eines be-



stimmten Arztes sei notwendig ein Beweisantrag nach § 103 SGG



enthalten. Dem ist nicht zu folgen.







Für seine Rechtsauffassung kann sich der Kläger zwar auf Meyer-



Ladewig, Kommentar zum SGG, 3. Aufl, 5 160 RdNr 18 stützen; eine



Begründung fehlt hier jedoch. Auch der 1. Senat des Bundessozial-



gerichts (BSG) hat in dem nicht veröffentlichten Beschluß vom



5. April 1988 - 1 BA 255/87 - unter Hinweis auf diese Kommentar-



stelle ohne Begründung unterstellt, daß ein Antrag nach § 109 SGG



ein Beweisantrag iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG sei; er hat aber die



Beschwerde aus einem anderen Grund als unzulässig verworfen.



Stellt der Kläger einen Antrag nach § 109 SGG, so mag zwar aus



seiner Sicht der Sachverhalt häufig noch nicht hinreichend aufge-



klärt sein; das kann aber nicht dazu führen, in jedem Antrag nach



§ 109 SGG zugleich die Aufforderung an das Gericht zu erkennen,



in erster Linie von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufzu-







- 3 -







klären. Der Antrag nach § 109 SGG wäre damit immer als soge-



nannter Hilfsantrag aufzufassen. So ist der Antrag nach § 109 SGG



aber in der Rechtsprechung nie verstanden worden. Es ist zwar



anerkannt worden, daß der Antrag als Hilfsantrag gestellt werden



kann (BSG SozR SGG § 109 Nr 17). Wird der Antrag aber nicht aus-



drücklich als Hilfsantrag bezeichnet, so ist er als Inanspruch-



nahme der Berechtigung aufzufassen, unbeschadet der gerichtlichen



Sachaufklärungspflicht einen Arzt des Vertrauens zu hören. Er hat



eine andere Zielrichtung als die in § 103 SGG erwähnten Beweisan-



träge.







Der Beweisantrag, der mit der Rüge der Verletzung des § 103 SGG



zur Zulassung der Revision führen kann, muß ein Beweisantrag iS



dieser Vorschrift sein (ebenso Zeihe, SGG, 5. Aufl, § 160



Anm 25e). Wenn ein solcher Antrag gestellt wird, muß zwar nicht



diese Vorschrift ausdrücklich erwähnt werden; es muß jedoch un-



zweifelhaft erkennbar sein, daß eine weitere Sachverhaltsaufklä-



rung von Amts wegen für erforderlich gehalten wird. Das ergibt



sich aus dem Sinn und Zweck der nur beschränkten Eröffnung der



Revisionsinstanz bei Verfahrensfehlern. § 160 SGG in der gegen-



wärtigen Fassung ist durch das Gesetz vom 30. Juli 1974 (BGBl I



1625) mit der Absicht eingefügt worden, die Revisionsinstanz von



den zuvor in großer Zahl anfallenden sogenannten Verfahrensrevi-



sionen zu entlasten (vgl Begründung des Regierungsentwurfs



BT-Drucks 7/861). Gerade die häufigsten, auf die Verletzung der



§§ 103, 109 und 128 SGG gestützten Verfahrensrevisionen sollten



eingeschränkt werden. Während die Verletzung der §§ 109 und 128



SGG überhaupt nicht mehr zur Zulassung der Revision führen kann,



ist für eine Rüge der Verletzung des § 103 SGG ein Beweisantrag



als erforderlich angesehen worden, der diese Rüge bereits in der



Berufungsinstanz vorbereitet. Diese Regelung mag in einem nicht



einem Vertretungszwang unterworfenen Verfahren systemfremd er-



scheinen (vgl dazu Krasney, Die Ersatzkasse 1973, 312; 197A, 330;



derselbe, Der Kompaß, 197A, 303). Die Regelung läßt aber er-



kennen, daß auch die wegen einer Verletzung des § 103 SGG zuzu-



lassende Revision die Ausnahme bleiben soll; sie soll sich auf



Aufklärungsmängel beschränken, auf die das Gericht bereits vor







- 4 -







der Entscheidung hingewiesen worden ist. Für diesen Hinweis ver-



langt das Gesetz überdies eine besondere Form, nämlich einen Be-



weisantrag, der grundsätzlich auch das Beweisthema und das Be-



weismittel enthalten muß (vgl Meyer-Ladewig aaO und BSG SozR 1500



§ 160a Nr 2N). Erst wenn der Tatsacheninstanz durch einen Beweis-



antrag vor der Entscheidung noch einmal deutlich vor Augen ge-



führt worden ist, daß der Kläger die gerichtliche Sachaufklä-



rungspflicht in einem bestimmten Punkt noch nicht als erfüllt



ansieht, soll das Übergehen eines solchen Antrages oder eine



nicht hinreichend begründete Ablehnung die Revisionsinstanz und



damit die weitere Sachaufklärung nach Zurückverweisung des



Rechtsstreits in die Tatsacheninstanz ermöglichen. Der Beweisan-



trag hat somit auch warnfunktion. Der Senat hat deshalb schon für



eine schlüssige Darlegung des Verfahrensverstoßes stets verlangt,



daß der Antrag in das Protokoll über die mündliche Verhandlung



aufgenommen worden ist oder sich aus dem Urteilsinhalt ergibt



oder schriftsätzlich vorgebracht und bis zum Ende der Sitzung



aufrechterhalten worden ist (vgl Beschluß vom 15. Februar 1988



- 9/9a BV 196/87 - zur Veröffentlichung bestimmt; ferner BSG SozR



1500 § 160 Nr 12). Der Kläger hat hier seinen Antrag zwar aus-



drücklich zu Protokoll erklärt; indem er sich aber auf § 109 SGG



bezog und einen bestimmten ärztlichen Sachverständigen nannte,



hat er zumindest nicht hinreichend erkennbar gemacht, daß er noch



eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen für erforderlich



hielt, obwohl ihm das LSG zuvor mitgeteilt hatte, daß von Amts



wegen keine weiteren Gutachten mehr eingeholt würden. Das LSG hat



den gestellten Antrag auch nur als Ausübung des Rechts nach § 109



SGG aufgefaßt und als verspätet zurückgewiesen.







- 5 -







Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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BSG, 9 BV 26/93 vom 24.05.1993, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT
Beschluß
in dem Rechtsstreit

Az: 9 BV 26/93
...........................................................,
Kläger und Beschwerdeführer,

Prozeßbevollmächtigter: ...........................,

g e g e n

Land Niedersachsen,

vertreten durch das Landesversorgungsamt Niedersachsen,
Hannover 1, Gustav-Bratke-Allee 2,

Beklagter und Beschwerdegegner.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat am 24. Mai 1993 durch Vorsitzenden Richter
Dr. S c h m i t t, Richterin J a e g e r und Richter D a u beschlossen:


Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision durch das
Landessozialgericht Niedersachsen im Urteil vom 18. Dezember 1992 wird als unzulässig
verworfen.


Kosten sind nicht zu erstatten.


- 2 -

G r ü n d e :


Die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde entspricht nicht der in § 160 Abs 2 und
§ 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) festgelegten gesetzlichen Form. Sie war
deshalb entsprechend den §§ 169, 193 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter
zu verwerfen (vgl BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 30).


Der Beschwerdeführer weist zwar auf Zulassungsgründe hin, die in § 160 Abs 2 SGG
aufgeführt sind. Er behauptet, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung iS des
§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG und das angegriffene Urteil beruhe auf einem Verfahrensfehler iS
des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Die behaupteten Zulassungsgründe sind aber nicht so
dargelegt und bezeichnet, wie dies § 160 Abs 2 Satz 3 SGG verlangt. Zulassungsgründe
müssen schlüssig dargetan werden.


Zur Begründung der Grundsätzlichkeit der Rechtssache muß erläutert werden, daß und
warum in dem angestrebten Revisionsverfahren eine Rechtsfrage erheblich sein wird, die
über den Einzelfall hinaus allgemeine Bedeutung hat (vgl BVerfG SozR 1500 § 160a
Nr 44; BSG SozR 1500 § 160a Nr 39). Es muß überdies die Klärungsbedürftigkeit und
Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage darlegt werden (BSG SozR 1500 § 160a Nr 65).
Rechtsfragen, die vom Bundessozialgericht (BSG) entschieden sind, sind im allgemeinen
nicht mehr klärungsbedürftig und haben keine grundsätzliche Bedeutung mehr, es sei
denn, die Beantwortung der Frage ist klärungsbedürftig geblieben oder es erneut
geworden. Das muß substantiiert vorgetragen werden. Hieran fehlt es im vorliegenden
Fall, weil die behauptete grundsätzliche Frage vom Landessozialgericht (LSG) nicht zur
Grundlage seiner Entscheidung gemacht worden ist. Das LSG hat entgegen der
Beschwerdebegründung seine Entscheidung nicht darauf gestützt, daß grundsätzlich
Berufsschadensausgleich(BSchA) erst ab Vollendung des 60. (ausnahmsweise
59.) Lebensjahres bei schwerbeschädigten Selbständigen möglich ist. Diese Auffassung
konnte daher in der Beschwerdebegründung auch nicht belegt werden. Das LSG hat viel-
mehr im Wege der Beweiswürdigung konkret für den Kläger ein schädigungsbedingtes
Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verneint und sich im übrigen hinsichtlich der
grundlegenden Rechtsfragen an der Rechtsprechung des BSG orientiert (vgl BSG SozR
3-3642 § 8 Nrn 1 und 6). Da sich die Beschwerdebegründung mit beiden Entscheidungen
nicht auseinandersetzt, fehlt es an einer schlüssigen Darlegung einer verbleibenden
grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, zumal die Berechnung des BSchA für
Selbständige vom BSG weitgehend vom tatsächlichen Einkommen abgelöst worden ist
(BSG aaO Nr 1). Zu der in der Beschwerde ebenfalls als grundsätzlich angesprochenen
Rechtsfrage, ob die Schädigungsfolgen mit zunehmendem Alter mit einer erhöhten
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu bewerten seien, hat der Beschwerdeführer
weder § 31 Abs 1 Satz 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) noch die hierzu ergangene


- 3 -

Rechtsprechung (vgl BSG SozR 3100 § 30 Nr 79) erörtert, so daß insoweit noch
klärungsbedürftige Fragen nicht aufgezeigt sind.


Auch die erhobene Verfahrensrüge bezeichnet einen Verfahrensmangel nicht schlüssig.
Es müssen die sie begründenden Tatsachen im einzelnen genau angegeben sein und in
sich verständlich den behaupteten Verfahrensfehler ergeben (vgl BSG SozR 1500 § 160a
Nr 14). Teilweise begründet der Kläger diese Rüge damit, daß dem Berufungsgericht eine
fehlerhafte Würdigung des Beweismaterials vorgeworfen wird. Damit wird eine Verletzung
des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Beweiswürdigung) geltend gemacht. Hierauf kann die Rüge
nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG) nicht
gestützt werden. Zur Rüge, das LSG habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG)
verletzt, hätte der Beschwerdeführer entsprechende Beweisanträge bezeichnen müssen
(§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 iVm § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hieran fehlt es, obwohl sich
der Kläger auf seinen Berufungsschriftsatz, dessen Inhalt im Zeitpunkt des
Einverständnisses mit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung wiederholt worden
ist, bezieht. Denn der Berufungsschriftsatz enthielt lediglich Beweisantritte iS von §§ 371,
373, 402 f Zivilprozeßordnung (ZPO). Sie enthalten Hinweise der Beteiligten auf ihnen
geeignet erscheinende Beweismittel und führen sie in den Prozeß ein (vgl
Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 50. Aufl Einf. § 284 Anm 5). Der Beweis muß
rechtzeitig angetreten werden, damit Nachteile infolge Verspätung vermieden werden (vgl
§ 296 Abs 1 und § 296 Abs 2 iVm § 282 ZPO). Da die Sozialgerichte den Sachverhalt von
Amts wegen aufklären (§ 103 SGG), haben derartige Beweisantritte im sozialgerichtlichen
Verfahren nur eine geringe prozessuale Bedeutung. Sie enthalten üblicherweise Hinweise
und Anregungen zu Maßnahmen, die von Amts wegen einzuleiten sind, wie das auch im
Zivilprozeß denkbar iVm § 144 ZPO vorkommt, und sollen dem Gericht seine Aufgaben
erleichtern (vgl RGZ 170, 264). Selbst der Zivilprozeß kennt daher die Unterscheidung
von Beweisantrag und Beweisanregung (vgl BGHZ 66, 62, 68).


Der Beweisantrag iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG hat indessen einen völlig anderen
prozessualen Stellenwert. Er dient der Vorbereitung einer Revision bei gleichzeitigem
Hinweis an die letzte Tatsacheninstanz darauf, daß nach Ansicht des Antragstellers die
Sachaufklärung lückenhaft geblieben ist. Deshalb hat die Rechtsprechung insoweit hohe
Anforderungen gestellt.


Grundsätzlich muß eine Nichtzulassungsbeschwerde, die damit begründet wird, das
Berufungsgericht sei einem gestellten Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht
gefolgt, aufzeigen, daß der Beweisantrag protokolliert oder im Urteilstatbestand aufgeführt
ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 64). Fehlt es an einer mündlichen Verhandlung, muß ein im
Urteilstatbestand enthaltener Beweisantrag bezeichnet werden. Selbst wenn man für
derartige Fälle eine Erweiterung auf die ausdrücklich schriftsätzlich gestellten Anträge
zuläßt, die zugleich mit der Erklärung des Einverständnisses zur Entscheidung durch


- 4 -

Urteil ohne mündliche Verhandlung gestellt werden, fehlt es hier an der Bezeichnung
eines derartigen Antrags. Denn ein Beweisantrag, der mit der Rüge der Verletzung des
§ 103 SGG zur Zulassung der Revision führen kann, muß ein Beweisantrag im Sinne
dieser Vorschrift sein, also unzweifelhaft erkennen lassen, daß eine weitere Sachver-
haltsaufklärung von Amts wegen für erforderlich gehalten wird. Der Tatsacheninstanz soll
durch einen solchen Antrag vor der Entscheidung vor Augen geführt werden, daß der
Kläger die gerichtliche Sachaufklärungspflicht in einem bestimmten Punkt noch nicht als
erfüllt ansieht. Der Beweisantrag hat Warnfunktion (vgl hierzu BSG SozR 1500 § 160
Nr 67). Eine solche Warnfunktion fehlt bei Beweisantritten, die in der Berufungsschrift
oder sonstigen Schriftsätzen enthalten sind, und ihrem Inhalt nach lediglich als
Anregungen zu verstehen sind, wenn sie nach Abschluß der von Amts wegen
durchgeführten Ermittlungen nicht mehr zu einem bestimmten Beweisthema als
Beweisantrag aufgegriffen werden; eine unsubstantiierte Bezugnahme auf frühere
Beweisantritte genügt nicht.


Die mangelnde Darlegung des Beweisthemas und der Bedeutung weiterer Sach-
aufklärung im Berufungsverfahren wird in der Beschwerdeschrift dadurch bestätigt, daß
auch hier nicht ausgeführt wird, inwiefern sich das Berufungsgericht - ausgehend von
seinem Rechtsstandpunkt - zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt sehen müssen (vgl
BSG SozR 1500 § 160a Nrn 34 und 56). Insoweit fehlt es an einer Auseinandersetzung
mit der Rechtsauffassung des LSG, so daß nicht deutlich ist, inwiefern die dem
Beschwerdeführer wesentlich erscheinenden Sachverhaltselemente auch für das
Berufungsgericht von Bedeutung gewesen sind.

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Volltext auch bei jurion.de 9 BV 26/93 vom 24.05.1993

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BSG, 9a RV 44/85 vom 13.08.1986, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht



9a RV 44/85



Im Namen des Volkes



Urteil



in dem Rechtsstreit



Kläger und Revisionskläger,



Prozeßbevollmächtigter:



gegen



Beklagter und Revisionsbeklagter.



Das Bundessozialgericht, 9a Senat, hat ohne mündliche Ver-

handlung am 13. August 1986

für Recht erkannt:



Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen

Versäumens der Revisionsfrist gewährt.



Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen

Landessozialgerichts vom 29. August 1985 aufgehoben, soweit

es Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz wegen Gesund-

heitsstörungen auf psychiatrisch—neurologischem und auf



-2-



urologischem Gebiet betrifft. Insoweit wird die Sache zur

erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozial-

gericht zurückverwiesen.



Im übrigen wird die Revision als unzulässig verworfen.



Gründe:



Der Kläger, der in Österreich lebt, war vom 2. Mai bis zum



26. September 1945 wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit in

jugoslawischer Haft. Auf schädigende Einwirkungen dieses Lager-

aufenthalts führt er mehrere Gesundheitsstörungen zurück. Sein

Versorgungsantrag nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ist er-

folglos geblieben (Bescheid vom 25. Januar 1979, Widerspruchs-

bescheid vom 3. Juli 1980, Urteile des Sozialgerichts -SG- vom

3. Februar 1981 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 29. Au-

gust 1985). Das LSG hat einen ursächlichen Zusammenhang zwischen

zahlreichen Gesundheitsstörungen, die der Kläger geltend macht,

und Hafteinwirkungen als nicht wahrscheinlich beurteilt. Insbe-

sondere hätte dies nicht für ein Nervenleiden und für Störungen

im urologischen Bereich zugunsten des Klägers geklärt werden

können. Die vom Urologen für notwendig erachteten Untersuchungen

als Grundlage für eine fachliche Begutachtung seien nicht möglich

gewesen, weil der Kläger die Mitwirkung daran abgelehnt habe. Das

Gericht hat sich mit Gutachten begnügt, die nach Aktenlage er-



- 3 -



stellt worden sind.



Der Kläger rügt mit seiner — vom LSG zugelassenen — Revision eine

Verletzung der §§ 103 und 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG), des § 1

Abs 3 BVG und des § 66 Abs 3 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner

Teil - (SGB 1). Das Berufungsgericht hätte ein psychiatrisch-

neurologisches und ein urologisches Gutachten auf Grund von Un-

tersuchungen des Klägers einholen müssen. Zwei Sachverständige

für diese Fachgebiete hätten in ihren nach Aktenlage erstatteten

Gutachten diese Sachaufklärung für erforderlich erklärt. Der

Kläger hätte über die Folgen einer Weigerung, bei diesen Beweis-

erhebungen mitzuwirken, vom Gericht hinreichend belehrt werden

müssen. Dies sei nicht geschehen. Deshalb hätte seine Äußerung,

er könne sich jetzt aus gesundheitlichen Gründen nicht nochmals

untersuchen lassen, nicht als endgültige Weigerung gewertet wer-

den dürfen.



Auf Anfrage des Revisionsgerichts hat der Kläger persönlich aus-

drücklich erklärt, er wolle an den notwendigen Untersuchungen

mitwirken.



Der Kläger beantragt,

ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

wegen Versäumung der Revisionsfrist zu

gewähren.



In der Sache beantragt er,



das Urteil des LSG aufzuheben und den



- 4 -



Rechtsstreit an das Berufungsgericht

zurückzuverweisen.



Der Beklagte beantragt,



die Revision als unzulässig zu verwerfen.



Nach seiner Auffassung hat die Revision einen Beweisantrag nicht

dargetan.



Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche

Verhandlung einverstanden erklärt.



II



Dem Kläger war Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen un-

verschuldeten Versäumens der Revisionsfrist zu gewähren (§ 67

SGG); er war wegen der wirtschaftlichen Voraussetzung für eine

Prozeßkostenhilfe gehindert, rechtzeitig einen Prozeßbevollmäch-

tigten zu beauftragen.



Die Revision des Klägers hat teilweise Erfolg.



Der Kläger begehrt Versorgung nach dem BVG wegen verschiedener

Gesundheitsstörungen als wahrscheinlichen Folgen seiner jugosla-

wischen Haft (§ 1 Abs 1 und 2 Buchstaben a und c, Abs 3 Satz 1,

§ 5 Abs 1 Buchstabe d, § 9 BVG). Soweit es um die tatsächlichen



- 5 -



Voraussetzungen für die Anerkennung von psychiatrisch-neurologi-

schen und von urologischen Störungen als Schädigungsfolgen (BSG

SozR Nr 81 zu § 1 BVG) und um einen darauf beruhenden Versor-

gungsanspruch geht, hat der Kläger formgerecht und zutreffend

gerügt, daß das LSG seine Sachaufklärungspflicht (§ 153 Abs 1,

§§ 155, 103 Satz 1 Halbs 1 und Satz 2, § 106 Abs 3 Nr 4 SGG)

verletzt hat. Damit fehlt es insoweit an verbindlichen tatsäch-

lichen Feststellungen für eine Sachentscheidung (§§ 163, 104

Abs 2 Satz 3 SGG). Bezüglich dieser selbständigen Ansprüche und

teilbaren Streitgegenstände (§§ 123, 141 Abs 1 SGG) ist das an-

gefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten

Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170

Abs 2 Satz 2 SGG; stRspr, zB BSGE 41, 80, 81 = SozR 3100 § 35

Nr 2; Zeine, Das Sozialgerichtsgesetz und seine Anwendung, § 170

Abs 2 und 3, Rz 15b; Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, 1981, § 170,

Rz 6).



Dem Berufungsgericht hätte es sich auf Grund von Äußerungen des

Urologen Dr. S. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme

vom 13. August 1984 und des Nervenarztes Prof. Dr. F.

im Aktengutachten vom 21. Januar 1985 aufdrängen müssen, den

Kläger von Sachverständigen dieser beiden Fachgebiete untersuchen

und begutachten zu lassen. Die beigezogenen Befundunterlagen und

die nach Aktenlage erstatteten Gutachten ergaben kein zureichen-

des Bild über die beim Kläger im psychiatrisch-neurologischen und

im urologischen Bereich bestehenden Gesundheitsstörungen. Erst

wenn die Krankheitsbilder auf diesen medizinischen Gebieten durch



- 6 -



erforderliche ambulante oder notfalls stationäre Untersuchungen

geklärt sind, ließe sich fachärztlich beurteilen, ob die fest-

gestellten Gesundheitsstörungen mit Wahrscheinlichkeit durch

schädigende Einwirkungen der jugoslawischen Haft als wesentliche

Allein- oder Mitbedingung anhaltend verursacht worden sind. Es

ist nicht ausgeschlossen, daß die noch erforderlichen Beweiser-

hebungen zu einem für den Kläger günstigen Ergebnis führen. Me-

dizinische Sachverständige könnten den Kläger bei ihren Untersu-

chungen auch fachlich gezielt nach Haftumständen befragen, die

als Krankheitsursachen in Betracht kommen, sowie nach dem Krank-

heitsbeginn und -verlauf. Diese Aufklärung wäre notwendig als

Grundlage für die richterliche Entscheidung, welche Einwirkungen

als erwiesen anzusehen sind. Vorab müßte medizinisch geklärt

werden, ob nach allgemeiner Erfahrung schwere Belastungen und

Schädigungen in einer so kurzen Haft, wie sie der Kläger erlitten

hat, schädigende Auswirkungen auf psychiatrisch-neurologischem

Gebiet schlechthin nicht erwarten lassen.



Die gebotene Beweiserhebung erübrigte sich nicht deshalb, weil

der Kläger nicht in der gebotenen Weise bei den ärztlichen Un-

tersuchungen hätte mitwirken wollen (§ 103 Satz 1 Halbs 2 SGG;

Meyer-Ladewig, aaO, § 103, Rz 13 ff; Peters/Sautter/Wolff, Komm

zur Sozialgerichtsbarkeit, § 103, Anm 3; aA Heinze, SGb 198A,

390, 395 f). Bevor das Gericht aus der Erklärung des Klägers, aus

gesundheitlichen Gründen könne er zur Zeit nicht zur ärztlicnen

Untersuchung erscheinen, folgern durfte, er mache endgültig die

gebotene Sachaufklarung unmöglich, hätte es ihn hinreichend über

die Folgen eines solchen Verhaltens schriftlich belehren müssen.



Das folgt entgegen der Rechtsansicht der Revision nicht aus der



-7 -



Vorschrift des § 66 Abs 3 SGB 1 vom 11. Dezember 1975 (BGBl I

3015), die eine entsprechende Regelung enthält (BSG SozR 1500

§ 160 Nr 3A; Peters/Sautter/Wolff, aaO, S 103, Anm 3 S II/74-öf;

aA anscheinend Meyer-Ladewig, § 103, Rz 17). Diese Bestimmung

regelt eine Voraussetzung für die Versagung oder Entziehung einer

Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung, ua bei einer ärztli-

chen Untersuchung (§ b2 SGB 1) im Verwaltungsverfahren (§ 66

Abs 1 und 2 SGB 1). Im Gerichtsverfahren ist hingegen eine Ver-

letzung der Mitwirkungspflicht bei der Sachaufklärung allein be-

deutsam für die Beweiswürdigung; sie kann zur Folge haben, daß

die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht als erwiesen anzusehen

sind (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Dann ist der Klageanspruch nicht

begründet. Indes wird auch im Prozeß, ungeachtet des § 66 Abs 3

SGB 1, regelmäßig als Voraussetzung einer solchen Folgerung ver-

langt, daß das Gericht zuvor den Beteiligten hinreichend über

seine Mitwirkungspflicht und über jene Auswirkung einer unbe-

gründeten Weigerung belehrt hat (BSG SozR Nr 55 zu § 103 SGG;

Meyer-Ladewig, aaO). Daran fehlte es im Schreiben des LSG vom

27. Juli 1983, in dem der Kläger bloß gefragt wurde, ob er zur

Untersucnung in G. oder in der näheren Umgebung bereit und in

der Lage sei. Das Berufungsgericht hat ohne weitere Nachfrage auf

Grund der oben zitierten Erklärung des Klägers Begutachtungen

nach Aktenlage angeordnet. Der Kläger hat aber im Revisionsver-

fahren auf genaueres Befragen verbindlich erklärt, er wolle sich

den erforderlichen Untersuchungen unterziehen.



Im übrigen ist die Revision nicht zulässig, was für jeden ein-

zelnen selbständigen Anspruch gesondert zu prüfen und zu ent-



- 8 -



scheiden ist (BSGE 7, 35, 38 f). Die Frage, die die Grundlage des

gesamten Berufungsurteils betrifft, ob nämlich die mitwirkenden

ehrenamtlichen Richter ordnungsmäßig berufen worden waren, ist

nicht Gegenstand der Revision. Der Kläger hat ausdrücklich er-

klärt, eine darauf bezogene Revisionsrüge erhebe er nicht. Diese

Frage ist im übrigen inzwischen höchstrichterlich geklärt (Bun-

desverfassungsgericht SozR 1500 § 13 Nr 1; zur Veröffentlichung

bestimmtes Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Januar

1986 - 11a RA 46/85 -.



Gegen die Entscheidung über die einzelnen anderen selbständigen

Ansprüche, dh bezüglich der Nichtbewertung einzelner anderer Ge-

sundheitsstörungen als Schädigungsfolgen sowie des Ausschlusses

einer BVG-Entschädigung für die jugoslawische Haft als solche und

für eine anschließende Arbeitslosigkeit, hat der Kläger keine

Revisionsrügen geltend gemacht. Damit ist insoweit die Revision

unzulässig (BSG SozR 1500 § 104 Nr 22) und zu verwerfen (§ 169

Satz 1 und 2 SGG).



- 9 -



Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG

vorbehalten.

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BSG, 9a BVi 7/83 vom 21.11.1983, Bundessozialgericht
SozR 1500 § 160 Nr 51

Bundessozialgericht

9a BVi 7/83

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Kläger und Beschwerdeführer,

Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Beklagter und Beschwerdegegner.

Das Bundessozialgericht, 9a Senat, hat am 21. November 1983

beschlossen:

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der
Revision durch das Landessozialgericht Niedersachsen im

Urteil vom 19. Mai 1983 wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe

Die Beschwerde ist nicht zulässig; mit ihr wird keine der Vor—
aussetzungen, die nach § 160 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für
die Zulassung der Revision aufgeführt sind, in der nach § 160a
Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form bezeichnet.

Der Kläger sieht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
(§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) darin, daß die "Beweislastumkehr" im
Impfschadensrecht jedenfalls dann geboten sei, wenn der streitige
ursächliche Zusammenhang trotz erschöpfender Sachaufklärung nicht
wahrscheinlich, aber auch nicht unwahrscheinlich sei. Diese
Rechtsfrage ist nicht mehr klärungsbedürftig, da sie vom Revi—
sionsgericht — wie übrigens vom Kläger selbst vorgetragen — be—
reits entschieden ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13). Nach den Ur—
teilen des erkennenden Senats vom 28. Oktober 1980 (Breithaupt
1981, 803f) und vom 19. August 1981 (BSG SozR 3850 § 52 Nr 1)
kehrt sich die Beweislast bei der Feststellung des ursächlichen
Zusammenhangs zwischen Impfung und Gesundheitsstörung (= haf—
tungsausfüllende Kausalität) nicht um. Vielmehr ist die Wahr-
scheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs genügend, aber auch
erforderlich. Läßt sich unter diesen erleichterten Bedingungen
der Wahrscheinlichkeit ein anspruchsbegründender Umstand nicht
ermitteln, geht dies zu Lasten desjenigen, der daraus eine ihm
günstige Rechtsfolge geltend macht (ständige Rechtsprechung des
BSG ua BSGE 30, 121, 123 = SozR Nr 83 zu § 128 SGG; SGb 1976,
490). Demgegenüber beziehen sich die vom Reichsgericht und

- 3 -

Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätze über die Beweislastum—
kehr bei Arzthaftpflichtprozessen auf die haftungsbegründende
Kausalität. Da der Kläger gleichwohl eine grundsätzliche Bedeu-
tung der Rechtsfrage geltend macht, obliegt es ihm darzulegen, in
welchem Umfang, von welcher Seite und mit welcher Begründung der
Rechtsprechung widersprochen bzw die Beantwortung der Rechtsfrage
umstritten ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13; 1500 § 160 Nr 17).
Dies ist nicht geschehen. Der Kläger bezieht sich lediglich auf
die Ausführungen von Walter Bogs, mit denen sich der Senat
bereits in seinem Urteil vom 19. August 1981 (aaO) auseinander—
gesetzt hat.

Ebensowenig ist der Rechtsbegriff der Wahrscheinlichkeit im
Impfschadensrecht klärungsbedürftig. Wie der erkennende Senat in
den oben zitierten Entscheidungen entschieden hat, ist das Impf-
schadensrecht allen Rechtsgrundsätzen des Bundesversorgungsge-
setzes (BVG) unterstellt worden, soweit nicht Besonderheiten
ausdrücklich angeordnet worden sind. Das Impfschadensrecht ist
dem sozialen Entschädigungsrecht im Sinne der §§ 5 und 24 So-
zialgesetzbuch (Allgemeiner Teil) - SGB 1 - eingegliedert. Dieses
soziale Entschädigungsrecht richtet sich nach versorgungsrecht-
lichen Grundsätzen (Art II § 1 Nr 11 Buchst d SGB 1). Infolge-
dessen ist die gleichlautende Rechtsnorm über die Anforderung,
die an den Gewißheitsgrad für den ursächlichen Zusammenhang ge-
stellt wird, hier nicht anders als im Recht der Kriegsopferver-
sorgung auszulegen. Der erkennende Senat hat auch in den genann—
ten Entscheidungen ausgeführt, daß die besondere Ausgestaltung
des Sozialstaatspostulats im Sozialgesetzbuch die Beweisanfor—

- 4 -

derungen auch im Impfschadensrecht unangetastet läßt. Die dem
einzelnen zustehenden sozialen Rechte begründen Ansprüche nur
insoweit, als sie im besonderen Teil des Sozialgesetzbuches
normiert sind (§ 2 Abs 1 Satz 2 SGB 1). Als ein solcher im
genannten Sinne besonderer Teil rechnet das BVG, auch soweit § 51
des Bundesseuchengesetzes die entsprechende Anwendung der
Leistungsvorschriften des BVG vorsieht (Art II S 1 Nr 11 Buchst d
SGB 1).

Bei der ebenfalls als Grund für die Zulassung der Revision gel-
tend gemachte Abweichung des angefochtenen Urteils von den Ur-
teilen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Februar 1980
- 5 RKnU 4/79 —‚ vom 19. August 1981 - 9 RVi 5/80 -‚ vom
22. September 1977 - 10 RV 15/77 — sowie BSGE 19, 52 und 24, 25,
fehlt es an der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen "Bezeich-
nung". Zur Zulässigkeit der Divergenzrüge (5 160 Abs 2 Nr 2 SGG)
gehört die Darlegung, zu welcher konkreten Rechtsfrage eine Ab—
weichung vorliegt; der Beschwerdeführer muß dartun, mit welcher
konkreten rechtlichen Aussage das Landessozialgericht (LSG) von
einer bestimmten Aussage der höchstrichterlichen Rechtsprechung
abgewichen ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 21 und Nr 29). Soweit der
Kläger unter Bezugnahme auf die drei erstgenannten Urteile des
BSG darauf verweist, daß die einzige konkrete Möglichkeit aber
auch wahrscheinlich sei, ist dem Beschwerdevorbringen nicht zu
entnehmen, welche konkrete Rechtsfrage das LSG anders entschieden
haben soll. Daß andererseits bei der gegebenen Fallgestaltung der
Kläger sich in einem Beweisnotstand befunden habe, erörtert er
nicht im einzelnen. Auch ist ein Abweichen von einer konkreten

- 5 -

Rechtsfrage nicht dargelegt. Abgesehen davon befaßt sich die
Entscheidung BSGE 19, 52, 56 mit der Beweiswürdigung bei unge—
klärter Todesursache und gerade nicht mit dem ursächlichen Zu-
sammenhang, um den es hier ausschließlich geht. Die Entscheidung
BSG 24‚ 25 nimmt zu der Frage der Feststellungslast und Beweis—
würdigung bei schuldhaft vereitelter Sachverhaltsaufklärung
Stellung, hat also ebensowenig den ursächlichen Zusammenhang zum
Inhalt. Inwieweit dennoch eine Abweichung gegeben sein soll, ist
dem Beschwerdevorbringen des Klägers nicht zu entnehmen.

Mit der Rüge, das Berufungsgericht hätte den Beweisanträgen
stattgeben müssen, macht der Kläger eine Verletzung der Sach—
aufklärungspflicht (§ 103 SGG) geltend. Indes fehlen Angaben
darüber, um welche Anträge es sich im einzelnen handelt und wann
diese gestellt worden sind. Sie sind mithin für das Revisions—
gericht nicht ohne weiteres auffindbar. Infolgedessen fehlt es an
einer hinreichenden Kennzeichnung derselben (BSG SozR 1500 § 160
Nr 5).

Die Beschwerde des Klägers enthält in seinem wesentlichen Teil
den Vorwurf, das LSG habe das Recht der freien Beweiswürdigung
(§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) verletzt. Diese Rüge ist als Zulas—
sungsgrund schlechthin ausgenommen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2
SGG). Das gilt auch insoweit, als der Kläger sich gegen die
materielle Richtigkeit des Berufungsurteils wendet. Gegenstand
der Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht die Prüfung, ob das
Berufungsgericht richtig entschieden hat. Vielmehr kann auf die
Beschwerde lediglich geprüft werden, ob eine der in § 160 Abs 2

- 5 -

SGG abschließend aufgezählten Zulassungsgründe geltend gemacht
ist und auch vorliegt (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 9).

Nach alldem ist das Rechtsmittel zu verwerfen (S 169 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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BSG, 9/9a RVs 19/86 vom 03.02.1988, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: 9/9a RVs 19/86

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Beklagter und Revisionsbeklagter.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung
am 3. Februar 1988

für Recht erkannt:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom
23. Oktober 1986 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

Bei dem Kläger ist wegen seiner Kriegsverletzung und wegen anderer Gesund-
heitsstörungen ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 vH anerkannt. Ihm ist
ferner das Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung) und die Berechtigung
zur zuschlagsfreien Benutzung der 1. Klasse bei Reisen mit der Bundesbahn
zuerkannt. Er erstrebt auch das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Geh-
behinderung), um die besonderen für außergewöhnlich Gehbehinderte einge-
richteten Parkplätze benutzen zu dürfen, weil er nur ein- und aussteigen könne,
wenn die Wagentür vollständig geöffnet sei; das setze die geräumigeren mit
dem Rollstuhlfahrersymbol gekennzeichneten Parkplätze voraus.

Das Sozialgericht Gelsenkirchen (SG) hat die Klage mit der Begründung abge-
wiesen, der Kläger gehöre nicht dem gesetzlich umschriebenen Personenkreis
an, der sich wegen der Schwere des Leidens ständig nur mit fremder Hilfe oder
nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen könne.
Pro Tag könne der Kläger zwar nur 1 bis 1,5 km an Wegstrecke zurücklegen, er
sei jedoch fähig, zusammenhängend 300 m zu gehen. Diese Fähigkeit über-
steige erheblich die Gehstrecke, die Querschnittsgelähmten, Doppeloberschen-
kelamputierten oder vergleichbaren Behinderten noch zugemutet werden
könne.

Mit der vom SG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, er könne im
Umkreis von 300 m von seiner Wohnung kein öffentliches Verkehrsmittel errei-
chen. Wenn man ihm das Merkzeichen "aG" verweigere, verstoße dies gegen
den Zweck des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG), die Eingliederung in
Arbeit, Beruf und Gesellschaft zu fördern. Es müsse immer die Behinderung im
Einzelfall beachtet werden.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Beklagten unter Abän-
derung des Bescheides vom 23. November 1984 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 1985 und unter Aufhebung des
Bescheides vom 3. Juni 1983 zu verurteilen, ihm das Merkzeichen
"außergewöhnliche Gehbehinderung (aG)" zuzuerkennen.

- 3 -

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Ver-
handlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden.

II

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das SG hat zu Recht entschieden,
daß dem Kläger das Merkzeichen "aG" nicht zusteht.

Nach § 3 Abs 4 SchwbG idF der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979
(BGBl I 1649) und ebenso nach § 4 Abs 4 der Neufassung vom 26. August
1986 (BGBl I S 1421, berichtigt 1550) treffen die für die Durchführung des Bun-
desversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Fest-
stellungen über weitere gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung für die
Inanspruchnahme einer Vergünstigung, bzw eines Nachteilsausgleichs. Nach
§ 3 Abs 1 Nr 1 der Vierten Verordnung zur Durchführung der SchwbG vom
15. Mai 1981 (BGBl I 431 - Ausweisverordnung -, jetzt gültig idF der Bekannt-
machung vom 3. April 1984 - BGBl I S 509) ist im Ausweis des Schwerbehin-
derten das Merkzeichen "aG" einzutragen, wenn der Schwerbehinderte außer-
gewöhnlich gehbehindert ist iS des § 6 Abs 1 Nr 14 des Straßenverkehrs-
gesetzes (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften.
Damit weist das Schwerbehindertenrecht, wie der Senat bereits in seinem Urteil
vom 6. November 1985 - 9a RVs 7/83 - (SozR 3870 § 3 Nr 18) entschieden hat,
die Abgrenzung des begünstigten Personenkreises dem Rechtsgebiet zu, für
das die Begünstigung allein Bedeutung hat. Denn ein Ausweis mit dem Merk-
zeichen "aG" befreit den Behinderten von Beschränkungen des Haltens und
Parkens im Straßenverkehr und eröffnet ihm besonders gekennzeichnete
Parkmöglichkeiten, die - wie der Kläger zutreffend anführt - auch eine größere
Fläche als Parkraum zur Verfügung stellen (nach DIN 18 024 Teil 1, wie in der
nach § 6 Abs 1 Straßenverkehrsgesetz -StVG- idF vom 6. April 1980 (BGBl I
S 413) zuletzt erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Änderung der
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO vom 21. Juli 1980 (BAnz Nr 137
vom 29. Juli 1980 S 2) unter Art 1 Nr 7a VIII zu § 45 angeordnet ist).

- 4 -

Umschrieben wird der begünstigte Personenkreis in der vom Bundesminister
für Verkehr erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO idF vom
22. Juli 1976 (BAnz Nr 142 vom 31. Juli 1976 S 3), die auf der gesetzlichen
Grundlage des § 6 StVG idF vom 6. August 1975 (BGBl I 2121) beruht. Dort
wird unter Art 1 II die alte Verwaltungsvorschrift zu § 46 unter Nr 11 dahin er-
gänzt, welche Schwerbehinderten als außergewöhnlich gehbehindert anzuse-
hen sind, nämlich solche, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd
nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraft-
fahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppel-
oberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, aber auch einseitig
Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tra-
gen oder die nur eine Beckenkorbprothese tragen können. Neben beispielhaft
aufgeführten Behinderten zählen dazu auch diejenigen, die nach versorgungs-
ärztlicher Feststellung aufgrund von Erkrankungen dem vorstehend
angeführten Personenkreis gleichzustellen sind; des weiteren enthält diese
Verwaltungsvorschrift besondere Regelungen für Blinde.

Das SG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger dem begünstigten Perso-
nenkreis nicht gleichgestellt werden kann. Er leidet an einer erheblichen Bewe-
gungseinschränkung des Hüftgelenks bei federnder Versteifung des Knie-
gelenks nach deformverheiltem Schußbruch des linken Oberschenkels. Wie der
Senat bereits in dem genannten Urteil unter Bezugnahme auf SozR 3870 § 3
Nr 11 entschieden hat, liegt eine außergewöhnliche Gehbehinderung in diesem
Sinne nur vor, wenn die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße einge-
schränkt ist; die Fähigkeit zu gehen muß unter ebenso großer Anstrengung
oder ebenso nur noch mit fremder Hilfe möglich sein, wie bei dem beispielhaft
aufgeführten Personenkreis. Das Recht, die Gruppe der zu begünstigenden
Schwerbehinderten aus den Zwecken des SchwbG darüber hinaus zu erwei-
tern, ist weder den für die Ausstellung des Ausweises zuständigen Behörden
noch den Sozialgerichten eingeräumt. Vielmehr hat der Gesetzgeber durch die
Formulierung in § 3 Abs 1 Nr 1 der Schwerbehinderten-Ausweisverordnung in-
soweit straßenverkehrsrechtliche Vorschriften für maßgeblich erklärt. Daran hat
die Aufforderung des § 48 Abs 1 SchwbG (in der seit 1. August 1986 geltenden
Fassung), die Nachteilsausgleiche so zu gestalten, daß sie der Art oder
Schwere der Behinderung Rechnung tragen, nichts geändert. Gleichgestellt
werden können daher nicht alle Personen, die durch vergleichbar schwere Lei-
den behindert sind, sondern nur solche, bei denen die Auswirkungen der
Leiden denen gleichzuerachten sind, die der Bundesminister für Verkehr in
seinen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften genannt hat. Der

- 5 -

Leidenszustand muß wegen der außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen
die Fortbewegung auf das Schwerste einschränken.

Das SG hat unangegriffen (§ 163 SGG) festgestellt, daß die von verschiedenen
Ärzten festgestellte Gehstrecke, die der Kläger noch zusammenhängend zu-
rücklegen kann, weit über den Wegstrecken liegt, die Doppeloberschenkel-
amputierten und vergleichbaren Personen zugemutet werden können. Der Klä-
ger erstrebt auch die Vergünstigung nicht so sehr deshalb, weil er von gewöhn-
lichen Parkplätzen aus angestrebte Ziele nicht erreichen könnte. Er sieht sich
auf einen mit dem Rollstuhlfahrersymbol gekennzeichneten Parkplatz deshalb
angewiesen, weil normale Parkplätze ihm das Ein- und Aussteigen nicht oder
nicht ungefährdet ermöglichen. Zum Ausgleich derartiger Nachteile hat aber der
Bundesminister für Verkehr die Ausnahmegenehmigung nicht geschaffen. Sie
ist vielmehr dazu gedacht, den Schwerbehinderten mit dem Pkw möglichst
nahe an sein jeweiliges Ziel fahren zu lassen: Er darf in Fußgängerzonen par-
ken, Parkzeiten überschreiten oder ohne Gebühr parken. Damit derartige Park-
plätze auch ortsnah zur Verfügung stehen, sind Sonderparkplätze in der Nähe
von Behörden, Krankenhäusern, Orthopädischen Kliniken anzulegen; den
außergewöhnlich Gehbehinderten sind auch Parksonderrechte vor der Woh-
nung oder in der Nähe der Arbeitsstätte einzurichten, wenn in zumutbarer Ent-
fernung eine Garage oder ein Abstellplatz außerhalb des öffentlichen Verkehrs-
raumes nicht vorhanden ist (vgl die Allgemeine Verwaltungsvorschrift in der
Fassung vom 21. Juli 1980 aaO). Der Umfang dieser Vergünstigungen verdeut-
licht nochmals, daß nicht die Schwierigkeiten bei der Benutzung des gewöhnli-
chen Parkraums, sondern die jeweilige Lage bestimmter Parkplätze zu be-
stimmten Zielen straßenverkehrsrechtlich maßgeblich ist. Der Nachteilsaus-
gleich soll allein die neben der Personenkraftwagenbenutzung unausweichlich
anfallende tatsächliche Wegstrecke soweit wie möglich verkürzen. Dies be-
deutet zugleich, daß der Personenkreis eng zu fassen ist. Denn mit der Aus-
weitung des Personenkreises steigt nicht nur die Anzahl der Benutzer, dem an
sich mit einer Vermehrung entsprechender Parkplätze begegnet werden
könnte. Mit jeder Vermehrung der Parkflächen wird aber dem gesamten Perso-
nenkreis eine durchschnittlich längere Wegstrecke zugemutet, weil ortsnaher
Parkraum nicht beliebig geschaffen werden kann. Auch hier ist bei einer an sich
vielleicht wünschenswerten Ausweitung des begünstigten Personenkreises zu
bedenken, daß dadurch der in erster Linie zu begünstigende Personenkreis
wieder benachteiligt würde.

Auch aus der Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung für Blinde können
weitere Folgerungen zugunsten des Klägers nicht gezogen werden. Wie der

- 6 -

Senat in der Entscheidung SozR 3870 § 3 Nr 18 bereits ausgeführt hat, fehlt es
insoweit an der Möglichkeit, sonstige Beschädigte mit Blinden gleichzustellen.
Die maßgebliche Verwaltungsvorschrift zu § 46 Nr 11 II Nr 2 besagt vielmehr im
Einklang mit § 6 Abs 1 Nr 14 StVG lediglich, daß für Blinde ebenso wie für
außergewöhnlich Gehbehinderte eine Ausnahmegenehmigung zugunsten des
jeweiligen Kraftfahrzeugführers ausgestellt werden kann. Die Blinden werden
damit nicht zu außergewöhnlich Gehbehinderten erklärt. Ihnen wird nur stra-
ßenverkehrsrechtlich derselbe Nachteilsausgleich eingeräumt, ohne daß ihr
Schwerbehindertenausweis mit "aG" zu kennzeichnen ist. Auf die tatsächliche
Handhabung kommt es insoweit nicht an. Schon deshalb entbehrt der Gleich-
stellungsanspruch des Klägers gegenüber der Versorgungsverwaltung der
Grundlage. Der Kläger ist auch nicht generell an der Benutzung gewöhnlicher
Parkplätze gehindert. Es hängt von ihrer Lage und Ausgestaltung im Einzelfall
ab, ob der Kläger auf der Fahrerseite die Tür ausreichend weit öffnen und mit
welchen Vorkehrungen er eine Gefährdung durch den fließenden Verkehr ver-
meiden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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BSG, 9/9a BV 196/87 vom 15.02.1988, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht



9/9a BV 196/87





Beschluß





in dem Rechtsstreit







Klägerin, Antragstellerin



und Beschwerdeführerin,



Prozeßbevollmächtigte:







Beklagter, Antragsgegner



und Beschwerdegegner.







Das Bundessozialgericht, 9. Senat, hat am 15. Februar 1988



beschlossen:







Der Antrag der Klägerin, ihr Prozeßkostenhilfe für das Ver-



fahren vor dem Bundessozialgericht zu gewähren und Rechts-



anwalt K als Prozeßbevollmächtigten beizuordnen,



wird abgelehnt.







Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der



Revision durch das Landessozialgericht Niedersachsen im



Urteil vom 14. August 1987 wird als unzulässig verworfen.







- 2 -







Kosten sind nicht zu erstatten.







G r ü n d e :







Prozeßkostenhilfe kann der Klägerin nicht gewährt werden, weil



ihre Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg



bietet (§ 73a Sozialgerichtsgesetz -SGG- iVm § 11H Abs 1 Satz 1



Zivilprozeßordnung -ZPO-).







Die Revision ist nicht durch das Bundessozialgericht (BSG) zuzu-



lassen; denn die Klägerin hat einen Beweisantrag, den das Lan-



dessozialgericht (LSG) ohne hinreichende Begründung übergangen



haben soll (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 iVm § 103), nicht form-



gerecht bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).







Einen solchen Antrag hätte sie entweder nach dem Inhalt der



Sitzungsniederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem



Berufungsgericht oder wenigstens nach dem Urteilsinhalt gestellt



oder vorher schriftlich vorgebracht und bis zum Ende der Sitzung



aufrecht erhalten haben müssen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 12). Nach



der Beschwerdebegründung ist keine dieser Voraussetzungen er-



füllt.







Die Klägerin bezieht sich lediglich auf einen mündlich gestellten



Antrag, der nicht protokolliert wurde. Sie behauptet nicht, er



sei in die Sitzungsniederschrift aufgenommen worden (§§ 153, 122







- 3 -







SGG iVm § 159 Abs 1 Satz 1, § 160 Abs 3 Nr 2 und Abs 6 ZPO), was



auch nicht zutrifft. Ein Beweisantrag, der über § 160 Abs 2 Nr 3



Halbsatz 2 SGG für die Zulassung der Revision bedeutsam wird, muß



protokolliert sein; er gehört zu den Anträgen "im weiteren Sinn",



und zwar zu den rechtserheblichen Angriffsmitteln, die in § 136



Abs 2 Satz 2 SGG neben dem "erhobenen Anspruch" (vgl dazu § 123



SGG) genannt werden. Das Beachten dieser vorgeschriebenen Förm-



lichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden (§ 165



ZPO). wenn eine Klägerin - wie im gegenwärtigen Fall - vor dem



LSG durch einen Rechtsanwalt vertreten war, ist der protokol-



lierte Antrag iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG ebenso maß-



geblich, wie wenn sie nicht rechtskundig vertreten war. Im



zweiten Fall muß das Revisionsgericht davon ausgehen, daß der



Vorsitzende des Berufungsgerichts einen gestellten Beweisantrag



hätte protokollieren lassen (§ 112 Abs 2 Satz 2 SGG iVm § 160



Abs 3 Nr 2 ZPO). Die Klägerin behauptet nicht, sie habe durch



ihren Rechtsanwalt die Protokollierung eines Beweisantrages, auf



den die Beschwerde abstellt, beantragt (§ 160 Abs 4 Satz 1 ZPO)



und dies sei abgelehnt worden (§ 160 Abs 4 Satz 2 und 3 ZPO).



Schließlich hat die Klägerin keine Protokollergänzung oder -be-



richtigung beantragt (§ 160a Abs 2 Satz 3 und § 164 ZPO).







Ein Beweisantrag, auf den sich die Klägerin jetzt bezieht, wird



auch nicht im Tatbestand des Berufungsurteils wiedergegeben



(§ 136 Abs 1 Nr 5 und Abs 2 Satz 2 SGG). Insoweit hat die Kläge-



rin keine Berichtigung des Urteils beantragt (§ 139 SGG). Eine



Prozeßhandlung, die für die Eröffnung des Revisionsverfahrens



unerläßlich wäre, muß in verfahrensrechtlich vorgeschriebener







- 4 -







Form beurkundet sein, dh im Protokoll oder wenigstens im Ur-



teilstatbestand. Die Zulassung der Revision kann nicht davon ab-



hängig sein, ob sich bei einer vom Revisionsgericht zu veran-



lassenden Zeugenvernehmung die Richter, der Schriftführer oder



ein Beteiligter daran erinnern können, daß der Kläger eine wei-



tere Beweiserhebung mündlich beantragt hat.







Die Beschwerdebegründung verweist mit ihrem Bezug auf die beiden



Schriftsätze der Klägerin vom 14. März 1986 und 29. April 1986



nicht auf einen solchen Beweisantrag. Die Beschwerde wird darauf



-gestützt, daß ein Ursachenzusammenhang zwischen einer Leberschä-



digung und einer Lues-Behandlung mit arsenhaltigem Neo-Salvarsan



nicht geprüft worden sei. Zwar hat die Klägerin in den bezeich-



neten Schriftsätzen für notwendig erklärt, noch durch ein Gut-



achten zu klären, ob eine Salvarsan-Behandlung ihren Leberschaden



verursacht habe. Aber damit stellte sie kein neues Beweisthema



zur Diskussion; denn Prof. Dr. K , dessen Gutachten vom



25. Mai 1984 die Klägerin damals beanstandete und noch weiterhin



für unzureichend hält, hat auch eine Leberschädigung durch andere



Medikamente als Quecksilberpräparate zur Behandlung einer Lues



nicht als wahrscheinlich beurteilt (vgl das wörtliche Zitat in



der Beschwerdebegründung). Bei dieser Sachlage hätte die Klägerin



zu ihren schriftlichen Anträgen darlegen müssen, warum das Gut-



achten insoweit unzureichend sein sollte. Abgesehen davon wird



mit der Beschwerde nicht schlüssig geltend gemacht, nach dem



weiteren Verfahrensverlauf müsse angenommen werden, daß der Be-



weisantrag in der mündlichen Verhandlung aufrecht erhalten wurde



(BSGE 3, 284, 285; SozR 1500 § 160 Nr 12). Falls der Klägerin die







- 5 -







nach ihrer schriftlichen Beweisanregung vorgenommene Sachaufklä-



rung nicht genügte, hätte ihr Prozeßbevollmächtigter im Hinblick



auf § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG zuletzt vor der mündlichen



Verhandlung oder im Termin selbst einen ergänzenden Beweisantrag



entsprechend dem jetzigen Beschwerdevorbringen ausdrücklich stel-



len müssen. Die Klägerin behauptete nicht, sie habe genau einen



derartigen Beweisantrag in der Sitzung vorgebracht. Bei dieser



Verfahrenslage durfte das LSG davon ausgehen, daß eine Begutach-



tung über eine Verursachung durch Neo-Salvarsan nicht mehr bean-



tragt wurde.







Die Kostenentscheidung entspricht § 193 SGG.

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BGH, VIII 298/83 vom 30.05.1984, Bundesgerichtshof
BUNDESGERICHTSHOF

VIII ZR 298/83

BESCHLUSS

in dem Rechtsstreit

der Firma S. G.. de B. S.A., Aktiengesellschaft
belgischen Rechts, , M. du P., B., vertreten durch
ihren Vorstand, Albert C., Rene L., Yves B., Comte Eric
de V. de C, ebenda, diese vertreten durch die
B. Bank, Niederlassung K., der S. G. de
B. S.A,, Z.straße in K, vertreten durch
die Geschäftsleitunq, Dr. Jürgen D., Georges N.,

Kägerin und Revisionsklägerin

Prozeßbevollmächtiqter: Rechtsanwalt Dr.

den Kaufmann Mohammed Reza M.-Z., Inhaber der Handels-
firma M. Bros., G. B. in H. ,

Beklagten und Revisionsbeklagten,

Prozeßbevollmächtigte Rechtsanwälte Dr. und ,
IT. Instanz: in

- 2 -

Der VIII Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den
Vorsitzenden Richter B. und die Richter T., Dr. Z.,
Dr. P. und G.

am 30. Mai l984

beschlossen:

Der Antrag des Beklagten, ihm unter Beiordnung
seiner zweitinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten
Prozeßkostenhilfe für das beabsichtigte Verfahren
zur Bewilligung der Prozeßkostenhilfe zu gewähren,
wird zurückgewiesen.

Gründe:

I. Der Beklagte und Revisionsbeklagte beantragt, ihm Pro-
zeßkostenhilfe für das Verfahren zur Bewilligung von Prozeßko-
stenhilfe für das Revisionsverfahren zu gewähren und ihm dafür
seine zweitinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten beizuordnen.
Nach Bewilligung beabsichtigt er, Prozeßkostenhilfe für seine
Rechtsverteidigung in der Revisionsinstanz und für eine unsel-
bständige Anschlußrevision zu beantragen.

- 3 -

II. 1. Unter der Geltung des Armenrechts und auch nach
Einführung der Prozeßkostenhilfe war und ist in Rechtsprechung
und Literatur umstritten, ob im Prozeßkostenhilfe- (bzw. im
Armenrechts-) Bewilligungsverfahren Prozeßkostenhilfe (bzw.
Armenrecht) gewährt werden kann (vgl. ablehnend: OLG Schleswig
SchlHA 1978, 75; OLG Hamburg FamRZ 1978, 936; OLG Bremen JurBüro
1979, 447; OLG Karlsruhe AnwBl 1980, 198; OLG Düsseldorf JurBüro
1981, 773; OLG Nürnberg NJW 1982, 288; OLG Hamm FamRZ 1982, 623;
KG FamRZ 1982, 831; Schneider MDR 1981, 793; Pentz NJW 1982,
1269; Thomas/Putzo, ZPO, 12. Aufl. § 114 Anm. 1; Wieczorek,
ZPO, 2. Aufl. § 114 Rdn. A II; Zöller/Schneider, ZPO,
13. Aufl. Anm. I 1 b; ders. Vorbem. § 114 Anm. III;
bejahend: OLG Köln OLGZ 1969, 33, 35; OLG Celle Nds Rpfl 1977,
190; OLG Köln MDR 1980, 407; OLG Hamm NJW 1982, 287; Baumbach/
Lauterbach/Hartmann, ZPO, 41. Aufl. § 114 Anm. 2 B i, § 119
Anm. 1 C e; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl. § 118 a
Rdn. 14). Der Bundesgerichtshof hat diese Streitfrage bisher
nicht entschieden; er hat sie in seinem Beschluß vom 28. Janu-
ar 1956 - IV ZR 225/55 (*= LM ZPO § 119 Nr. 3) ausdrücklich
offen gelassen.

2. Der überwiegenden Auffassung, nach der für das Pro-
zeßkostenhilfeverfahren grundsätzlich keine Prozeßkostenhilfe
gewährt werden kann, ist zuzustimmen. Das Gesetz sieht Prozeß-
kostenhilfe für das Bewilligungsverfahren nicht vor (so auch OLG
Schleswig SchlHA 1978, 75, 76; OLG Bremen JurBüro 1979, 447; OLG

- 4 -

Düsseldorf JurBüro 1981, 773, 774; OLG Nürnberg, NJW 1982, 288;
OLG Hamm FamRZ 1982, 623). Nach § 114 ZPO kann Prozeßkostenhilfe
für die "Prozeßführung" gewährt werden. Hierunter ist das ei-
gentliche Streitverfahren zu verstehen, nicht aber das Prozeß-
kostenhilfeprüfungsverfahren, in welchem lediglich über die Ge-
währung staatlicher Hilfe für den Antragsteller zu befinden ist
(vgl. OLG Hamm FamRZ 1982, 623). Dagegen weisen diejenigen, die
Prozeßkostenhilfe für das Prüfungsverfahren befürworten, darauf
hin, im Prozeßkostenhilfeverfahren werde zwar unmittelbar über
staatliche Fürsorgeleistungen entschieden, gleichzeitig erfolge
jedoch eine vorläufige rechtliche Prüfung durch den Richter, in
deren Rahmen die Beteiligten ihre Rechte verfolgten. Das Be-
willigungsverfahren sei deshalb dem streitigen Prozeßverfahren
eng verwandt (OLG Köln OLGZ 1969, 33, 35, 36; vgl. auch OLG
Köln MDR 1980, 407).

Einer solchen ausdehnenden Auslegung bedarf es nach Sinn
und Zweck der Vorschriften über die Prozeßkostenhilfe jedoch
nicht. Der armen Partei soll ermöglicht werden, ihr Recht vor
Gericht zu verfolgen oder sich in einem Rechtsstreit zu vertei-
digen. Die Partei wird nicht dadurch benachteiligt, daß ihr für
das Bewilligungsverfahren keine Prozeßkostenhilfe gewährt, ins-
besondere kein Rechtsanwalt beigeordnet wird. Bedarf der Antrag-
steller, bevor er einen Antrag auf Prozeßkostenhilfe stellt, der
Beratung über die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung, so findet das Beratungshilfegesetz Anwen-

- 5 -

dung, das unter den Voraussetzungen des § 1 Rechtsberatung durch
Anwalt oder Gericht außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens er-
möglicht (vgl. OLG Nürnberg NJW 1982, 288; Schneider MDR 1981,
793, 794; Zöller/Schneider, ZPO, 13. Aufl. § 119 Anm. I 1 b
und Vorbem.§ 114 Anm. III; für die Anwendbarkeit des Bera-
tungshilfegesetzes zugunsten des Antrags g e g n e r s, weil
für diesen das Prozeßkostenhilfeverfahren kein gerichtliches
Verfahren sei, Pentz NJW 1982, 1269, 1270; a.A. auch für den
Antragsgegner: OLG Hamm NJW 1982, 287). Ziel des Beratungshilfe-
gesetzes ist es, sicherzustellen, daß die rechtliche Betreuung
finanziell hilfsbedürftiger Bürger auch im vor- und außerge-
richtlichen Bereich gewährleistet ist (vgl. Gesetzentwurf der
Bundesregierung und Stellungnahme des Bundesrates in BR-Drucks.
404/79, Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
(6. Ausschuß) in BT-Drucks. 8/3695). Hierzu gehört die Be-
ratung der armen Partei über ein beabsichtigtes Prozeßkosten-
hilfeverfahren, insbesondere die für die Bewilligung der Prozeß-
kostenhilfe maßgeblichen Erfolgsaussichten der vorgesehenen
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, die im vorliegenden
Falle vom Gericht zwar nicht hinsichtlich der Rechtsverteidigung
des Beklagten als Rechtsmittelgegner (vgl. § 119 Satz 2 ZPO),
wohl aber hinsichtlich der beabsichtigten Anschlußrevision zu
prüfen wären. Auch für eine solche Beratung im Vorfeld des
Prozeßkostenhilfeverfahrens muß die staatliche Betreuung der
armen Partei gewährleistet sein. Denn der zweitinstanzliche
Prozeßbevollmächtigte würde - wie jeder neu eingeschaltete

- 6 -

Rechtsanwalt - für diese Tätigkeit eine besondere Auskunfts-
gebühr nach § 20 BRA- GebO erhalten (Riedel/Sußbauer/Fraunholz,
BRAGebO, 3. Aufl. § 20 Rdn. 16).

Der Antrag auf Bewilligung der Prozeßkostenhilfe als sol-
cher kann sodann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt
werden (§ 117 Abs. 1 ZPO); Anwaltszwang besteht nach § 78
Abs. 2 ZPO auch in der Revisionsinstanz nicht. Dabei ist der
Urkundsbeamte verpflichtet, den Antragsteller über die Antrags-
erfordernisse des § 117 ZPO sachgemäß zu beraten (Baumbach/
Lauterbach/Hartmann, ZPO, 42. Aufl. § 117 Anm. 2 B).

Der armen Partei, der für das Bewilligungsverfahren Pro-
zeßkostenhilfe nicht gewährt wird, entstehen auch keine Kosten-
nachteile. Das Prozeßkostenhilfeprüfungsverfahren ist gerichts-
gebührenfrei (Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 42. Aufl.
§ 118 Anm. 5 A; Thomas/Putzo, ZPO, 12. Aufl. § 118
Anm. 3 a). Dem Gegner werden außergerichtliche Kosten, die ihm
im Bewilligungsverfahren entstehen, nicht erstattet (§ 118
Abs. 1 Satz 4 ZPO). Auch für etwaige Auslagen nach § 118
Abs. 1 Satz 5 ZPO muß der Antragsteller keinen Vorschuß lei-
sten. Sie werden zunächst von der Staatskasse getragen und nach
Abschluß des Rechtsstreits der unterlegenen Partei als Gerichts-
kosten auferlegt (Baumbach/Lauterbach/Hartmann aaO; Thomas/Putzo
aaO).

- 7 -

3. Da die Rechtsberatung der armen Partei durch das Be-
ratungshilfegesetz gewährleistet ist und der Urkundsbeamte der
Geschäftsstelle für einen vollständigen und sachgemäßen Antrag
der Partei sorgen muß, ist die Chancengleichheit der armen Par-
tei im Vergleich zu finanziell gut gestellten Rechtssuchenden
gewahrt. Die restriktive Auslegung des Begriffes "Prozeßführung"
in § 114 ZPO verstößt daher nicht gegen den Gleichheitssatz des
Art. 3 Abs. 1 GG (so auch OLG Bremen JurBüro 1979, 447). Auch
ist dem Erfordernis des Art. 103 Abs. 1 GG (rechtliches Gehör)
Rechnung getragen (so auch OLG Nürnberg NJW 1982, 288). Denn das
Grundgesetz verlangt nicht, daß das rechtliche Gehör gerade
durch Vermittlung eines Anwalts wahrgenommen wird (BVerfG NJW
1971, 2302).

4. Das Oberlandesgericht Hamm hat in seinem Beschluß vom
10. November 1981 dem Antragsgegner für das Prozeßkostenhilfe-
verfahren Prozeßkostenhilfe mit der Begründung gewährt, die Neu-
fassung des § 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO nötige unter den Voraus-
setzungen des § 114 ZPO zur Bewilligung der Prozeßkostenhilfe
und Beiordnung eines Rechtsanwalts, weil danach das Interesse
einer Partei an anwaltlicher Vertretung immer dann beachtlich
sei, wenn auch die andere Partei durch einen Rechtsanwalt ver-
treten sei (NJW 1982, 287, 288). Dem kann nicht gefolgt werden.
Denn § 121 ZPO regelt lediglich, ob der Partei, der Prozeß-
kostenhilfe bewilligt worden ist, auch ein Rechtsanwalt beige-
ordnet werden muß. Dieser Vorschrift kann umgekehrt aber nicht

- 8 -

entnommen werden, daß dem - armen - Gegner einer anwaltlich ver-
tretenen Partei immer Prozeßkostenhilfe bewilligt und ein Anwalt
beigeordnet werden muß.

5. Da die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozeß-
kostenhilfe nach alledem nicht vorliegen, kann offen bleiben, ob
der gestellte Antrag nicht schon deshalb zurückgewiesen werden
müßte, weil dem Beklagten im Falle der Bewilligung der nach-
gesuchten Prozeßkostenhilfe seine zweitinstanzlichen Prozeßbe-
vollmächtigten nach § 121 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht beigeordnet
werden könnten. Hierdurch entstünden nämlich zusätzliche Kosten.
Das Prozeßkostenhilfeverfahren zählt zum Gebührenrechtszug des
Verfahrens, auf das es sich bezieht (Riedel/Sußbauer/Keller,
BRAGebO, 3. Aufl. § 51 Rdn. 13), hier also zur Revisionsin-
stanz. Das bedeutet, daß die im Prozeßkostenhilfeverfahren ver-
dienten Gebühren auf die im Rechtsstreit entstehenden ange-
rechnet werden (Riedel/Sußbauer/Keller aaO). Die Vertretung der
Partei im Prozeßkostenhilfeverfahren durch einen beim Revisions-
gericht nicht zugelassenen Rechtsanwalt würde daher die Anrech-
nung verhindern. Dieses Ergebnis soll durch § 121 Abs. 2 Satz 2
ZPO ausgeschlossen werden. Ohne die Beiordnung seiner zweitin-
stanzlichen Prozeßbevollmächtigten hätte die Bewilligung von
Prozeßkostenhilfe für das Prozeßkostenhilfeverfahren für den
Beklagten indessen kein erkennbares Interesse.

- 9 -

6. Ob über die Frage der Gewährung von Prozeßkostenhilfe
für das Bewilligungsverfahren anders zu entscheiden wäre, wenn
im Rahmen des Prozeßkostenhilfeverfahrens ein Vergleich ge-
schlossen werden soll (vgl. hierzu OLG Schleswig SchlHA 1978,
75, 76; Pentz NJW 1982, 1269, 1270), kann hier dahinstehen, da
ein solcher Fall nicht vorliegt.

B. T. Dr. Z.
Dr. P. G.

Nachschlagewerke: ja
BGHZ: ja

ZPO §§ 114, 121 Abs. 2 Satz 2

Für das Prozeßkostenhilfeverfahren kann Prozeßkostenhilfe nicht
gewährt werden.

BGH, Beschl. v. 30. Mai 1984 - VIII ZR 298/83 - OLG Hamburg
LG Hamburg

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BVerwG, 7 B 46.88 vom 31.03.1988, Bundesverwaltungsgericht
BVerwGE: nein

Fachpresse: ja



Sachgebiet:

Prüfungsrecht

Erste Juristische Staatsprüfung

Verwaltungsprozeßrecht



Stichworte:

Prüfungsrechtliches Gebot der Sach-

lichkeit; Voraussetzungen einer

Divergenz



Rechtsquelle:



VwGO S 132 Abs. 2 Nr. 2

Buchh. 310 § 132 VwGO Nr. 260 (LT1)

KMK HScHR 1988, 981-982 (LT1)



Beschluß vom 31. März 1988 - BVerwG 7 B 46.88



Leitsatz:



Die unrichtige Anwendung eines vom Bundes-

verwaltungsgericht entwickelten und vom

Berufungsgericht nicht in Frage gestell-

ten Rechtsgrundsatzes auf den zu entschei-

denden Einzelfall begründet keine Abwei-

chung im Sinne des S 132 Abs. 2 Nr. 2

VwGO (ständige Rechtsprechung).



Beschluß des 7. Senats vom 31. März 1988 - BVerwG 7 B 46.88



I. VS Hannover vom 04 02.1987 - Az.: 6 VG A 17/85 -

II. OVG Lüneburg vom 15.12.1987 - Az.: 10 OVG A 5/87 -



BUNDESVERWALTUNGSGERICHT



BVerwG 7 B 46.88

10 OVG A 5/87



BESCHLUSS



In der Verwaltungsstreitsache



hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts



am 31. März 1988 .



durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts

Prof. Dr. S. und die Richter am Bundes-

verwaltungsgericht S. und Dr. G.



beschlossen:



Die Beschwerde der Klägerin gegen die

Nichtzulassung der Revision in dem Urteil

des Oberverwaltungsgerichts für die Länder

Niedersachsen und Schleswig-Holstein vom

15. Dezember 1987 wird zurückgewiesen.



Die



- 2 -



Die Klägerin trägt die Kosten des Be-

schwerdeverfahrens.



Der Wert des Streitgegenstandes wird

für das Beschwerdeverfahren auf

6 000 DM festgesetzt.



Die Klägerin, die die Erste Juristische Staatsprüfung mit

der Abschlußnote "vollbefriedigend (11,20 Punkte)" bestanden

hat, möchte erreichen, daß die Note auf "gut" verbessert

wird. Sie stützt ihr Begehren darauf, daß die Beurteilung

ihrer Hausarbeit als "gut (13 Punkte)" Fehler enthalte.



Nach ihrer Auffassung wäre die Hausarbeit ohne die Fehler

mindestens als "gut (14 Punkte)" beurteilt und damit die

erstrebte Gesamtnote erzielt worden. Widerspruch, Klage und

Berufung waren ohne Erfolg.



Auch die Beschwerde, mit der die Klägerin sich gegen die

Nichtzulassung der Revision wendet, kann keinen Erfolg

haben. Die allein geltend gemachte Abweichung des Berufungs-

urteils von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom

20. September 1984 (BVerwGE 70, 143 = DVBl. 1985, 61 =

DÖV 1985, 488 = NVwZ 1985, 187) liegt nicht vor.



In dem bezeichneten Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht

ausgesprochen, daß im Prüfungsrecht das Gebot der Sachlich-

keit gilt, und dargelegt, welche Anforderungen dieses Gebot

an den Prüfer stellt. Eine Abweichung im Sinne des S 132

Abs. 2 Nr. 2 VwGO läge nur dann vor, wenn das Berufungs-

urteil dem widersprochen, also das Gebot der Sachlichkeit

nicht



- 3 -



nicht als Voraussetzung eines fehlerfreien Prüfungsverfahrens

anerkannt oder hinsichtlich der Anforderungen andere Maßstäbe

gesetzt hätte. Das aber ist nicht der Fall.



Das Berufungsgericht geht ersichtlich davon aus, daß das Gebot

der Sachlichkeit zu den allgemeingültigen Bewertungsgrundsätzen

gehört, denn es behandelt ausdrücklich die Frage, ob die Korrek-

toren der Hausarbeit gegen dieses Gebot verstoßen haben (UA S. 9).

Daß es hierbei andere Maßstäbe angelegt hat als das Bundes-

verwaltungsgericht‚ ergibt sich aus dem Urteil nicht. Die Be-

schwerde verweist insoweit (unter den Buchstaben a) bis c))

auf Fehler, die nach ihrer Auffassung den Beurteilern unter-

laufen sind. Dabei übersieht sie, daß sich aus einer fehler-

haften Beurteilung allein noch nicht der Schluß auf einen Verstoß

gegen das Gebot der Sachlichkeit ziehen läßt. Davon abgesehen

läuft die Argumentation der Beschwerde darauf hinaus, das Be-

rufungsgericht habe die Fehler zu Unrecht nicht als prüfungs-

rechtlich relevant gewertet und damit das Recht - in seiner

Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht - unrichtig ange-

wendet. Die unrichtige Anwendung eines vom Bundesverwaltungs-

gericht entwickelten und vom Berufungsgericht nicht in Frage

gestellten Rechtsgrundsatzes auf den zu entscheidenden Einzel-

fall wäre aber noch keine Abweichung im Sinne des § 132 Abs. 2

Nr. 2 VwGO. Die Beschwerde verkennt, daß der Tatbestand dieser

Bestimmung nur erfüllt ist, wenn das Berufungsgericht in einer

Rechtsfrage - losgelöst von der Würdigung des Einzelfalles -

eine dem Bundesverwaltungsgericht widersprechende Rechtsauf-

fassung vertritt. Das ist hier nicht der Fall.



Die Kostenentscheidung beruht auf S 154 Abs. 2 VwGO, die Streit-

wertfestsetzung auf S l4 Abs. 1 Satz l in Verbindung mit S l3

Abs. 1 Satz 2 GKG. '



Prof. Dr. S. S. Dr. G.

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VG Wiesbaden, 6 K 1374/11.WI vom 15.03.2013, Verwaltungsgericht Wiesbaden
6 K 1374/11.WI



Verkündet am: 15.03.2013



(K...)

Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle



VERWALTUNGSGERICHT WIESBADEN





URTEIL

IM NAMEN DES VOLKES



In dem Verwaltungsstreitverfahren





- Kläger —

bevollmächtigt:

Rechtsanwälte



gegen



Bundesrepublik Deutschland,

vertreten durch das



- Beklagte -



wegen



Verfahren nach dem Informationsfreiheitsgesetz



- 2 -



hat die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Wiesbaden durch

Vorsitzenden Richter am VG Schild als Berichterstatter



aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 30.11.2012 am 15.03.2013 für Recht er-

kannt:



Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren einge-

stellt. lm Übrigen wird die Klage abgewiesen.



Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.



Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf

die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe

der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Voll-

streckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.



Tatbestand



Der Kläger begehrt Einsicht in die Haushaltsbücher der Einkommens- und Verbraucher-

stichprobe des Jahres 2008 (EVS 2008).



Der Kläger wandte sich erstmals mit Mail vom 29.09.2010 an die Beklagte. Dabei führte

er aus, dass er den Regelsatz für Alleinstehende für zu niedrig halte. Aufgrund seiner

persönlichen Erfahrung könne er sich nicht vorstellen, dass der Regelsatz korrekt be-

rechnet worden sei. Er benötige deshalb alle Berechnungsfaktoren und bitte um ent-

sprechende Zusendung. Er halte es für zwingend notwendig, die Berechnung des Sta-

tistischenBundesamtes zu prüfen; dies, um auszuschließen, dass die Berechnungen



- 3 -



manipuliert oder gemäß dem politischen Willen der Koalition interpretiert worden seien.

Er bitte, ihm alle für eine Nachvollziehung der Berechnung notwendigen Einzeldatensät-

ze, am Besten eine Ablichtung der abgegebenen Datenaufschreibung zukommen zu

lassen.



Nachdem ihm verschiedene Veröffentlichungen zugänglich gemacht worden waren, er-

klärte der Kläger mit Mail vom 11.01.2011, dass er alle 60.000 Haushaltsbücher zwecks

Auswertung, jedoch ohne Namensangabe und konkreten Wohnsitz benötige. Daraufhin

wurde ihm mitgeteilt, dass anonymisierte Mikrodaten (Einzeldaten aus den Haushalts-

büchern) Wissenschaftlern auf Antrag bereitgestellt würden.



Nachdem der Beklagte dem Kläger Daten der Einkommens- und Verbraucherstichprobe

(EVS) 2008 zum Haushaltsbudget u.a. den privaten Verbrauch nach Einzelcodes in der

tiefsten Gliederung zugesandt hatte, beantragte der Kläger mit Mail vom 24.08.2011

erneut, ihm die 60.000 Datensätze, die Basis für die Hartz IV-Regelsatzberechnung wa-

ren, als Datenfiles zukommen zu lassen. Dabei berief er sich auf das Informationsfrei-

heitsgesetz.



Daraufhin wurde dem Kläger mit Mail vom 29.08.2011 mitgeteilt, dass das Statistische

Bundesamt die Informationsversorgung der Bevölkerung gewährleiste, indem es sehr

detaillierte Ergebnisse der EVS 2008 kostenlos zur Verfügung stelle. Die Ergebnisse

basierten auf den Daten von 55.100 Haushalten, die Haushaltsbücher der EVS 2008

ausgefüllt hätten. Mikrodaten würden für Wissenschaftler bereitgestellt. Im Sinne größt-

möglicher Transparenz und Nachvollziehbarkeit habe das Bundesministerium für Arbeit

und Soziales alle statistischen Berechnungen offen gelegt, die bei der Neuberechnung

der Regelsätze verwendet worden seien. Diese Berechnungen seien Sonderauswertun-

gen vom Statistischen Bundesamt, welche im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit

und Soziales durchgeführt worden.



Daraufhin begehrte der Kläger mit Mail vom 29.08.2011 eine formelle Bescheidung.



- 4 -



Mit Schreiben der Beklagten vom 01.09.2011 wurde dem Kläger mitgeteilt, dass die ge-

sammelten, personenbezogenen Daten für Zwecke der amtlichen Statistik erhoben und

deshalb dem Statistikgeheimnis nach § 16 Bundesstatistikgesetz (BStatG) unterliegen

würden. Nach § 16 Abs. 6 BStatG dürften Daten, die dem Statistikgeheimnis unterfallen,

auch in anonymisierter Form nur für die Durchführung wissenschaftlicher Vorhaben an

Hochschulen oder sonstigen Einrichtungen unabhängiger Forschung übermittelt wer-

den, wenn die Einzelangaben nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand an Zeit, Kos-

ten, Arbeitskraft zugeordnet werden könnten und die Empfänger Amtsträger oder für

den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete nach § 16 Abs. 7 BStatG seien. Der

Kläger habe nicht glaubhaft gemacht, dass er zu dem begünstigten Personenkreis zäh-

le.



Das Informationsfreiheitsgesetz (lFG) gebe jedermann nach Maßgabe der Gesetze ge-

genüber den Behörden des Bundes einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informati-

onen. Dieser Zugang sei jedoch nicht schrankenlos, sondern an Voraussetzungen ge-

knüpft. So sei z.B. auch der Zugang zu personenbezogenen Daten eingeschränkt. Dies

sei der Fall, wenn ein besonderes Amtsgeheimnis der Informationsgewährung entgegen

stehe. Dies sei mit § 16 BStatG gegeben. Man gebe ihm abschließend Gelegenheit zur

Stellungnahme.



Daraufhin beantragte der Kläger mit Schriftsatz vom 04.09.2011 ihm Kopien der ca.

60.000 Haushaltsbücher in anonymisierter Form, in Papierform oder aber hilfsweise als

Datenfiles, zukommen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht habe ihm mit Schrei-

ben vom 17.02.2011 mitgeteilt, dass die Rohdaten beim Beklagten zu beziehen seien.

Er wiederhole ausdrücklich, dass er keinerlei personenbezogene Daten (Namen und

Anschriften der Haushaltsbuchführer) erhalten wolle, sondern lediglich alle Daten, die es

ihm ermöglichten, die Richtigkeit der EVS-Erhebung kontrollieren zu lassen, da er diese

anzweifle.



Mit Bescheid des Beklagten vom 15.09.2011, zur Post gegeben am 16.09.2011, wurde

der Antrag abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass auf-



- 5 -



grund der Beachtung und Wahrung des Statistikgeheimnisses nach § 16 Abs. 6 BStatG

durch das Statistische Bundesamt keine Einzeldaten herausgegeben werden könnten.

Das Statistikgeheimnis sei ein besonderes Amtsgeheimnis.



Hiergegen legte der Kläger mit Fax vom 21.09.2011 Widerspruch ein. Im Weiteren frage

der Kläger an, ob die Datenfiles EVS 2008 Wissenschaftlern, Gutachtern sowie übrigen

Beteiligten der Anhörung im Bundestagsausschuss Arbeit und Soziales zur Verfügung

gestellt worden seien.



Nach mehreren Erinnerungen des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid des Be-

klagten vom 09.11.2011 der Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im

Wesentlichen ausgeführt, dass der Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen

nach § 1 IFG nicht schrankenlos sei. Gemäß § 3 IFG bestehe ein Anspruch auf Informa-

tionszugang nicht, sondern sei z.B. ausgeschlossen bei militärischen oder sicherheitsre-

levanten Bereichen und auch dann, wenn die Informationen einem Berufs- oder beson-

derem Amtsgeheimnis unterliegen. Das Statistikgeheimnis nach § 16 Abs. 1 BStatG

stelle eine solches Amtsgeheimnis dar. Unter seinem Schutz stünden Einzelangaben

über persönliche oder sachliche Verhältnisse, die für die Bundesstatistik gemacht wor-

den seien. Schutzwürdig und damit geheim zu halten seien danach Einzeldaten, die

vom Auskunftspflichtigen oder Befragten in Erfüllung seiner statistischen Auskunfts-

pflicht oder bei einer Erhebung ohne Auskunftspflicht freiwillig abgegeben würden. Die

in den Haushaltsbüchern von den teilnehmenden Haushalten gemachten Angaben un-

terlägen damit dem Statistikgeheimnis und dürften nicht herausgegeben werden. Selbst

wenn man die begehrten Haushaltsbücher derart anonymisiere, dass sie nur mit einem

unverhältnismäßig großem Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeit zugeordnet werden

könnten, dürften diese nicht zur Verfügung gestellt werden, da sie nicht die Voraus-

setzungen des § 16 Abs. 1 BStatG erfüllten.



Der Widerspruchsbescheid wurde am 15.11.2011 zugestellt.



- 6 -



Mit Schriftsatz vom 11.12.2011, eingegangen am selben Tage bei dem VerwaItungsge-

richt Wiesbaden, hat der Kläger Klage erhoben mit dem Ziel, ihm Kopien der rund

60.000 Haushaltsbücher, die Gegenstand der EVS 2008 waren, in anonymisierter Form

zu überlassen.



Im Laufe des weiteren Verfahrens beantragte der Kläger schließlich in der mündlichen

Verhandlung am 30.11.2012



die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die im Rahmen der EVS 2008 erhobenen

Daten zur Verfügung zu stellen, soweit sie folgende Teile der Haushaltsbücher

betreffen:



— alle Daten eines Einpersonenhaushalts mit Ausnahme der Datenfelder Land,

Haushaltsnummer, Datenfelder A bis H; stattdessen das von der Beklagten

ermittelte Nettoeinkommen pro Einpersonenhaushalt;



— die Ausgaben I bis W

mit der Maßgabe, dass der Beklagten zugestanden wird, für jedes einzelne

Datenfeld die Extremwerte im Volumen der jeweils kleinsten bzw. größten

zehn Prozent der Werte, mindestens jedoch fünf der jeweiligen Spitzenwerte

(im oberen bzw. unteren Bereich) unkenntlich zu machen und so darzustellen,

als ob keine Angaben eingefügt worden sind;



— der Beklagten nachgelassen bleibt, einzelne Datensätze vollständig auszulas-

sen, wenn die Daten so signifikant sind, dass sie mit geringem Aufwand an

Zeit, Kosten und Arbeitsaufwand einer Person zugeordnet werden können.



Der Kläger stellt klar, dass keine Namen, Geburtsdaten oder sonstigen personenbezo-

genen/beziehbaren Daten erwünscht werden. Der Beklagten werde dabei freigestellt, in

welcher Form die Daten zur Verfügung gestellt werden.



Der Kläger erklärte ferner klarstellend, dass mit den obersten und untersten zehn Pro-

zent der jeweils oberste und unterste Wert für jedes einzelne Merkmal gemeint seien.



- 7 -



Im Übrigen nahm er die Klage zurück.



Das beklagte Statistische Bundesamt beantragt,

die Klage abzuweisen.



Es führt letztendlich zur Begründung aus, dass, nach dem nunmehrigen Antrag des Klä-

gers die Vorgaben nach dem Klageantrag zwar technisch möglich umgesetzt werden

könnten. Insoweit könnten die Datensätze der Einzelhaushalte (15.465 Haushalte) her-

ausgefiltert werden. Aus diesen Datensätzen würden dann alle Datenfelder gelöscht mit

Ausnahme der Datenfelder, die Angaben zu den Haushaltsbuchabschnitten I bis W so-

wie den Wert zum jeweiligen Haushaltsnettoeinkommen enthalten. Ebenfalls technisch

umsetzbar sei die Vorgabe, dass jedes einzelne Datenfeld die Extremwerte in Volumen,

die jeweils kleinsten bzw. größten 10 % der Werte, mindestens jedoch 5 der jeweiligen

Spitzenwerte unkenntlich zu machen, indem sie so dargestellt werden, als ob der Haus-

halt keine Angaben gemacht hätte.



Jedoch gebe das Bundesstatistikgesetz vor, dass Einzelangaben nur an Hochschulen

oder sonstige Einrichtungen mit der Aufgabe unabhängiger wissenschaftlicher For-

schung übermittelt werden dürften, sofern sie nur mit unverhältnismäßig großem Auf-

wand an Zeit, Kosten und Arbeitskraft zugeordnet werden könnten. Der Kläger zähle als

Privatperson nicht zu diesem Adressatenkreis. Nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 BStatG dürften

Einzelangaben Privatpersonen nur zugänglich gemacht werden, wenn sie den Befragten

oder Betroffenen nicht mehr zuzuordnen seien.



Die Kriterien für einen absolut anonymisierten Datensatz könnten vorliegend nicht erfüllt

werden. Bei den gewünschten Daten handele es sich um keine Stichprobe. Auch sei die

Erhebung noch aktuell. Hinzu komme, dass der Kläger das ermittelte Nettoeinkommen

pro Ein-Personen-Haushalt „spitz“ wünsche. Die Angaben I bis W müssten mindestens

5-fach besetzt sein.



- 8 -



Eine absolute Anonymisierung der Daten führe dazu, dass eine Deanonymisierung nur

mit erheblich höherem Aufwand durchführbar wäre, wenn nicht die Originaldaten, son-

dern in geeigneter Weise durch Berechnungsverfahren veränderte Daten herausgege-

ben würden. Dies würde aber bedeuten, dass ein neuer Datensatz berechnet werden

müsste. Dies entspreche dann nicht mehr den Vorgaben des lFG. Hiernach müsse die

Behörde nur vorhandene Daten bzw. Aufzeichnungen herausgeben. Jedoch müssen

keine neuen Aufzeichnungen hergestellt werden.



Ohne Neuberechnung wäre trotz der erfolgten Löschung etc. eine Deanonymisierung

der Daten möglich. Dabei müsse insbesondere auch die Kombination von Ausgabeposi-

tionen betrachtet werden, die derart exklusiv seien, dass sie einem bestimmten Haus-

halt zugeordnet werden könnten. Für einige wenige Positionen seien die exakten Aus-

gaben zu erkennen, weil die Wahrscheinlichkeit, dass mehr als ein Haushalt eine auf

den Cent-Betrag identische Ausgabenkombination aufweise, ausgesprochen gering sei.

An den Kläger dürften aber nur absolut anonymisierte Datensätze zur Verfügung gestellt

werden.



Außerhalb des IFG gebe es die Möglichkeit, für den Kläger einen absolut anonymisier-

ten Datensatz herzustellen. Die Herstellung und Übermittlung eines solchen Datensat-

zes erfolge dann aber nur gegen eine entsprechende Kostenübernahme (in Höhe von

geschätzt mehreren Tausend Euro).



Bereits mit Kammerbeschluss vom 22.05.2012 wurde dem Kläger nur insoweit Prozess-

kostenhilfe gewährt, als ihm die im Rahmen der EVS 2008 erhobenen Daten von rund

60.000 Haushaltsbüchern als Datenfiles in anonymisierter Form zur Verfügung zu stel-

len seien. Im Übrigen wurde der Antrag abgelehnt.



Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Klägers wurde vom HessVGH mit Beschluss

vom 16.08.2012 zurückgewiesen (Az. 6 D 1218/12).



- 9 -



Eine dagegen eingelegte Anhörungsrüge wurde mit Beschluss des HessVGH vom

10.09.2012 zurückgewiesen (Az. 6 D 1757/12.R).



Bereits mit Schriftsatz vom 14.12.2011 (Bl. 31 GA) hat sich der Kläger und mit Schrift-

satz vom 28.12.2011 hat sich das beklagte Statistische Bundesamt (Bl. 34 GA) mit einer

Entscheidung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt.



In der nach mehreren Terminierungsversuchen durchgeführten mündlichen Verhand-

lung am 30.11.2012 wurde der Sach- und Streitstand sehr ausgiebig erörtert. Insoweit

wird vollinhaltlich auf das Protokoll Bezug genommen.



Aufgrund des insoweit in der mündlichen Verhandlung gestellten, modifizierten und ein-

geschränkten Klageantrages erhielt sowohl das Statistische Bundesamt als auch an-

schließend der Kläger hinreichend Gelegenheit zur Stellungnahme. Auf die abgegebe-

nen Stellungnahmen wird vollinhaltlich Bezug genommen.



Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, die Prozesskos-

tenhilfe-Akte, die Behördenakte sowie die Gerichtsakte 6 L 928/12.WI Bezug genom-

men, welche sämtlich zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung

gemacht worden sind.



Entscheidungsgründe



Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung die Klage zurückgenommen hat, war

das Verfahren einzustellen.



Der von dem Kläger nunmehr gestellte konkretisierende Antrag ist zulässig und sach-

dienlich. Er ist aber nicht begründet. Zwar hat jeder nach Maßgabe des IFG gegenüber

den Behörden des Bundes einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen, § 1

Abs. 1 Satz 1 IFG. Jedoch besteht ein solcher Anspruch auf Informationszugang nicht,



- 10 -



wenn die Informationen einer durch Rechtsvorschrift oder allgemeine Verwaltungsvor-

schrift zum materiellen oder organisatorischen Schutz von Verschlusssachen geregelten

Geheimhaltungs- oder Vertraulichkeitsverpflichtung oder einem Berufs- oder besonde-

ren Amtsgeheimnis unterliegt, § 3 Nr. 4 IFG. Bei der Regelung des § 3 IFG handelt es

sich um einen absoluten Ausschlusstatbestand. Unter besondere Amtsgeheimnisse fal-

len neben dem Sozialgeheimnis (§ 35 SGB l) und dem Steuergeheimnis (§ 30 AO) auch

das Statistikgeheimnis gemäß § 16 BStatG.



Gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 BStatG sind „Einzelangaben über persönliche und sachliche

Verhältnisse, die für eine Bundesstatistik gemacht worden sind und von den Amtsträ-

gern und für den Öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten, die mit der Durchführung

von Bundesstatistiken betraut sind, geheimzuhalten, soweit durch besondere Rechts-

vorschriften nichts anderes bestimmt ist“. Bei der Einkommens- und Verbraucherstich-

probe des Jahres 2008 (EVS 2008) handelt es sich um eine Bundesstatistik. Hierbei

wurden von den jeweiligen Betroffenen Einzelangaben in die Haushaltsbücher eingetra-

gen. Damit unterliegen diese der Geheimhaltung gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 BStatG.



Eine besondere Rechtsvorschrift, die etwas anderes bestimmt und damit die Geheim-

haltungspflicht des § 16 Abs. 1 S. 1 BStatG durchbricht, ist nicht gegeben.



Das Statistikgeheimnis findet jedoch gemäß § 16 Abs. 1 S. 2 BStatG keine Anwendung,

wenn



a) der Befragte schriftlich in die Übermittlung oder Veröffentlichung von Einzelangaben

eingewilligt hat,



b) die Einzelangaben aus allgemein zugänglichen Quellen stammen,



c) die Einzelangaben von dem Statistischen Bundesamt oder den statistischen Ämtern

der Länder mit den Einzelangaben anderer Befragter zusammengefasst und in statis-

tischen Ergebnissen dargestellt sind (sog. aggregierte Daten)

oder aber, wenn



d) die Einzelangaben dem Befragten oder Betroffenen nicht zuzuordnen sind (§ 16

Abs. 1. S. 2 Nr. 4 BstatG).



- 11 -



Letzteres ist vorliegend nicht der Fall. Denn der Kläger begehrt mit seinem Klageantrag

alle Daten eines Ein-Personen-Haushaltes mit Ausnahme der Datenfelder: Land, Haus-

nummer, Datenfelder A — H. Insoweit begehrt er das jeweils ermittelte Nettoeinkommen

pro Ein-Personen-Haushalt und ferner die Angaben über die Ausgaben I — W (Kosten

für Wohnen und Energie, Verkehr, Post und Telekommunikation, Gesundheit und

Körperpflege, Bekleidung und Schuhe, Innenausstattung, Haushaltsgeräte und

—gegenstände, laufende Haushaltsführung, Freizeit, Unterhaltung und Kultur, Gaststät-

ten, Kantinen, Hotels, Pensionen, Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren, Bildungswe-

sen und Kinderbetreuung, sonstige Waren und Dienstleistungen, Versicherungsbeträge,

Bildung von Geldvermögen, Restzahlungen, Ratenzahlungen, Soll- und Überziehungs-

zinsen, Neuaufnahme von Krediten). Bei diesen Daten handelt es sich um Einzelanga-

ben, die dem jeweiligen Betroffenen, der das Haushaltsbuch ausgefüllt hat, im Einzel-

nen zugeordnet werden können.



Zwar hat der Kläger dargelegt, dass er die Datensätze vollständig ausgelassen habe

wolle, die so signifikant sind, dass mit geringem Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeits-

aufwand diese einer Person zugeordnet werden können, jedoch bleiben auch die übri-

gen Einzelangaben grundsätzlich dem jeweiligen Betroffenen zuordenbar. Es handelt

sich in diesem Fall, so wie der Kläger die Daten nunmehr von der Beklagten begehrt, -

wenn überhaupt - um lediglich anonymisierte Daten. Denn mit einem entsprechenden

Zusatzwissen kann das auf Cent genau angegebene Einkommen, aber auch eine Aus-

gabe, einer Person zugerechnet werden.



Nur soweit die Daten so zusammengefasst und so gehäuft sind, dass es sich um statis-

tische und damit aggregierte Daten handelt, sind Einzelangaben einer natürlichen Per-

son sicher nicht mehr zuordnenbar. Dabei ist zu beachten, dass § 3 Abs. 1 BDSG be-

stimmt, dass personenbezogene Daten Einzelangaben über persönliche oder sachliche

Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person sind. Soweit die

Daten nicht statistisch zusammengefasst sind, wofür es mindestens der Daten von fünf

Betroffenen zur Aggregierung bedarf, sind die Daten allenfalls als anonymisierte Daten



- 12 -



nur mit einem unverhältnismäßig großem Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeitskraft ei-

ner bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person zuordnenbar. Dabei ist anony-

misieren definiert als das Verändern personenbezogener Daten derart, dass die Einzel-

angaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht oder nur mit einem unver-

hältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeitskraft einer bestimmten oder

bestimmbaren natürlichen Person zugeordnet werden können. Es handelt sich hierbei

jedoch weiterhin um personenbezogene Daten, solange eine Wiederzusammenführung

der zur Identifikation geeigneten Daten mit anderen anonymisierten Daten möglich ist.

Soweit eine Reidentifizierung nicht völlig ausgeschlossen werden kann, ist daher immer

von einem personenbezogenen Datum auszugehen.



Zur Anoymisierung ist es zwar auch unerlässlich, dass die direkten oder indirekten Iden-

tifikationsmerkmale, wie Name, Anschrift, Personenkennzeichen usw. gelöscht werden.

Dieser Vorgang, wie ihn der Kläger begehrt, führt jedoch letztendlich nicht dazu, dass

eine Personenbeziehbarkeit auszuschließen ist. Die Einzelangaben können im Zweifel

einem Betroffenen zugeordnet werden, auch wenn dazu vielleicht ein Zusatzwissen er-

forderlich ist. Erst wenn aus den Daten „Einzelangaben“ ein neuer Datenbestand ge-

schaffen wird, der personenbeziehbare Daten nicht mehr enthält, handelt es sich um

Einzelangaben, die einer natürlichen Person nicht mehr zugeordnet werden können.



Dabei ist zunächst festzustellen, dass das von dem Betroffenen angegebene Nettoein-

kommen und seine Ausgaben nach dem Klagebegehen (mit Ausnahme der „Extremwer-

te“) unverändert übermittelt werden sollen und damit einem einzelnen Betroffenen

grundsätzlich zuordnenbar sind. Nur wenn — wie die Beklagte zu Recht ausführt — die

Originaldaten in geeigneter Weise durch Berechnungsverfahren verändert würden (Zu-

sammenfassung von mindestens fünf Einzelhaushalten und Ermittlung eines Durch-

schnittswertes), lägen aggregierte Daten und damit keine Einzelangaben vor.



Bei den von dem Kläger begehrten Daten handelt es sich jedoch, selbst wenn man die

Datenfelder Land, Haushaltsnummer Datenfelder A — H löscht und auch signifikante Ext-

remwerte ausblendet, um nichts anderes als um anonymisierte Daten, die — wenn auch



- 13 -



gegebenenfalls mit einem erheblichen Aufwand —- einem Betroffenen zugerechnet wer-

den können.



Bezüglich anonymisierter Daten enthält § 16 BStatG jedoch eine Sonderregelung. Hier

regelt § 16 Abs. 6 BStatG, dass Einzelangaben, die nur mit unverhältnismäßig großem

Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeitskraft zugeordnet werden können, zur Durchführung

wissenschaftlicher Vorhaben an Hochschulen oder sonstige Einrichtungen mit der Auf-

gabe unabhängiger wissenschaftlicher Forschung übermittelt werden dürfen, wenn die

Empfänger Amtsträger sind oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete o-

der verpflichted nach § 16 Abs. 7 BStatG sind, sie also auf das Statistikgeheimnis ver-

pflichtet wurden.



Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil (Urteil vom

15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83 u.a.) festgestellt: „Für den Schutz des Rechts auf infor-

mationelle Selbstbestimmung ist — und zwar auch schon für das Erhebungsverfahren —

die strikte Geheimhaltung der zu statistischen Zwecken erhobenen Einzelangaben un-

verzichtbar, solange ein Personenbezug noch besteht oder herstellbar ist (Statistikge-

heimnis); das Gleiche gilt für das Gebot einer möglichst frühzeitigen faktischen Anony-

misierung, verbunden mit Vorkehrungen gegen eine Deanonymisierung.“



Damit wurde festgestellt, dass dem Betroffenen im Rahmen des Statistikgeheimnisses

das Restrisiko einer Deanonymisierung im Verhältnis zu der Statistikbehörde zugemutet

werden kann. Diese Überlegung führt jedoch nicht dazu, dass anonymisierte Daten von

der Statistikbehörde an Außenstehende wie den Kläger weiter gegeben werden dürfen.



Insoweit hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden mit Urteil vom 10.09.2003, Az.:

5 E 2413/02, Rdnr. 28 — nach juris — ausgeführt:



„Angesichts der erheblichen Bedeutung der Statistik für die staatliche Politik, die

den Prinzipien und Richtlinien des Grundgesetzes verpflichtet ist, muss der Ein-

zelne grundsätzlich Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbe-



- 14 -



stimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen (so BVerwG, Urteil

vom 15.12.1983, Az.: 1BvR 209/83 u.a.). Dabei muss berücksichtigt werden,

dass es nicht Aufgabe der Bundesstatistik ist, personen- oder institutionsbezoge-

ne Nachweise zu liefern, sondern sich mit Massenerscheinungen auseinanderzu-

setzen. Die amtliche Statistik ist daher generell dem Grundsatz verpflichtet, wo-

nach die Aufbereitung von Individualdaten immer zu einer strukturierten, anony-

misierten Form führen muss. Der Grundsatz der Geheimhaltung der statistischen

Einzelangaben ist somit als konstitutiv für die Funktionsfähigkeit der amtlichen

Statistik anzusehen (vgl. dazu Dr. Poppenheger, Erläuterung zu § 16 BStatG, in:

Das deutsche Bundesrecht Vl/l Z1 O). “



Insoweit sind Daten, welche letztendlich noch einem Betroffenen zugeordnet werden

können, dem Statistikgeheimnis unterliegend, soweit diese Daten beim Statistischen

Bundesamt vorliegen.



Zur Einhaltung des Statistikgeheimnisses gemäß § 16 Abs. 1 BStatG bedarf es vorlie-

gend auch mehr als dem einfachen Weglassen von personenbeziehbaren Datenteilen.

Vielmehr müssten die Daten komplett neu berechnet und verändert werden, was bedeu-

tet, dass neue Datensätzen herzustellen sind. Dies wiederum ist von dem Anspruch auf

Informationsfreiheit nicht gedeckt. Denn der Anspruch bezieht sich nur auf vorhandene

Informationen. Denn gemäß § 2 Nr. 2 IFG sind amtliche Informationen jede amtlichen

Zwecken dienende Aufzeichnung unabhängig von der Art ihrer Speicherung, mithin be-

reits vorhandene Daten. Insoweit kennt das IFG auch keine Informationsbeschaffungs-

pflicht oder gar Herstellungspflicht von Informationen.



Insoweit kommt es auch nicht darauf an, ob durch entsprechende Überarbeitung der

Daten diese so verändert werden können, dass sie einer einzelnen Person nicht mehr

zugeordnet werden können. Dies auch, wenn der Kläger dazu anmerkt, dass wenn man

das gesamte Anonymisierungsraster über die Daten legen würde, wie der Beklagte sie

vorgeschlagen habe, dies keinen Erkenntniswert mehr für ihn habe.



- 15 -



Wie sich im Rahmen des Verfahrens ergeben hat, liegen bei der Beklagten auch keine

„Rohdaten“ vor, welche so beschaffen sind, dass möglicherweise darin enthaltene Ein-

zelangaben dem Betroffenen nicht zuzuordnen sind. Insoweit ist der nunmehrige ge-

richtliche Kenntnisstand ein weitergehender als zum Zeitpunkt der Gewährung der Pro-

zesskostenhilfe bei dem Beschluss vom 22.05.2012.



Nach alledem war die Klage abzuweisen.



Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 VwGO.



Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit bezüglich der Kosten folgt

aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.



Rechtsmittelbelehrung



Die Beteiligten können die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil beantragen. Der

Antrag auf Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des voll-

ständigen Urteils bei dem



Verwaltungsgericht Wiesbaden

Mainzer Straße 124

65189 Wiesbaden



zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Mona

ten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen

die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag

vorgelegt worden ist, bei dem



Hessischen Verwaltungsgerichtshof

Brüder-Grimm-Platz 1

34117 Kassel



einzureichen.



Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn



1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,



2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,



3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,



- 16 -



4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwal-

tungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes o-

der des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht o-

der



5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend

gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.



Vor dem Hessischen Venrwaltungsgerichtshof besteht gemäß § 67 Abs. 4 VwGO Vertre-

tungszwang. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren beim Hessi-

schen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird.



Bei den hessischen Verwaltungsgerichten und dem Hessischen VerwaItungsgerichtshof

können elektronische Dokumente nach Maßgabe der Verordnung der Landesregierung

über den elektronischen Rechtsverkehr bei hessischen Gerichten und Staatsanwalt-

schaften vom 26. Oktober 2007 (GVBI. l, S. 699) eingereicht werden. Auf die Notwen- '

digkeit der qualifizierten digitalen Signatur bei Dokumenten, die einem schriftlich zu un-

terzeichnenden Schriftstück gleichstehen, wird hingewiesen (§ 55a Abs. 1 Satz 3

VwGO)

Hinweis:

Soweit eine Ausfertigung dieses Urteils Randnummern enthält, sind diese von der Un-

terschrift des Richters nicht gedeckt und entspricht nicht dem Original.

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BSG, 5 RJ 26/94 vom 12.12.1995, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT



Im Namen des Volkes



Urteil



in dem Rechtsstreit



Az: 5 RJ 26/94



Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:



gegen



Landesversicherungsanstalt Hessen,

Frankfurt, Städelstraße 28,

Beklagte und Revisionsbeklagte.



Der 5. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 12.

Dezember 1995 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. B.,

die Richter B. und Dr. F. sowie die ehrenamtliche Richterin W.

und den ehrenamtlichen Richter van S. für Recht erkannt:



Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Hessischen Landessozial-gerichts

vom 15. Oktober 1993 aufgehoben.



Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht

zurückverwiesen.



- 2 -



Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung

vorbehalten.



- 3 -



Gründe:



I



Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des

60. Lebensjahres und einer Arbeitslosigkeit von mindestens 52 Wochen in den letzten

eineinhalb Jahren an den Kläger. Streitig ist insbesondere das maßgebliche

Geburtsdatum des Klägers.



Der Kläger ist türkischer Nationalität. Er arbeitete zwischen 1969 und 1988 versi-

cherungspflichtig in der Bundesrepublik Deutschland. Bei der Erteilung der Versi-

cherungsnummer in der gesetzlichen Rentenversicherung wurde als Geburtsdatum der

10. Januar 1935 zugrunde gelegt. Seinen unter der Vorlage einer Entscheidung des

Amtsgerichts E /Türkei, wonach sein Geburtsdatum auf den 10. Januar 1930 geändert

worden war, gestellten Antrag auf Gewährung von Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs 2

der Reichsversicherungsordnung (RVO) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom

16. Februar 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 1991 ab,

weil der Kläger das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet habe.



Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts vom

14. August 1992; Beschluß des Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1993). Zur

Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Nach den Urteilen des

Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. und 14. Oktober 1992 - 5 RJ 16/92 und 5 RJ 24/92 -

habe ein Versicherter grundsätzlich keinen Anspruch darauf, daß der Versicherungsträger

ein anderes Geburtsdatum als das bei der Bildung der Versicherungsnummer

berücksichtigte verwende. Denn richtiges Geburtsdatum sei stets und auf Dauer das von

dem Versicherungsträger bei Vergabe der Versicherungsnummer zugrunde gelegte

Geburtsdatum, wenn dieses den im damaligen Zeitpunkt vom Versicherten gemachten

Angaben entspreche und mit den von ihm damals vorgelegten ausländischen Urkunden

übereinstimme. Die spätere Änderung des Geburtsdatums sei daher nicht zu

berücksichtigen; somit entfalle die Notwendigkeit weiterer Beweiserhebung. Diese

Grundsätze seien auch auf den sogenannten "Leistungsfall" zu beziehen.



Der Kläger hat die vom BSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des

§ 1248 Abs 2 RVO und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Er ist der Ansicht: Der Versicherungsträger sei bei Geltendmachung von Lei-

stungsansprüchen verpflichtet, das richtige Geburtsdatum für den Leistungsfall

festzustellen. Das in der Versicherungsnummer enthaltene Geburtsdatum des Ver-

sicherten könne nicht präjudiziell für die Festlegung des Leistungsfalls sein; so habe das

BSG im Urteil vom 29. November 1985 (4a RJ 9/85 - SozR 2200 § 1248 Nr 44) auch

entschieden, daß der Versicherungsträger stets verpflichtet sei, im Leistungsfall das



- 4 -



richtige Geburtsdatum aufgrund freier Beweiswürdigung festzustellen. Im Rahmen dieser

Beweiswürdigung komme dem durch ausländische Gerichte festgesetzten Geburtsdatum

zumindest Indizfunktion ("prima facie"-Beweis) zu. Dieses geänderte Geburtsdatum

werde auch von deutschen Behörden, zB der Ausländerbehörde, dem Arbeitsamt und der

Krankenkasse, als verbindlich anerkannt.

Der Kläger beantragt,

den Beschluß des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1993, das

Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 14. August 1992 sowie den Bescheid der

Beklagten vom 16. Februar 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom

25. Januar 1991 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter

Zugrundelegung des Geburtsdatums vom 10. Januar 1930 ab 1. Februar 1990

Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs 2 RVO zu gewähren,



hilfsweise,



den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG

zurückzuverweisen.



Die Beklagte beantragt,



die Revision zurückzuweisen.



Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die Rügen des Klägers für un-

begründet. Den vom Kläger angebotenen Zeugenbeweis sieht sie für prinzipiell nicht

geeignet an, das Geburtsdatum eines Versicherten zu beweisen, weil es sich allenfalls um

einen Beweis vom "Hörensagen" handelte. Im weiteren führt sie aus: Zeugen, die

behaupteten, im gleichen Jahr wie der Kläger geboren zu sein, könnten diese Tatsache

nicht aus eigener Kenntnis bekunden. Das Geburtsdatum der Zeugen sei ebensowenig zu

beweisen, wie das des Klägers. Wenn Eintragungen in türkische Geburtsregister falsch

sein könnten, könnten dies auch die Eintragungen hinsichtlich der Zeugen sein.



II



Die kraft Zulassung durch das BSG statthafte Revision des Klägers ist iS der Aufhebung

des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und

Entscheidung an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen

für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Das Berufungsgericht wird zum Alter des

Klägers und zu den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des vorgezogenen

Altersruhegeldes wegen Arbeitslosigkeit noch weitere Ermittlungen anzustellen haben.

Nach § 1248 Abs 2 RVO erhält Altersruhegeld auf Antrag der Versicherte, der - neben

weiteren Voraussetzungen - das 60. Lebensjahr vollendet hat. Feststellungen zum Alter



- 5 -



des Klägers hat das Berufungsgericht noch nicht getroffen. Es hat das Geburtsdatum des

Klägers vielmehr der bisher für ihn vergebenen Versicherungsnummer entnommen und

ausgeführt, ein Versicherter habe grundsätzlich kein Recht darauf, daß der

Versicherungsträger ein anderes Geburtsdatum als das bei der Bildung der

Versicherungsnummer berücksichtigte verwende. Bei der Gewährung von Altersruhegeld

gemäß § 1248 Abs 2 RVO sind die anspruchsbegründenden Tatsachen im Leistungsfall

jedoch von Amts wegen unter Ausschöpfung aller erreichbaren und tauglichen

Beweismittel nach den auch sonst im sozialrechtlichen Verwaltungs- und

Gerichtsverfahren geltenden Regeln festzustellen (dazu unten noch näher). Insoweit stellt

§ 1248 Abs 2 RVO als Anspruchsgrundlage keine Ausnahme vom Modell

leistungsrechtfertigender Normen iS des § 2 Abs 1 Satz 2 des Ersten Buches

Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) dar, für die es selbstverständlich ist, daß

zur ordnungsgemäßen Leistungsabwicklung der den jeweiligen Tatbestandsmerkmalen

entsprechende Sachverhalt im Einzelfall nach §§ 20 ff des Zehnten Buches

Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) und §§ 117 ff SGG konkret und

vollständig zu ermitteln und festzuschreiben ist.



Eine Besonderheit gegenüber den allgemein gültigen Grundsätzen besteht hierbei auch

nicht in der Frage, ob und in welchem Umfang es eine Bindung an zuvor schon in

anderem rechtlichen Zusammenhang und auf andere rechtliche Verfahrensweise

vorgenommene Notierungen von Daten gibt. Greifen nicht derartige generelle

Gesichtspunkte prozeß- oder auch sozialversicherungsrechtlicher Art (zB Beweis-

sicherung nach § 76 SGG, Tatbestandswirkung, Vormerkung von Versicherungszeiten)

mit bestätigender - dh Zweifel erschwerender oder sogar ausschließender - Wirkung ein,

bleibt es für eine anspruchsbegründende Tatsache beim Grundsatz der aktuell auf den

Leistungsfall bezogenen vollen Ermittlung und Beweisführung. Der Tatsache des

Geburtsdatums eines Versicherten ist durch die Verwendung als Bestandteil der

Versicherungsnummer in dieser Hinsicht keine Sonderstellung eingeräumt.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts gibt es weder eine materiell-rechtliche

Bestimmung noch einen sonstigen Rechtssatz, wonach für den Versicherungsfall

maßgebendes Geburtsdatum stets und auf Dauer das vom Versicherungsträger bei der

Vergabe der Versicherungsnummer zugrunde gelegte Geburtsdatum ist, wenn dieses den

im damaligen Zeitpunkt von dem Versicherten gemachten Angaben entspricht und mit

den von ihm damals vorgelegten ausländischen Urkunden übereinstimmt. Die insoweit

vom LSG zitierten Urteile des erkennenden Senats vom 13. und 14. Oktober 1992 (5 RJ

16/92 und 24/92 -BSGE 71, 170 = SozR 3-5748 § 1 Nr 1 und SozVers 1993, 278)

betreffen allein den Anspruch eines Versicherten auf Berichtigung seiner bisherigen

Versicherungsnummer (Vergabe einer neuen Versicherungsnummer) bei geändertem

Geburtsdatum. In diesen Entscheidungen hat der Senat auf die Ordnungsfunktion der

Versicherungsnummer abgestellt, die lediglich dazu dient, die personenbezogene



- 6 -



Zuordnung der Daten für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe nach dem Sozi-

algesetzbuch (SGB) zu ermöglichen, § 147 des Sechsten Buches Sozialgesetz-

buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI). Hierzu hat er ausgeführt, mit der auf

die Ordnungsfunktion beschränkten Aufgabe der Versicherungsnummer sei nicht zu

vereinbaren, daß der Versicherungsträger nach ordnungsgemäßer Bildung der

Versicherungsnummer gezwungen werden solle, späterem Vorbringen des Versicherten

über die Unrichtigkeit der seinerzeit von ihm selbst gemachten Angaben nachzugehen,

um in aller Regel nur feststellen zu können, daß ein anderes Geburtsdatum allenfalls

möglich, das genaue Geburtsdatum aber ohnehin nicht feststellbar sei.



Damit hat der Senat zwar erkannt, daß sich ein "richtiges" Geburtsdatum für die Bildung

einer neuen Versicherungsnummer nach Tag, Monat und Jahr Jahrzehnte nach der

Geburt selbst im Inland in aller Regel nachträglich nicht bestimmen läßt, es sei denn

anhand der Eintragungen im Geburtenbuch oder anderer geburtsnah erstellter Urkunden.

Er hat aber auch ausgeführt, daß eine Entscheidung des Versicherungsträgers, nunmehr

bei Bildung der Versicherungsnummer ein anderes Geburtsdatum zu verwenden, nicht

vorgreiflich für eine spätere Entscheidung im Leistungsfall oder bindend für andere

Behörden sein kann, eine Divergenz zwischen dem zur Bildung der

Versicherungsnummer angenommenen Geburtsdatum und dem Geburtsdatum, das den

altersabhängigen Leistungsfall begründet, mithin grundsätzlich nicht auszuschließen ist.

Inwieweit der Versicherungsträger auch im Leistungsfall von dem bei Eintritt in die

Versicherung angegebenen Geburtsdatum ausgehen darf, hat der Senat ausdrücklich

offengelassen.



Wegen der unterschiedlichen Bedeutung des Geburtsdatums bei Bildung der Versi-

cherungsnummer (Ordnungsfunktion oder auch "Identifizierungsmerkmal", vgl Se-

natsurteil vom 12. April 1995 - 5 RJ 48/94) und im Leistungsfall (Anspruchsbegründung)

mußte der Senat deshalb bisher auch nicht entscheiden, ob er sich der Ansicht des

4. Senats im Urteil vom 29. November 1985 (4a RJ 9/85 - SozR 2200 § 1248 Nr 44)

anschließt, wonach der Versicherungsträger stets verpflichtet ist, im Leistungsfall das

richtige Geburtsdatum festzustellen, auch wenn der Versicherte vorher bei der Bildung der

Versicherungsnummer ein anderes - für den Leistungsfall ungünstigeres - Geburtsdatum

angegeben hat. Der erkennende Senat tritt nunmehr der Auffassung des 4. Senats bei.



Dem geltenden Recht läßt sich keine Grundlage dafür entnehmen, daß die inner-

staatlichen Sozialleistungsträger das Recht haben, bei der Beurteilung des Leistungsfalles

ohne Prüfung die frühere oder auch spätere Eintragung in den ausländischen

Personenstandsunterlagen zugrunde zu legen. Ergeben sich Zweifel, sind sie stets im

Wege gesonderter Tatsachenfeststellung auszuräumen. Die bereits dargelegte

Normstruktur des § 1248 Abs 2 RVO als Anspruchsgrundlage läßt keine andere

Vorgehensweise zu.



- 7 -



Für die verbindliche Feststellung von Personenstandsdaten ist weder im materiellen

Sozialrecht noch im Sozialverfahrensrecht eine die Besonderheit der Problematik

betreffende Regelung getroffen worden. Während bei einer Geburt in Deutschland das

Geburtenbuch als Personenstandsbuch den Tag der Geburt beweist (§ 1 Abs 2, § 2

Abs 2, §§ 16 ff, 60 Abs 1 Satz 1 des Personenstandsgesetzes idF der

Bekanntmachung vom 8. August 1957 ) und Personenstandsurkunden,

zu denen der Geburtsschein und die Geburtsurkunde gehören (§§ 61a, 61c, 62 PStG),

dieselbe Beweiskraft haben wie Personenstandsbücher (§ 66 PStG), kann ein

gleichwertiger Beweis gestützt bloß auf Eintragungen in ausländischen

Personenstandsbüchern nicht geführt werden. Denn die Personenstandsbuchführung ist

vom Territorialitätsprinzip beherrscht. Die deutschen Personenstandsbücher beurkunden

also nur innerstaatliche Personenstandsfälle (vgl im einzelnen BSG Urteil vom

29. November 1985 - 4a RJ 9/85 -SozR 2200 § 1248 Nr 44). Demgemäß gilt die

Beweisregel der § 60 Abs 1 Satz 1, § 66 PStG nicht für eine ausländische

Geburtsurkunde. Diese kann zwar ("geeignetes") Beweismittel sein; ihr Inhalt unterliegt im

Gerichtsverfahren aber - nicht anders als ihre Echtheit (§ 438 der Zivilprozeßordnung

) - freier richterlicher Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 SGG.



Eine erhöhte Beweiskraft erlangen ausländische Personenstandsunterlagen auch nicht

über Art 2 Abs 1 des Übereinkommens über die Erteilung gewisser für das Ausland

bestimmter Auszüge aus Personenstandsbüchern vom 27. September 1956 (BGBl II

1961, 1055; für die Bundesrepublik in Kraft ab 23. Dezember 1961 - BGBl II 1962, 42)

oder über Art 2 Abs 1 des Übereinkommens betreffend die Entscheidungen über die

Berichtigung von Eintragungen in Personenstandsbüchern (Zivilstandsregister) vom

10. September 1964 (BGBl II 1969, 445 und 446, in Kraft ab 25. Juli 1969 - BGBl II 1969,

2054). Denn entsprechende Unterlagen erhalten hierdurch nur die Beweiskraft einer

ausländischen, nicht einer deutschen öffentlichen Urkunde. Eine die Geburt des Klägers

betreffende Eintragung wird aus einem türkischen Personenstandsregister nicht in ein

deutsches Personenstandsbuch übernommen (vgl hierzu im einzelnen: BSG Urteil vom

29. November 1985 - 4a RJ 9/85 - SozR 2200 § 1248 Nr 44).



Das Urteil des türkischen Amtsgerichts E vom 28. August 1987 bindet die deutschen

Sozialleistungsträger und Gerichte nicht. Dieses Urteil ordnet eine Berichtigung des in

V /E geführten türkischen Personenstandsregisters an; es kann keine

weitergehenden Wirkungen haben, als die aufgrund dieses Urteils berichtigte Eintragung

im türkischen Personenstandsregister selbst (BSG Urteil vom 29. November 1985 - 4a RJ

9/85 - SozR 2200 § 1248 Nr 44; Urteil vom 29. Januar 1985 - 10 RKg 20/83 - SozR 5870

§ 2 Nr 40).



Unterliegt bei fehlender Bindung einer - berichtigten - Eintragung in ein türkisches

Personenstandsbuch die Feststellung des Tags der Geburt des Klägers mithin der freien



- 8 -



Beweiswürdigung des deutschen Gerichts, so kann die Auffassung des LSG nicht

zutreffen, es sei - wenn auch nicht an die berichtigte zweite, so doch - an die erste

Feststellung des Geburtsdatums bei Vergabe der Versicherungsnummer gebunden. Die

erste wie die berichtigte Eintragung in türkische Personenstandsunterlagen sind in bezug

auf ihre Beweiskraft, die sie in der Bundesrepublik Deutschland entfalten, darin gleich zu

beurteilen, daß sie beide die deutschen Sozialleistungsträger und Gerichte nicht binden.



Danach mußte das angefochtene Urteil auf die Revision des Klägers aufgehoben und

dem LSG durch Zurückverweisung der Sache Gelegenheit gegeben werden zu prüfen, ob

der Vortrag des Klägers den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Beweisführung

genügt, um gegebenenfalls sodann den Geburtstag des Klägers - und daran

anschließend die Vollendung des 60. Lebensjahres - aufgrund einer Beweiserhebung, die

den allgemein dafür geltenden Regeln folgt, in freier Beweiswürdigung festzustellen.



Dabei wird es im Rahmen der Untersuchungsmaxime (§ 103 SGG) lediglich solche

Ermittlungen anzustellen haben, die nach "Lage der Sache" erforderlich sind

(Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl 1993, RdNr 7 zu § 103), dh, es hat nur, aber auch

stets zu ermitteln, soweit Sachverhalt und Beteiligtenvortrag Nachforschungen nahelegen

(BSG Beschluß vom 14. September 1955 - 10 RV 490/55 -SozR Nr 3 zu § 103). Seine

Ermittlungspflicht wird durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten beschränkt

(Meyer-Ladewig, aaO). Gerade in Fällen wie dem vorliegenden hängen die

Ermittlungsmöglichkeit und -notwendigkeit maßgeblich von der Benennung

des Beweismittels durch den Kläger - mithin seiner Mitwirkung - ab.



Beim - hier angebotenen - Zeugenbeweis wird der Beweis gemäß § 118 Abs 1 SGG iVm

§ 373 ZPO durch die Benennung der Zeugen und die Bezeichnung der Tatsachen

angetreten, über welche die Vernehmung der Zeugen stattfinden soll. Dazu wird sich das

LSG Gedanken machen müssen zur Substantiierung der Beweisbehauptung, denn die

Ablehnung des Beweises für beweiserhebliche Tatsachen ist zulässig, wenn die

Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, daß ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann

oder wenn die Bezeichnung der Tatsachen zwar in das Gewand einer bestimmt

aufgestellten Behauptung gekleidet, gleichwohl aber nur aufs Geradewohl gemacht sind.

Bei solchen gleichsam "ins Blaue" aufgestellten Behauptungen ist ein Beweisantrag

rechtsmißbräuchlich (Bundesgerichtshof , Urteil vom 15. Dezember 1994 - 7 ZR

140/93 - NJW-RR 1995, 722 ff).



Die Behauptung einer bloß vermuteten Tatsache im Prozeß ist nur dann unzulässig, wenn

der Beteiligte sie ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich aufstellt; bei der Annahme von

Willkür in dem Sinne ist Zurückhaltung geboten (BGH, Urteil vom 25. April 1995 - VI ZR

178/94 - MDR 1995, 738). Wird nämlich eine Behauptung nach schlüssigem Vorbringen

des Klägers unter Beweis gestellt, so hat das Gericht diesen Beweis dem Gebot der



- 9 -



Erschöpfung der Beweismittel folgend (Art 103 Abs 1 Grundgesetz , § 118 Abs 1

SGG, § 286 ZPO) zu erheben (Bundesverfassungsgericht Beschluß vom

28. Februar 1992 - 2 BvR 1179/91 - NJW 1993, 254, 255; Beschluß vom 20. April

1982 - 1 BvR 1429/81 - BVerfGE 60, 250, 252; Bundesverwaltungsgericht

Urteil vom 11. Dezember 1981 - 4 C 71/79 - NVwZ 1982, 244).



Entschließt sich das LSG hiernach zur Erhebung des angebotenen

Beweises - gegebenenfalls durch Vernehmung der aufgebotenen Zeugen im Wege der

Rechtshilfe in der Türkei -, so hat es das Ergebnis der Beweisaufnahme iS des § 128

Abs 1 SGG frei zu würdigen. Dabei verstößt es gegen den Grundsatz der freien

Beweiswürdigung, wenn das Gericht die Glaubwürdigkeit eines Zeugen allein deshalb

verneint, weil der Zeuge einem Prozeßbeteiligten nahe steht und bei seiner Vernehmung

keine Umstände zu Tage getreten sind, die die von vornherein angenommenen Bedenken

gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen zerstreut hätten (BGH, Urteil vom 18. Januar

1995 - VIII ZR 23/94 - MDR 1995, 629). § 286 Abs 1 ZPO, der über § 202 SGG auch im

sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung findet (§ 128 Abs 1 SGG spricht - pauschaler -

nur vom "Gesamtergebnis des Verfahrens"), gebietet vielmehr, eine individuelle

Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der

Beweisaufnahme vorzunehmen. Auch die Annahme möglichen Eigeninteresses eines

aufgebotenen Zeugen führt nicht per se zur Verneinung der Glaubwürdigkeit dieses

Zeugen. Eine solche Annahme begründete eine - verfahrensrechtlich unzulässige -

abstrakte Beweisregel, die das Gesetz nicht kennt (BGH Urteil vom 3. November

1987 - VI ZR 95/87 -MDR 1988, 307 zur sogenannten Beifahrer-Rechtsprechung). Es gibt

aber keinen Erfahrungssatz des Inhalts, daß Zeugen, die einem Prozeßbeteiligten nahe

stehen, von vornherein als parteiisch und unzuverlässig zu gelten haben und ihre Aussa-

gen deswegen grundsätzlich unbrauchbar sind (BGH Urteil vom 18. Januar 1995 - VIII ZR

23/94 - MDR 1995, 629). Eine entsprechende Einschränkung der freien Beweiswürdigung

ist verfahrenswidrig (vgl hierzu Baumgärtel, Zwei wichtige BGH-Entscheidungen zu

Ausforschungsbeweis und "Behauptung ins Blaue hinein", MDR 1995, 987).



Bei seiner Beweiswürdigung wird das LSG berücksichtigen können, daß der Kläger die

Tatsache seiner früheren Geburt schon längere Zeit gewußt, der Beklagten gegenüber

aber nicht kund getan hat. Gemäß § 444 ZPO können nämlich im Falle der Vereitelung

des Urkundenbeweises Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit und den

Inhalt der Urkunde als bewiesen angesehen werden. Dieser Vorschrift wohnt der

allgemeine Rechtsgedanke inne, daß für den Fall, daß eine Partei eine Beweisführung

(teilweise) unmöglich macht, die Behauptung des Prozeßgegners zu der

beweiserheblichen Problematik als bewiesen angesehen werden kann

(Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO-Komm, 53. Aufl 1995, RdNrn 1 und 2 zu

§ 444). Eine arglistige oder auch nur fahrlässige Vereitelung einer Beweisführung durch

ein Tun oder pflichtwidriges Unterlassen (vgl BSG Urteil vom 10. August 1993 - 9/9a RV



- 10 -



10/92 - NJW 1994, 1303) kann im Rahmen freier Beweiswürdigung für die Richtigkeit des

gegnerischen Vorbringens gewürdigt werden (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann,

aaO, RdNr 2). Unabdingbare Voraussetzung für eine solche Beweiswürdigung wird aber

sein, daß das pflichtwidrige Handeln oder Unterlassen den Beteiligten, der den

(vereitelten) Beweis zu führen hätte, in Beweisnot, dh in eine ausweglose Lage, gebracht

hat.



Das LSG kann ferner berücksichtigen, daß der Kläger - gestützt durch Erzählungen seiner

Eltern oder weiterer Verwandter bzw durch bestimmte Ereignisse wie die Einschulung -

möglicherweise selbst über lange Jahre davon überzeugt gewesen ist, iS des bisher

angenommenen Geburtsdatums später geboren zu sein. Dies kann unter Umständen zur

Prüfung Anlaß geben, ob in der nachträglichen Behauptung eines früheren

Geburtsdatums ein "venire contra factum proprium" liegt, etwa wenn der Kläger vorher

selbst das "alte" Geburtsdatum stets als das richtige im Geschäftsverkehr verwendet und

darauf gestützt rechtliche Vorteile genutzt hat. Denn das Verbot widersprüchlichen

Verhaltens gilt als Sonderfall des Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben auch im

Bereich des öffentlichen Rechts, insbesondere des Sozialversicherungsrechts, und

kommt in diesem Sinne sowohl für das Handeln des Versicherungsträgers als auch für

das Verhalten des Versicherten in Betracht (BSG Urteil vom 21. Juli 1981 - 7 RAr 37/80 -

nicht veröffentlicht). Die Erkenntnis widersprüchlichen Verhaltens wiederum kann bei der

Beweiswürdigung die Überzeugung rechtfertigen, daß das "neue" Geburtsdatum nur

zweckgerichtet - zur früheren Erlangung einer Sozialleistung - behauptet und die Berichti-

gung der Personenstandsdaten in der Türkei nur deswegen veranlaßt worden ist. Diese

Überzeugung könnte - allerdings unter Abwägung aller Umstände - vorliegend dadurch

gestützt werden, daß der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren angegeben hat

(Schriftsatz vom 12. März 1992), Unterlagen über einen Schulbesuch oder Zeugnisse

könnten nicht beigebracht werden, weil er keine Schule besucht habe, während er zur

Begründung seiner Revision (Schriftsatz vom 6. Juni 1994) ausführt, der Zeuge A

hätte Fragen zum gleichzeitigen Schulbesuch beantworten können.



Bei der Beweiswürdigung kann ferner Berücksichtigung finden, daß eine auffallend hohe

Zahl nachträglicher Berichtigungen ausländischer Geburtseinträge in Fällen, in denen dies

Leistungsbewerbern in der Bundesrepublik günstig erscheinen kann, vorliegt (BSG Urteil

vom 29. November 1985 - 4a RJ 9/85 - SozR 2200 § 1248 Nr 44). Wie der 4. Senat in

seinem Beschluß vom 22. Februar 1995 - 4 S (A) 5/94 - klarstellt, wird hierdurch

allerdings keine abstrakte Beweisregel begründet, die das Gesetz nicht kennt. Vielmehr

handelt es sich allein um die Berücksichtigung von Erfahrungssätzen, die das

Tatsachengericht im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung zu gewichten hat.

Soweit der 10. Senat des BSG in seinem Urteil vom 29. Januar 1985 - 10 RKg 20/83 -

(SozR 5870 § 2 Nr 40) ausführt, die aufgrund eines Urteils berichtigte Eintragung in

türkischen Personenstandsregistern habe die Vermutung der Richtigkeit für sich, ist eine



- 11 -



gesetzlich begründete Vermutung nicht gemeint, da eine solche im Gesetz nicht

ausgesprochen ist. Zu prüfen ist allerdings, ob einer solchen Berichtigung ein hoher

Beweiswert zukommt, was eine "tatsächliche Vermutung" darstellen kann. Diese Prüfung

geschieht im Rahmen der freien Beweiswürdigung des Tatsachengerichts.



Bleibt im Ergebnis der Beweiswürdigung ein non liquet, so gibt die materielle Beweislast

den Ausschlag für die Entscheidung. Sie besagt, daß ein nicht festgestelltes

Tatbestandsmerkmal so zu behandeln ist, als sei es nicht vorhanden (Meyer-Ladewig,

SGG-Komm, RdNr 19 zu § 103). Zu tragen ist der Nachteil der Unerwiesenheit von dem,

zu dessen Gunsten das Tatbestandsmerkmal im Prozeß wirkt (Meyer-Ladewig, aaO,

RdNr 6 zu § 118). Das bedeutet, daß es dann zu keiner Änderung des Geburtsdatums für

die Zwecke der Rentenversicherung kommt, wenn nicht festgestellt werden kann, daß der

Versicherte zu dem nunmehr von ihm behaupteten Zeitpunkt geboren ist.



Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung

vorbehalten.

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BVerwG, 5 ER 625.90 vom 18.12.1990, Bundesverwaltungsgericht
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT

BVerwG 5 ER 625.90
OVG 16 A 1486/89

BESCHLUSS

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 18. Dezember 1990
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht
Dr. F. und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
R. und Dr. P.

beschlossen:

Der Antrag der Klägerin, ihr für eine Be-
schwerde gegen die Nichtzulassung der Revi-
sion in dem Urteil des Oberverwaltungsge-
richts für das Land Nordrhein-Westfalen vom
21. März 1990 Prozeßkostenhilfe zu bewilligen
und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird ab-
gelehnt.

- 2 -

Gründe:

Das Prozeßkostenhilfegesuch der Klägerin ist abzulehnen; die be-
absichtigte weitere Rechtsverfolgung bietet keine hinreichende
Aussicht auf Erfolg (§ 166 VwGO, § 114 Satz 1, § 121 Abs. 1 ZPO).

Die angekündigte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision
in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts müßte erfolglos bleiben,
weil Zulassungsgründe nicht hinreichend dargelegt und auch sonst
nicht erkennbar sind.

Die Klägerin macht geltend, das Oberverwaltungsgericht weiche von
dem Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. April 1987
- BVerwG 5 B 103.86 - (NJW 1988, 154) und von dem Urteil des Bun-
desverwaltungsgerichts vorn 12. Juni 1987 - BVerwG 5 C 2.83 -
FarnRZ 1987, 1089) ab und beruhe auf dieser Abweichung (§ 132
Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Die gerügte Abweichung könnte aber nicht zur
Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO führen.

Wie die Klägerin nicht verkennt, hat das Bundesverwaltungsgericht
sich der weiter entwickelten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
für den Anwendungsbereich des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BAföG an-
geschlossen und seine frühere Rechtsprechung ausdrücklich aufge-
geben, soweit sie entgegensteht (Beschluß vorn 14. August 1989
- BVerwG 5 B 76.89 - ). Die Abweichung von einer Rechtsprechung, an der
das Bundesverwaltungsgericht in späteren Entscheidungen selbst
nicht mehr festhält, rechtfertigt die Zulassung der Revision
nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO jedoch nicht (vgl. u.a. BVerwG,
Beschluß vorn 20. November 1981 - BVerwG 3 B 52.81 - ; Weyreuther, Revisionszulassung
und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten
Bundesgerichte, 1971, Rdnr. 104).

Soweit die Klägerin ferner rügt, das Oberverwaltungsgericht habe
die jüngste Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus dem Urteil
vom 7. Juni 1989 - IV b ZR 51/88 - angewandt, namentlich zu Unrecht
(BGHZ 107, 376) unzutreffend angenommen, zwischen ihrer
kaufmännischen Ausbildung und ihrem späteren Studium der Wirt-

- 3 -

schaftswissenschaften bestehe ein enger sachlicher und zeitlicher
Zusammenhang, benennt die Klägerin nicht den Zulassungsgrund, der
mit diesem Vortrag geltend gemacht werden soll. Abgesehen davon,
ist mit dem Vorbringen der Klägerin auch in der Sache kein Zu-
lassungsgrund dargelegt und auch unabhängig davon nicht erkennbar.

Das Oberverwaltungsgericht ist von den rechtlichen Grundsätzen
ausgegangen, die in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
entwickelt und vorn Bundesverwaltungsgericht übernommen worden
sind. Es hat von diesen Grundsätzen ausgehend in Würdigung des
Einzelfalles der Klägerin nur nicht die Schlußfolgerungen gezogen,
die die Klägerin aus der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof
und Bundesverwaltungsgericht für ihren Fall gezogen wissen möchte.
Die angeblich unrichtige Anwendung eines in der höchstrichterlichen
Rechtsprechung entwickelten und vorn Berufungsgericht nicht in
Frage gestellten Rechtsgrundsatzes auf den zu entscheidenden
Einzelfall stellt aber keine Abweichung im Sinne des § 132
Abs. 2 Nr. 2 VwGO dar (BVerwG, Beschluß vom 31. März 1988
- BVerwG 7 B 46.88 - ).

Die Klägerin setzt sich im übrigen mit dem angefochtenen Urteil
unter wesentlicher Heranziehung der Umstände ihres Einzelfalles
nach Art einer Berufungs- oder Revisionsbegründung auseinander.
Damit wird weder eine konkrete Rechtsfrage bezeichnet noch
erkennbar gemacht, inwieweit die Beantwortung dieser Rechtsfrage
entscheidungserheblich und über den Fall der Beschwerdeführerin
hinaus von allgemeiner Bedeutung sein könnte. Deshalb ist auch
eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des
§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO weder dargelegt noch sonst ersichtlich.

Die Klägerin macht schließlich geltend, das angefochtene Urteil
beruhe auf Verfahrensmängeln (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
Die Klägerin rügt, das Oberverwaltungsgericht habe seine
Pflichten verletzt, darauf hinzuwirken, daß ungenügende tat-
sächliche Angaben ergänzt und alle für die Feststellung und

- 4 -

Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben
werden (§ 86 Abs. 3 VwGO), sowie die Streitsache mit dem Beteiligten
tatsächlich und rechtlich zu erörtern (§ 104 Abs. 1 VwGO). Die ge-
rügten Verfahrensmängel liegen indes nicht vor. Das Oberverwaltungs-
gericht hat nicht seine Hinweispflicht (§ 86 Abs. 3 VwGO) verletzt.
Der Berichterstatter des Berufungsgerichts hat vielmehr durch prozeß-
leitende Verfügungen die Klägerin auf das während des Berufungsver-
fahrens bekanntgewordene Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7. Juni
1989 hingewiesen, verbunden mit der Anfrage, ob die Klägerin die
Klage aufrechterhalte. Die Klägerin wußte damit, daß das Oberver-
waltungsgericht dem Urteil des Bundesgerichtshofs auch für ihren
Fall Bedeutung beimißt und die dort aufgestellten Voraussetzungen
für ein Fortbestehen der Unterhaltspflicht als wohl gegeben ansah.
Die Klägerin hatte damit Gelegenheit, alles vorzutragen, was aus
ihrer Sicht gegen den engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang
zwischen praktischer kaufmännischer Ausbildung und wirtschaftswissen-
schaftlichem Studium, namentlich aber dagegen sprach, ihren Eltern
sei die Finanzierung ihres Studiums wirtschaftlich zumutbar. Die
Klägerin hat von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gernacht und ins-
besondere dargelegt, aus welchen Gründen sie die Finanzierung des
Studiums durch ihre Eltern für diese wirtschaftlich nicht für zurnut-
bar hielt. Sie hat dabei allerdings nicht erwähnt, einer ihrer Brüder
befinde sich noch in der Ausbildung, ein weiterer Bruder sei arbeits-
los und müsse wegen des geringen Arbeitslosengeldes durch die Eltern
unterstützt werden. Warum es eines weiteren Hinweises des Oberverwal-
tungsgerichts bedurft hätte, um auch diese Umstände noch vorzutragen,
legt die Beschwerde nicht dar. Das Unterbleiben eines weiteren Hin-
weises verstieß nicht gegen § 86 Abs. 3 VwGO. Die Hinweispflicht in
bezug auf den Sachvortrag der Beteiligten kann sich nur auf die Er-
gänzung ungenügender tatsächlicher Angaben erstrecken, deren Unvoll-
ständigkeit für das Gericht erkennbar ist. Eine Verletzung der Hin-
weispflicht kommt nur dann in Betracht, wenn für das Gericht erkennbar
der Kläger von falschen Voraussetzungen bei seiner Rechtsverfolgung
ausgegangen ist und deshalb unterlassen hat vorzutragen, was zur
Wahrnehmung seiner Rechte vorzutragen ist (BVerwG, Urteil vom
8. Mai 1984 - BVerwG 9 C 141.83 - ). Das Oberverwaltungsgericht konnte dem

- 5 -

Vortrag der Klägerin entnehmen, ihr sei bekannt, es komme u.a.
darauf an, ob ihren Eltern die Finanzierung des Studiums finanziell
zumutbar sei. Das Oberverwaltungsgericht durfte deshalb annehmen,
die Klägerin werde auch ohne weitere Hinweise alles vorbringen,
was hierzu aus ihrer Sicht vorzubringen war. Unter diesen Umständen
hat das Oberverwaltungsgericht auch nicht gegen seine Pflicht
aus § 104 Abs. 1 VwGO verstoßen, die Streitsache in tatsächlicher
Hinsicht zu erörtern (vgl. zu§ 104 Abs. 1 VwGO u.a. BVerwG, Urteil
vom 23. Mai 1989 - BVerwG 7 C 2.87 - ), zumal die Klägerin selbst gemäß § 125 Abs. 1, § 101 Abs. 2
VwGO auf eine mündliche Verhandlung und damit auf eine Erörterung
der Streitsache verzichtet hat.

Die Klägerin rügt zum anderen, das Oberverwaltungsgericht habe
seine Pflicht verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen zu erfor-
schen (§ 86 Abs. 1 VwGO). Sie ist insoweit der Ansicht, das Ober-
verwaltungsgericht hätte ihre Eltern zu deren wirtschaftlichen
Verhältnissen als Zeugen hören müssen. Eine Anregung, in diese
Richtung Beweis zu erheben, hat die Klägerin im Berufungsverfahren
nicht gegeben. Erst recht hat sie keinen förmlichen Beweisantrag
gestellt. Im Gegenteil hat sie auf eine mündliche Verhandlung
ausdrücklich verzichtet, weil sie den Sachverhalt bereits für
geklärt hielt. Unter diesen Umständen könnte der Verfahrensmangel
einer unzureichenden Aufklärung des Sachverhalts nur dann gegeben
sein, wenn ersichtlich wäre, weshalb sich dem Oberverwaltungsge-
richt eine weitere Sachaufklärung in der jetzt aufgezeigten
Richtung hätte aufdrängen müssen. Dem Gericht kann nur dann eine
unzureichende Aufklärung des Sachverhalts vorgeworfen werden,
wenn nach den gesamten Umständen - auch ohne einen entsprechenden
Beweisantrag - erkennbar war, daß weitere Beweismittel vorhanden
waren und diese der weiteren Sachaufklärung dienlich sein konnten
(BVerwG, Urteil vom 7. Februar 1985 - BVerwG 3 C 36.84 - ). Das Oberverwaltungsgericht durfte aber
nach dem Verhalten der Klägerin annehmen, die Klägerin habe insoweit
alle - ohnehin in ihrem Lebensbereich liegenden - Umstände vorge-
tragen.

Dr. F. R. Dr. P.

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BVerwG, 5 C 12.80 vom 04.06.1981, Bundesverwaltungsgericht
VR 1981, 449-449(L1-2)



Sachgebiet:

Sozialhilferecht



Rechtsquellen:

BSHG § 1 Abs. 2

§ 2 Abs. 1

§ 76 Abs. 2 Nr. 3 und 4

VO zur Durchführung des § 76 BSHG

§ 3 Abs. 4 und 6



Begriff "gesetzlich vorgeschrieben":

§ 76 Abs. 2 und 3 BSHG

Beitrag zur Kfz-Haftpflichtversicherung

- Absetzung vom Einkommen, Angemessen-

heit dem Grunde nach;



Führung eines menschenwürdigen Lebens

und Halten eines Kfz.



FEVS 1981, 372 (LT1+2)

Zfs 1981, 342 (LT1+2)

ZfsH 1981, 340 (LT1+2)

Vole Beo A 1981, 313 (LT1+2)

Buchh 436.0 § 76 BSHG Nr 13 (LT)

DVBl 1982, 266 (LT1+2)

BVerwGE Bd. 62 261-267 (LT1+2)





Urteil vom 4. Juni 1981 - BVerwG 5 C 12.80



Leitsätze:



1. Im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt

(Abschnitt 2 des Bundessozialhilfe-

gesetzes) umfaßt der notwendige Lebens-

unterhalt den Aufwand für das Halten

eines Kraftfahrzeugs nicht.



2. Der Beitrag zur Kraftfahrzeug-Haftpflicht-

versicherung, der an die Kraftfahrzeug-

haltung als einen Akt freier Entscheidung

anknüpft, ist nicht "gesetzlich vorge-

schrieben" im Sinne des § 76 Abs. 2 Nr. 3

BSHG; er ist bei der Gewährung von Hilfe

zum Lebensunterhalt nicht als eine dem

Grunde nach angemessene Ausgabe vom

Einkommen abzusetzen.



Urteil des 5. Senats vom 4. Juni 1981 - BVerwG 5 C 12.80



I. VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 31.1.1979

- Az.: VG III A 449/78 -



II. OVG Bremen, Urteil vom 13.11.1979

- Az.: OVG II BA 9/79 -



- 1 -



Verkündet



am 4. Juni 1921

Neidhardt

Justizobersekretär

als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle





BUNDESVERWALTUNGSGERICHT

BVerwG 5 C 12.80

OVG 2 BA 9/79



IM NAMEN DES VOLKES



In der Verwaltungsstreitsache



hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts

auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 1981

durch den Vornitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht

K. und die Richter am Bundesverwaltungsgericht

R. , Dr. S. , R. und

B.

für Recht erkannt: Die



- 2 -



Die Revision der Kläger gegen das

Urteil des Oberverwaltungsgerichts

der Freien Hansestadt Bremen vom

13. November 1979 wird zurückge-

wiesen.



Die Kläger tragen die Kosten des

Revisionsverfahrens als Gesamt-

schuldner. Gerichtskosten werden

nicht erhoben.



Gründe:



I.



Die Kläger, Eheleute, bezogen 1977 und 1978 für sich und

ihre Tochter Sozialhilfe in Gestalt von (ergänzender) Hilfe

zum Lebensunterhalt, da das dem Kläger als Berufsprakti-

kanten für den Beruf des Sozialarbeiters gezahlte Prakti-

kantencehalt unter dem sozialhilferechtlichen Bedarfssatz

für die Familie lag. Bei der Bemessung der Sozialhilfe be-

rücksichtigte der Träger der Sozialhilfe Ausgaben des Klä-

gers für das Halten eines Kraftfahrzeugs (Kfz) - durch Ab-

setzung eines Pauschbetrages vom Einkommen -, solange der

Kläger das Kfz für· die Ausübung der Praktikantentätigkeit

außerhalb seines Wohnorts benutzte (Oktober 1977 bis

März 1978). Als der Kläger anschließend an seinem Wohnort

als Berufspraktikant beschäftigt wurde, setzte der Träger

der Sozialhilfe. nur noch die Kosten der Fahrkarte für das

öffentliche Verkehrsmittel ab (DM 39 monatlich).



Anfang Juli 1978 beantragten die Kläger, die bereits Anfang

Mai fällig gewordene Kfz-Steuer (Halbjahresbetrag: 118,60 DM)

und die am 1. Juli 1978 fällig gewordenen Halbjahr.esbei träge für



- 3 -



für die Kfz-Haftpflichtversicherung, die Teilkaskoversiche-

rung und die Unfallversicherung (262,70 DM, 17,50 DM und

15,50 DM) vom einzusetzenden Einkommen abzusetzen. Die Be-

klagte lehnte dies ab, weil der Kläger für die Fahrt zwischen

Wohnung und Arbeitsstätte zumutbar öffentliche Verkehrsmittel

benutzen könne.



Mit der daraufhin erhobenen Klage haben die Kläger in den

Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt. Das Berufungsurteil ist

im wesentlichen wie folgt begründet: Die streitigen Aufwen-

dungen seien nicht mit der Erzielung des Einkommens verbun-

dene notwendige Ausgaben, weil der Kläger - wie gerichtsbe-

kannt sei - den Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit

öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen könne. Als gesetz-

lich vorgeschriebene Beiträge zu einer privaten Versicherung

im Sinne der Nummer 3 des § 76 Abs. 2 BSHG könnten die

Versicherungsbeiträge nicht anerkannt werden, weil es nicht

der Sinn dieser Vorschrift sei, beliebigen Zwecken dienen-

de Versicherungsbeiträge abzusetzen. Der Gesamtzusammenhang

der Regelung ergebe, daß nur solche Beiträge in Betracht

kämen, mit denen der Hilfesuchende wie mit Vorsorgeleistungen

nach der Nummer 2 des § 76 Abs. 2 BSHG für Krankheit, Unfall-

folgen, Alter und Arbeitslosigkeit die Voraussetzungen für

einen Ausgleich bei einem künftigen Wegfall des Einkommens

aus eigener Erwerbstätigkeit schaffe. - Für eine Absetzung

der Kfz-Steuer außerhalb der Nummer 4 des § 76 Abs. 2 BSHG

gebe es offensichtlich keine Rechtsgrundlage.



Mit der Revision verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter;

lediglich hinsichtlich der zunächst noch erstrebten Absetzung

eines Betrages von 2,00 DM (Säumniszuschlag bei der Kfz-Steuer)

haben sie das Rechtsmittel in der Revisionsverhandlung zurück-

genommen. Sie halten die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts

mit Rücksicht auf den klaren Wortlaut des Gesetzes für unrich-

tig; die Kfz-Haftpflichtversicherung sei gesetzlich vorge-

schrieben. Die Kfz-Steuer kann nach Meinung der Kläger nicht

anders behandelt werden; sie lasse sich bei analoger Anwen-

dung des Gesetzes berücksichtigen.



- 4 -



Die Beklagte tritt der Revision entgegen. Sie macht sich

die Gründe des angefochtenen Urteils zu eigen.



II.



Die - zulässige - Revision ist unbegründet, so daß sie zu-

rückzuweisen ist ( § 144 Abs. 2 VwGO)



Die Kläger haben mit ihrer Klage in den Vorinstanzen zu

Recht keinen Erfolg gehabt. Sie haben keinen Anspruch dar-

auf, daß der Träger der Sozialhilfe ihnen und ihrer Tochter

(als Bedarfsgemeinschaft) von Juli 1978 an ergänzende Hilfe

zum Lebensunterhalt unter (anteilmäßiger) Berücksichtigung der

Aufwendungen gewährt, die dem Kläger im Zusammenhang mit dem

Halten eines Kraftfahrzeuges (Kfz) in Gestalt der Kfz-Steuer und

der Beiträge zu Kfz-Versicherungen erwachsen waren. Die Auffas-

sung des Oberverwaltungsgerichts, daß es sich dabei während

der fraglichen Zeit nicht um mit der Erzielung des Ein-

kommens des Klägers (Praktikantengehalt) verbundene not-

wendige Ausgaben gehandelt hat, steht mit § 76 Abs. 2 Nr. 4

BSHG in Einklang; denn nach den das Bundesverwaltungsge-

richt bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungs-

gerichts war es dem Kläger zuzumuten, den Weg zwischen der

Wohnung und der Arbeitsstätte mit öffentlichen Verkehrs-

mitteln zurückzulegen (vgl. § 3 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 6

Nr. 1 der Verordnung zur Durchführung des § 76 des Bundes-

sozialhilfegesetzes vom 28. November 1962 [BGBl. I S. 692]).

Dies wollen offenbar auch die Kläger nicht in Abrede stel-

len; denn sie begehren - wie ihre Revisionsbegründung

zeigt -, die erwähnten Ausgaben nach der Nummer 3 des § 76

Abs. 2 BSHG zu berücksichtigen.



Ihrer Ansicht, daß die erwähnten Ausgaben nach dem schlichten

und klaren Wortlaut des Gesetzes ohne weiteres deshalb vom

Einkommen des Klägers abzusetzen seien, weil es sich um „gesetzlich



- 5 -



"gesetzlich vorgeschriebene" Beiträge handele, kann jedoch

nicht beigetreten werden. Was die Kfz-Steuer angeht, so ist

sie - gerade nach dem von den Klägern für sich in Anspruch

genommenen schlichten und klaren Wortlaut des Gesetzes - kein

Beitrag zu einer öffentlichen oder privaten Versicherung; oder

ähnlichen Einrichtune; und Beiträge zur Teilkasko- und Unfall-

versicherung sind nicht gesetzlich vorgeschrieben, ebenso-

wenig Beiträge zur Kfz-Haftpflichtversicherung, soweit diese

die Mindestdeckungssummen überschreitet (vgl. dazu das Gesetz

über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter vom

5. April 1965 [BGBl. I S. 213] in Verbindung mit der Verord-

nung zur Änderung der Mindesthöhe der Versicherungssummen

in der Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter vom

23. Juli 1971 [BGBl. I S. 1109]).



Aber auch die Kfz-Haftpflichtversicherung, soweit sie vom Um-

fang her gesetzlich vorgeschrieben ist, ist nicht schon aus

diesem Grund ohne weiteres vom Einkommen abzusetzen. Es kann

offenbleiben, ob die Auffassung des Berufungsgerichts zutrifft,

daß die Absetzbarkeit dieser Ausgabe nach der Nummer 3 des § 76

Abs. 2 BSHG deshalb von Rechts wegen ausgeschlossen sei, weil

es sich um eine Ausgabe handele, die im Rahmen der Absetzungen

nach der Nummer 4 des § 76 Abs. 2 BSHG in Verbindung mit § 3

Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 6 Nr. 2 der Durchführungsverord-

nug berücksichtigt werden könne, und weil diese Vorschriften

die Frage songergesetzlich abschließend regelten. Hierfür

spricht manches; gerade auch dass von den Klägern - wenn auch

mit entgegengesetzter Schlußfolgerung - angeführte Argument,

daß aus einem einheitlichen Lebensvorgang, nämlich dem Halten

eines Kraftfahrzeugs, erwachsende gesetzliche Verpflichtungen

(zur Zahlung von Kfz-Steuer und Kfz-Haftpflichtversicherungs-

beitrag) sozialhilferechtlich nicht unterschiedlich behandelt

werden könnten: Da die einheitliche Berücksichtigung dieser

"Pflichtausgaben" nur in § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG in Verbin-

dunp; mit § 3 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 6 Nr. 2 der Durch-

führungsverordnung vorgesehen ist, hat es bei dieser Sicht

der Dinge eben dabei sein Bewenden auch in bezug auf den

Beitrag zur Kfz-Haftpflichtversicherung; mit anderen



- 6 -



Worten: Die mit dem Halten eines Kfz verbundenen notwendi-

gen Ausgaben sollen danach nur dann absetzbar sein, wenn

sie mit der Erzielung von Einkommen verbundene notwendige

Ausgaben sind.



Jedoch braucht diese Frage nicht abschließend beantwortet

zu werden. Selbst wenn man hinsichtlich jeder Art von

Versicherung die Absetzbarkeit des Beitrages ausgangs-

weise für rechtlich möglich hält, ist die Absetzung des

Beitrags für die Kfz-Haftpflichtversicherung (mit ihrem

Mindestumfang) nicht ipso jure geboten. Auch hinsichtlich

dieses Beitrages ist im Einzelfall zu prüfen, ob er nach

Grund und Höhe unter dem Aspekt angemessen ist, dem Hilfe-

suchenden Mittel zu belassen (also mittelbar Sozialhilfe

zu gewähren), die ihn in den Stand setzen, Versicherungen

aufrechtzuerhalten, für die aus der Sicht der das Sozial-

hilferecht prägenden Grundsätze ein Bedürfnis besteht.



Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kann dem

Träger der Sozialhilfe nicht mit der Begründung verwehrt

werden, daß die Kfz-Haftpflichtversicherung "gesetzlich vor-

geschrieben" sei. Das Bundesverwaltungsgericht teilt nicht

die Ansicht, die hierzu im Schrifttum verschiedentlich ver-

treten wird (Gottschick/Giese, Das Bundessozialhilfegesetz,

6. Aufl. 1977, § 76 RdNr. 8.3 Abs. 3; Jehle/Schmitt, Sozial-

hilferecht, Loseblatt-Kommentar, A (1. Teil), § 76 Erl. 4c;

Schellhorn/Jirasek/Seipp, Kommentar zum Bundessozialhilfe-

gesetz, 9. Aufl. 1977, § 76 RdNr. 21; Gutachten des Deutschen

Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom 26. April

1971, Kleinere Schriften Heft 54 S. 30; anderer Ansicht

aber: Rehnelt in ZfF 1969, 280 [282]) und die auch vom

Verwaltungsgericht Berlin (Urteil vom 16. Januar 1979

- ZfSH 1979, 216) geteilt wird. Das Tatbestandsmerkmal der

gesetzlich vorgeschriebenen Versicherung erhält den ihm in

§ 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG zugedachten Sinn erst mit der Frage

nach dem Grund für die Beitragsverpflichtung, nämlich ob

die betreffende Versicherung per se dem Hilfesuchenden

auferlegt



- 7 -



auferlegt ist, so daß er sich ihr durch freie Entschei-

dung nicht entziehen kann, oder danach, ob jedenfalls eine

solche Entscheidung unzumutbar erscheint. Der Abschluß der

Kfz-Haftpflichtversicherung ist die Folge des Hal-

tens eines Kfz. Dies ist dem einzelnen aber freigestellt.

Der Hilfesuchende kann daher auf das Halten eines Kfz ver-

zichten. Ein solcher Verzicht wird ihm vom Gesetz auch zuge-

mutet, wenn er aus dem von seinen Mitbürgern erarbeiteten

Bruttosozialprodukt, ohne das Leistung von Sozialhilfe nicht

möglich ist, die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt er-

wartet, die in § 11 BSHG auf den notwendigen

Lebensunterhalt begrenzt ist. In dem Verzicht auf ein Kfz

liegt dann Selbsthilfe, zu der § 2 Abs. 1 BSHG verpflich-

tet, in dem Sinne, daß der Hilfesuchende Ausgaben vermeidet,

die die ihm zur Verfügung stehenden und in erster Linie

für die Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts einzu-

setzenden Mittel mindern könnten. Das ergibt sich aus dem

inneren Zusammenhang, in dem die Vorschriften über den

Einsatz des Einkommens und Vermögens mit den Vorschriften

stehen, mit denen die materiellen Voraussetzungen für die

Gewährung von Sozialhilfe geregelt sind, in concreto aus dem

inneren Zusammenhang zwischen § 76 BSHG und den §§ 11 ff.

BSHG. Es macht keinen Unterschied, ob einem gänzlich Hilfe-

bedürftigen für die Bezahlung des Beitrages zur Kfz-Haft-

pflichtversicherung Sozialhilfe gewährt wird oder ob die

einem teilweise Hilfebedürftigen zu gewährende (ergänzende)

Hilfe zum Lebensunterhalt deshalb höher ausfällt, weil von

seinem als einsetzbar in Betracht zu ziehenden Einkommen

der Beitrag zur Kfz-Haftpflichtversicherung abgezogen wird.

Dieser im o.a. Schrifttum und vom Verwaltungsgericht Berlin

nicht erwogene, aber zwangsläufig bestehende innere Zusam-

menhang findet sich im Gesetz selbst in einem Teilbereich

ausgedrückt, nämlich im auch vom Oberverwaltungsgericht

erwähnten § 13 BSHG. Darin ist die Obernahme von Kranken-

versicherungsbeiträgen bestimmt (in Absatz 1 als "Muß"-

Leistung, in Absatz 2 als "Kann"-Leistung), wobei folge-

richtig § 76 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 BSHG von der Anwendung

ausgenommen



- 8 -



ausgenommen wird; andernfalls käme der Hilfeempfänger zwei-

mal in den Genuß entsprechender Beträge.



Wollte man also die Entrichtung eines Beitrages zur Kfz-Haft-

pflichtversicherung als im Sinne des § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG

"gesetzlich vorgeschrieben" erachten und ihre Berücksichti-

gung nach dieser Vorschrift deshalb als "Muß", so hätte das

zur Folge, daß einer völlig mittellos gewordenen Person, die

jedoch "aus besseren Tagen" noch ein Kfz besitzt, Sozialhilfe

nicht nur zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts

(vgl. besonders § 12 BSHG), sondern auch zur Bezahlung des

Beitrages zur Kfz-Haftpflichtversicherung (und wenn es nach

den Klägern ginge, auch zur Bezahlung der Kfz-Steuer) ohne

weiteres gewährt werden müßte. Es braucht nicht

näher dargelegt zu werden, daß eine solche Leistung mit den

das Sozialhilferecht prägenden Grundsätzen nicht vereinbar

ist. Daher muß bei einem "gesetzlich vorgeschriebenen" Bei-

trag, der dies nicht per se, sondern nur als Folge freiwil-

ligen Handelns ist, hier wie dort gefragt werden, ob seine

Berücksichtigung mit der Zielsetzung des Sozialhilferechts

in Einklang steht, die Führung eines Lebens zu ermöglichen,

das der Würde des Menschen entspricht, und den Hilfeempfän-

ger zur Selbsthilfe zu befähigen, damit weitere Gewährung

von Sozialhilfe entbehrlich wird (§ 1 Abs. 2 BSHG). Diesen

Zusammenhang haben offenbar auch die Kläger erkannt; denn

sie führen aus: Das Anschaffen und das Halten eines KfZ

seien nach allgemein gewandelter Anschauung nicht mehr an

den "Status eines zahlungskräftigen Bürgers" gebunden,

ein Kfz werde nicht mehr als Luxusgegenstand, sondern als

ein durchaus übliches Mittel zur Fortbewegung angesehen,

es sei menschenwürdiger, die Anschaffung eines Kfz als

freie Entscheidung eines Hilfeempfängers hinzunehmen als

in dem Gebrauch eines Kfz ein Statussymbol zu sehen.

Dieser Argumentation, die am Ende darauf hinausläuft, daß

ein menschenwürdiges Leben nur mit einem Kfz geführt werden

könne



- 9 -



könne, so daß für die Anschaffung und die Unterhaltung eines

Kfz Sozialhilfe als Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren

sei, kann sich das Bundesverwaltungsgericht nicht anschließen.

Steht nur Hilfe zum Lebensunterhalt in Frage, so ist die Füh-

rung eines menschenwürdigen Lebens vom Halten und Benutzen

eines Kfz noch weniger abhängig als vom Fernsehen (vgl. zu

letzterem BVerwGE 48, 237). Daß ein Kfz ein übliches I1ittel

zur Fortbewegung ist, besagt nicht, daß es eine von,der Men-

schenwürde her gebotene Notwendigkeit ist. Es ist eine An-

nehmlichkeit, auf die zu verzichten übrigens aus Gründen

der Ökologie und der Energieeinsparung zunehmend aufgefor-

dert wird. Überdies läßt sich dem Sozialhilferecht selbst

entnehmen, daß die Übernahme der Kosten für das Anschaffen

eines Kfz und seine Unterhaltung nur als Maßnahme der Ein-

gliederungshilfe in Betracht kommt (§ 40 Abs. 1 Nr. 2 BSHG

in Verbindung mit den §§ 8 und 10 Abs. 6 der Eingliederungs-

hilfe-Verordnung in der Fassung vom 1. Februar 1975

[BGBl. I S. 434]).



Entgegen der Ansicht der Kläger liegt in der Nichtberück-

sichtigung des Beitrags zur Kfz-Haftpflichtversicherung

keine "Gängelei", für die es keine rechtliche Grundlage

gäbe, so lange die Voraussetzungen für die Anwendung des

§ 25 BSHG nicht vorlägen. Die Kläger übersehen, daß es in

diesem Rechtsstreit nicht um die sinnvolle Verwendung ge-

währter Hilfe zum Lebensunterhalt durch sie geht; vielmehr

darum, daß sie zusätzlich eine Leistung der Sozialhilfe be-

gehren (indem ein entsprechender Betrag des vorhandenen

Einkommens ihnen freigelassen wird), die sie erst in den

Stand setzen·soll, ein Kraftfahrzeug zu halten.



Jedenfalls aus diesen Gründen war der Beitrag des Klägers

zur Kfz-Haftpflichtversicherung in seiner ganzen Höhe kein

dem Grunde nach angemessener und damit kein nach § 76 Abs. 2

Nr. 3 BSHG vom Einkommen absetzbarer Beitrag; ebensowenig

der Beitrag zur Teilkasko- und zur Unfallversicherung. Daß

sich aus eben diesen Gründen verbietet, § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG

analog



- 10 -



analog anzuwenden, um die Absetzbarkeit der Kfz-Steuer vom

Einkommen zu rechtfertigen, versteht sich dann von selbst.



Die Kostenentscheidung, bei der der durch partielle Revi-

sionsrücknahme erledigte Teil des Rechtsstreites einzube-

ziehen war, beruht auf den§§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 2·und

159 Satz 2 VwGO; die Gerichtskostenfreiheit.auf § 188

Satz 2 VwGO.



K. R. Dr. S.

R. B.

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BSG, 5 BJ 114/85 vom 14.02.1986, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht

5b BJ 114/85

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Klägerin, Antragstellerin
und Beschwerdeführerin,
Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Beklagte, Antragsgegnerin ‘
und Beschwerdegegnerin.

Der 5b Senat des Bundessozialgerichts hat am 14. Februar
1986

beschlossen:

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Beschwerdeverfahren
vor dem Bundessozialgericht Prozeßkostenhilfe zu bewilli- '
gen und ihr ihren Prozeßbevollmächtigten beizuordnen, wird
abgelehnt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der
Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen
vom 28. Februar 1985 wird als unzulässig verworfen.



- 2 -


Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten
des Beschwerdeverfahrens nicht zu erstatten.

Gründe:

Nach § 73a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm § 11M der Zivil-
prozeßordnung (ZPO) kann einem Beteiligten für das Beschwerde-
verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) Prozeßkostenhilfe nur
dann bewilligt und ein Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigter
beigeordnet werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hin-
reichende Aussicht auf Erfolg bietet. Diese Voraussetzung liegt
hier nicht vor. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG und ebenso auch eine Abweichung des
Berufungsurteils iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG macht die Klägerin
mit der Beschwerde nicht geltend. Anhaltspunkte dafür sind auch
aus den Akten nicht erkennbar.

Der zur Beschwerdebegründung allein gerügte Verfahrensmangel iS
von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist nicht hinreichend bezeichnet. Nach
§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG muß in der Beschwerdebegründung der Ver-
fahrensmangel bezeichnet werden. Die Begründung muß - wie bei der
Verfahrensrevision (vgl § 164 Abs 2 Satz 3 SGG) - die Tatsachen
bezeichnen, die den Mangel ergeben (vgl BSG in SozR 1500 § 160a
Nr 14). Da die Beschwerdebegründung auf einen Beweisantrag ver-
weist, den die Klägerin zu Beginn des Berufungsverfahrens in
ihrer Berufungsbegründungsschrift vom 29. Mai 198U dahin ge-

- 3 -

stellt hat, erneut eine Diagnose von Dr. B. und einen Befund
von einem anderen Facharzt oder einer Klinik nach etwaigem Be- ·
obachtungsaufenthalt einzuholen, hatte sie besonderen Anlaß, nach
Durchführung der vom Landessozialgericht (LSG) angeordneten
Sachaufklärung in Gestalt der Einholung eines Befundberichts des
Dr. B. vom 19. August 198U und des nach zweitägiger sta-
tionärer Untersuchung der Klägerin erstatteten nervenfachärztli-
chen Gutachtens des Dr. F. vom 22. Januar 1985 einen An-
trag auf ergänzende Ermittlungen zu stellen, soweit ihr solche
erforderlich erschienen. Hierzu bestand insbesondere deshalb be-
sonderer Anlaß, weil das LSG dem Sachverständigen im Beweisbe-
schluß auch die Frage gestellt hatte, ob zur Klärung des medizi-
nischen Sachverhalts weitere Ermittlungen erforderlich seien, und
der Sachverständige diese Frage am Ende seines Gutachtens ver-
neint hatte. Spätestens bei Kenntnisnahme des Gutachtens mußte
die Klägerin daher auf eine etwa von ihr noch begehrte weitere
Beweiserhebung hinweisen. Da sie dies nicht getan hat, hat sie
einen Beweisantrag, über den das LSG iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG
hätte hinweggehen können, nicht mehr gestellt. Zur Beschwerdebe-
gründung hätte die Klägerin deshalb im einzelnen darlegen müssen,
daß und inwiefern für das LSG erkennbar ihr Beweisantrag aus der
Berufungsbegründungschrift durch die vom LSG angestellten Er-
mitlungen nicht erledigt war und somit bei der Entscheidung über
ihre Berufung ohne hinreichende Begründung übergangen worden ist.
Solche Darlegungen läßt die Beschwerdebegründung jedoch vermis-
sen.

Mangels der erforderlichen Erfolgsaussicht mußte daher das Gesuch

- 4 -

der Klägerin um Gewährung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung
ihres Prozeßbevollmächtigten abgelehnt werden. Zugleich war die
nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form begründete Be-
schwerde in entsprechender Anwendung des § 169 SGG durch Beschluß
ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter wegen Formmangels als
unzulässig zu verwerfen (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nrn 1 und 5;
BVerfG aaO Nr 30).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des
§ 193 SGG.

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BGH, IVA ZR 318/86 vom 03.06.1987, Bundesgerichtshof
BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS

IVa ZR 318/86

in dem Rechtstreit

des Handelsvertreter Joachim N. , W. Straße 61,

Klägers und Revisionsklägers,

- Prozeßbevollmächtigter Rechtsanwalt Dr. -

gegen

die S. Lebenversicherungs- und Rentenanstalt,

Versicherungsgenossenschaft auf Gegenseitigkeit, vertreten

durch den Hauptbevollmächtigten Dipl. Math. Günther H.,

L. straße 8-10, ,M. ,

Beklagte und Revisionsbeklagte,

- Prozeßbevollmächtigten Rechtsanwälte Dr. und

II. Instanz: Partner, S. Ring 18, H. -

- 2 -

er IVa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den

Vorsitzenden Richter Dr. H. und die Richter R.,

D., Dr. S. und Dr. R.

am 3. Juni 1987

beschlossen

Der Antrag des Klägers auf Prozeßkostenhilfe
wird abgelehnt.

Gründe

Der Kläger ist rechtsschutzversichert; sein Versicherer
verweigert die Deckung der Revisionskosten lediglich deshalb,
weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine Aussicht auf
Erfolg biete. In einem solchen Fall kann Prozeßkostenhilfe
nicht gewährt werden. Sollte der Rechtsschutzversicherer die
Prozeßaussichten zutreffend beurteilt haben, so wäre nach
§ 114 Satz 1 ZPO auch die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe
ausgeschlossen. Falls aber der Versicherer die Erfolgsaus-
sicht zu Unrecht verneint haben sollte, kann vom Antragstel-
ler erwartet werden, daß er seinen Prozeßbevollmächtigten

- 3 -

mit einem Stichentscheid nach § 17 Abs. 2 ARB beauftragt. Ei-
ne finanzielle Belastung ist für ihn damit nicht verbunden,
da die Kosten des Stichentscheids auch dann zu Lasten des
Rechtsschutzversicherers gehen, wenn der Anwalt dem Rechts-
mittel keine Erfolgschancen zubilligen sollte.

Dr. H. D.

Nachschlagewerk: ja

BGHZ: nein

ZPO § 114

Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen einer Partei
Prozeßkostenhilfe gewährt werden kann, wenn ihr Rechts-
schutzversicherer die Kostendeckung wegen mangelnder Er-
folgsaussicht ablehnt.

BGH, Beschl.v. 3. Juni l987 - IVa ZR 318/86 -

- 1 -

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS

IVa ZR 318/86

in dem Rechtstreit

des Handelsvertreter Joachim N. , W. Straße 61,

Klägers und Revisionsklägers,

- Prozeßbevollmächtigte Rechtsanwältin als Ab-

wicklerin der Kanzlei des ver-
storbenen Rechstanwalts

Dr. -

gegen

die S. Lebenversicherungs- und Rentenanstalt,

Versicherungsgenossenschaft auf Gegenseitigkeit, vertreten
durch den Hauptbevollmächtigten Dipl. Math. Günther H.,
L. straße 8-10, ,M. ,

Beklagte und Revisionsbeklagte,

- Prozeßbevollmächtigten Rechtsanwälte Dr.

- 2 -

Der IVa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den
Vorsitzenden Richter Dr. H. und die Richter R.,
, Dr. L. , D. und Dr. Z.

am 13. Januar 1988

beschlossen

Die Revision des Klägers gegen das Urteil

des 20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts

in Hamm vom 5. Dezember 1986 wird nicht

angenommen.

Der Kläger trägt die Kosten der Revision.

Gründe

Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die
Revision verspricht keine Erfolg.

Der Senat versteht die rechtsfehlerfreien tatsäch-
lichen Feststellungen des Berufungsgerichts dahin, daß
beim Kläger bereits im Mai 1984 ein Zustand vorlag, der
bei rückschauender Betrachtung eine Wiederherstellung
einer (zumindest halben) Arbeitskraft innerhalb abseh-

- 3 -

barer Zeit nach de Stand der Wissenschaft nicht mehr zu-
ließ. Infolgedessen kommt es auf die im Berufungsurteil
erörterte Frage, ob die Bedingungen der Beklagten eine
Prognose darüber verlangen, für welchen Zeitraum der Ver-
sicherte voraussichtlich krankheitsbedingt an der Aus-
übung seines Berufs gehindert ist, nicht an.

Dr. H. R. Dr. L.

D. Dr. Z.

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BGH, IV ZR 214/88 vom 17.01.1990, Bundesgerichtshof
BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

IV ZR 214/88 URTEIL

verkündet am:

17. Januar 1990

Keller

Justizassistentin

als Urkundsbeamter

der Geschäftsstelle



in dem Rechtsstreit

der C ge-
setzlich vertreten durch den Vorstand, K. -Allee

H

Beklagten und Revisionsklägerin,

— Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt

gegen

Herrn Theo K , Alte H. , N

Kläger und Revisionsbeklagten,

- Prozeßbevollmächtigter Rechtsanwalt als Ab-
wickler für die Kanzlei

- 2 -

Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch
den Vorsitzenden Richter B. und die Richter D.,
Dr. S., Dr. Z. und Dr. R. auf die münd-
liche Verhandlung vom 17. Januar 1990
für Recht erkannt:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil
des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts
Celle vom 15. Juni 1988 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisions-
verfahrens.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Die Parteien streiten darum, ob die Beklagte dem Kläger
vertraglichen Rechtsschutz in einem gegen die Muttergesell-
schaft der Beklagten geführten Prozeß auch für die Beru-
fungsinstanz zu gewähren hat. Sie gehen übereinstimmend da-
von aus, daß dem zwischen ihnen bestehenden Versicherungs-
verhältnis die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz-
versicherung (ARB) zugrunde liegen. Für den ersten Rechtszug
des gegen den Unfallversicherer des Klägers geführten Pro-
zesses hatte die Beklagte Rechtsschutz gewährt. Die Klage
ist abgewiesen worden. Mit ihrer Ablehnung, auch für das Be-
rufungsverfahren eine Kostenzusage zu geben, stellte es die
Beklagte dem Kläger anheim, einen für beide Teile verbindli-

- 3 -

chen Stichentscheid eines Rechtsanwaltes seines Vertrauens
gemäß § 17 Abs. 2 ARB herbeizuführen. Nach Erhalt eines die
Erfolgsaussicht der Berufung bejahenden Schreibens des Beru-
fungsanwaltes des Klägers vom 5. Februar 1987 und erneut
nach Erhalt einer Kopie der Berufungsbegründung vom 11. Fe-
bruar 1987 blieb die Beklagte jeweils bei ihrer Ablehnung,
die erbetene Kostenzusage zu geben. Nach ihrer Ansicht liegt
ein wirksamer, sie bindender Stichentscheid im Sinne des
§ 17 Abs. 2 ARB nicht vor.

Zu dem Prozeß gegen den Unfallversicherer des Klägers
ist es gekommen, weil der Kläger nach der Teilnahme an einer
Wanderung am Himmelfahrtstage 1985, auf der an drei ver-
schiedenen Rastplätzen Bier getrunken worden war, auf der
Heimfahrt als Beifahrer auf dem Soziussitz des von Oliver
G , einem Mitglied der Wandergruppe, geführten Mo-
torrades verunglückte. Zur Unfallzeit betrug die Blutalko-
holkonzentration bei dem Fahrer 1,54 und bei dem Kläger
2,87 g ‰. Klage und Berufung des Klägers sind ab- bzw.
zurückgewiesen worden mit der Begründung, der Kläger habe
seinen Unfall durch eine alkoholbedingte Bewußtseinsstörung
verursacht.

Im anhängigen Verfahren ist dem Klagebegehren auf Ge-
währung von Rechtsschutz in den beiden Vorinstanzen stattge-
geben worden. Mit ihrer - zugelassenen — Revision verfolgt
die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiter.

- 4 -

Entscheidungsgründe:

Das Berufungsgericht hat das Schreiben des Rechtsanwal-
A vom 5. Februar 1987 als eine beide Parteien
bindende Stellungnahme im Sinne des § 17 Abs. 2 ARB gewer-
tet. Die Ausführungen, die das Berufungsgericht zu den An-
forderungen gemacht hat, denen eine derartige Stellungnahme
formell und inhaltlich entsprechen muß, treffen zu.

1.a) Dem Rechtsanwalt, der gemäß § 17 Abs. 2 ARB tätig
wird, obliegt in der Funktion eines Schiedsgutachters die
Aufgabe, die "Notwendigkeit" der Interessenwahrnehmung von
Seiten des Versicherungsnehmers dem Streit der (Vertrags-)
Parteien zu entziehen (Harbauer, Rechtsschutzversicherung
3. Aufl. § 17 Rdn. 14). Gemäß § 1 Abs. 1 ARB ist die Inter-
essenwahrnehmung notwendig nur, "wenn sie hinreichende Aus-
sicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint." Mit
dieser wortgetreuen Übernahme der sachlichen Voraussetzungen
für die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe, die folgerichtig
in § 17 Abs. 2 ARB wiederholt wird, haben die Rechtsschutz-
versicherer klargestellt, daß die Notwendigkeit der Wahrneh-
mung rechtlicher Interessen im Rahmen einer Rechtsschutzver-
sicherung nur und erst dann zu bejahen ist, wenn bei dem ge-
gebenen Sachverhalt einer Partei, die nach ihren persönli-
chen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten einer
Prozeßführung (ganz oder teilweise) nicht aufzubringen ver-
mag, Prozeßkostenhilfe zu gewähren wäre. Die Anforderungen
an die Erfolgsaussicht, zu der in einem Stichentscheid gemäß
§ 17 Abs. 2 ARB Stellung zu nehmen ist, sind demnach nicht
niedriger als in einem Prozeßkostenhilfeverfahren (a.A. Har-
bauer, aaO § 1 Rdn. 33). Diesen Maßstab hat der Berufungsan-

- 5 -

walt des Klägers indes nicht verkannt; er hat auf hinrei-
chende Erfolgsaussicht der Berufung abgestellt und diese be-
jaht.

b) Da gemäß § 17 Abs. 2 ARB eine begründete Stellung-
nahme zu der Notwendigkeit einer Wahrnehmung rechtlicher In-
teressen abzugeben ist, ist der Rechtsanwalt gehalten, die
Grundlagen seiner gutachterlichen Entscheidung und den Weg,
auf dem er zu ihr gelangt ist, aufzuzeigen; er hat deshalb
grundsätzlich den entscheidungserheblichen Streitstoff dar-
zustellen, anzugeben, inwieweit für bestrittenes Vorbringen
Beweis oder Gegenbeweis angetreten werden kann, die sich er-
gebenden rechtlichen Probleme unter Berücksichtigung von
Rechtsprechung und Rechtslehre herauszuarbeiten und das nach
seiner Ansicht bestehende (Prozeß—)Risiko aufzuzeigen, d.h.
sich auch mit etwa vorhandenen Argumenten auseinanderzuset-
zen, die gegen eine Erfolgsaussicht sprechen. Dabei ist es
von nachrangiger Bedeutung und weitgehend von den Besonder-
heiten des Einzelfalles abhängig, in welche Form der Anwalt
seine Stellungnahme kleidet und wie umfänglich er sie ge-
staltet und dabei auf die vom Rechtsschutzversicherer ange-
meldeten Bedenken eingeht. Das ist abhängig vom Umfang oder
von der Komplexität des Streitstoffes, von dem Stand der
vorangegangenen Korrespondenz mit dem Rechtsschutzversiche-
rer und seiner dadurch begründeten Vorkenntnis, ferner von
dem Stadium, in dem sich die Interessenwahrnehmung jeweils
befindet.

c) Der Inhalt und nicht die Form einer Stellungnahme
bleibt stets primär maßgebend dafür, ob sie den Anforderun-
gen an eine begründete Bejahung hinreichender Erfolgsaus-

- 6 -

sicht genügt; deshalb sind auch - jedenfalls zeitnahe – Er-
gänzungen einer Stellungnahme, in der noch nicht auf alle
für die Beurteilung der Notwendigkeit einer Wahrnehmung
rechtlicher Interessen eine Rolle spielenden Gesichtspunkte
umfassend eingegangen worden war, zulässig und rechtlich be-
achtlich. Um eine derartige Ergänzung zur Stellungnahme vom
5. Februar 1987 handelt es sich bei der unter dem 11. Febru-
ar 1987 gefertigten Berufungsbegründung, die der Beklagten
am 18. Februar 1987 zugegangen ist. Daß der Berufungsanwalt
des Klägers hiermit seine bisherigen Ausführungen zur hin-
reichenden Erfolgsaussicht der Berufung ergänzen und unter-
mauern wollte, war auch für die Beklagte unübersehbar. Sie
hatte ihm in ihrem ersten Ablehnungsschreiben vom 2. Dezem-
ber 1986 unter anderem mitgeteilt: "Um ein Berufungsverfah-
ren mit einiger Aussicht auf Erfolg durchführen zu können,
müßten hier unseres Erachtens zumindest Zeugen dafür benannt
werden, daß für unseren Versicherungsnehmer auch in nüchter-
nem Zustand keineswegs erkennbar gewesen wäre, daß Herr Gl
alkoholbedingt fahruntüchtig war. Dies erscheint
uns nach dem bisher bekannten Sachverhalt nicht möglich zu
sein."

In seiner Stellungnahme vom 5. Februar 1987 hatte
Rechtsanwalt A. die Ansicht vertreten, die Kausalitätsfrage
sei nur noch am Rande von Bedeutung, weil im Berufungsver-
fahren eine andere Beurteilung der alkoholbedingten Bewußt-
seinsstörung des Klägers erwartet werden dürfe. Er hatte da-
zu aufgezeigt, was sein Mandant gegen die Annahme des Land-
gerichts anführen könne, er sei bei Fahrtantritt alkoholbe-
dingt bewußtseinsgestört gewesen. Mit der umgehend nachge-
reichten Berufungsbegründung verdeutlichte er der Beklagten

- 7 -

dann zum einen, daß der Kläger auch Beweis anbieten könne
für diese Behauptung, und führte ihr zum anderen nunmehr
auch vor Augen, daß der Kläger auch zur Entkräftung der vom
Landgericht bejahten Kausalität einer alkoholbedingten Be-
wußtseinsstörung für den Fahrtantritt mit einem absolut
fahruntüchtigen Motorradfahrer und damit für den Unfall noch
nicht erhobenen Beweis angetreten hatte.

Ist bestrittenes Vorbringen, mit dem die Rechtsverfol-
gung oder die Rechtsverteidigung begründet werden soll, un-
ter Beweis gestellt, ohne daß sich auf Anhieb sagen ließe,
dieses Vorbringen sei mit der jeweils verfolgten Wahrnehmung
rechtlicher Interessen schlechterdings nicht in Zusammenhang
zu bringen, oder hat der Versicherungsnehmer gegen eine ihm
ungünstige Feststellung in einem Urteil, das er angreifen
will, Beweis angetreten, so bindet die hierauf in einem
Stichentscheid gestützte Bejahung von Erfolgsaussicht die
Parteien des Rechtsschutzversicherungsvertrages, solange
nicht derjenige, der die Bindungswirkung anzweifelt, be-
weist, daß die Stellungnahme "offenbar von der wirklichen
Rechtslage erheblich abweicht." Keine Rolle spielt es bei
der Beurteilung, ob der Stichentscheid ausreichend begründet
worden ist bzw. ob er offenbar erheblich von der wirklichen
Rechtslage abweicht, daß die beabsichtigte Rechtsverfolgung
oder Rechtsverteidigung tatsächlich Erfolg hatte. wie im
Prozeßkostenhilfeverfahren ist nur eine ex ante-, nicht eine
ex post-Beurteilung erlaubt, d.h. es ist unter anderem uner-
heblich, zu welchem Ergebnis spätere Beweisaufnahmen geführt
haben.

d) Für ihre Ansicht, die zeitnah und zu Beginn des Be-
rufungsverfahrens gegen den Unfallversicherer nachgereichte

— 8 —

Berufungsbegründung sei keine beachtliche Ergänzung der ur-
sprünglichen Stellungnahme vom 5. Februar 1987, kann sich
die Beklagte nicht auf die in VersR 1980, 671 veröffentlich-
te Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm berufen. Auch
wenn die Annahme dieses Gerichts zutreffen sollte, es bleibe
kein Raum mehr für ein Verfahren gemäß § 17 Abs. 2 ARB, wenn
dem Rechtsschutzversicherer erstmalig nach Abschluß eines
gerichtlichen Verfahrens von einer auf diesem Wege verfolg-
ten Wahrnehmung rechtlicher Interessen Mitteilung gemacht
worden sei, besagt dies nichts dazu, ob eine zeitgerechte
Stellungnahme zu ihrer Begründung gemäß § 17 Abs. 2 ARB
zeitnah durch weitere Schriftstücke ergänzt werden darf.

Ebensowenig einschlägig ist der Beschluß des erkennenden Se-
nates vom 3. Juni 1987 - IVa ZR 318/86 - VersR 1987, 978; er
besagt nur, daß es einer Partei, deren Rechtsschutzversiche-
rer eine Kostenzusage mangels Erfolgsaussicht abgelehnt hat,
zuzumuten ist, einen Stichentscheid gemäß § 17 Abs. 2 ARB
herbeizuführen, so daß ihr nicht stattdessen Prozeßkosten-
hilfe bewilligt werden kann.

2.a) Den ihr obliegenden Beweis offenbar erheblichen
Abweichens des Stichentscheids von der wirklichen Rechtslage
hat die Beklagte nicht geführt. Zu Recht bezweifelt auch die
Beklagte nicht, daß eine alkoholbedingte Bewußtseinsstörung
des Klägers (bzw. deren Fehlen oder deren Nichterweislich-
keit) und die Kausalität dieser Bewußtseinsstörung für den
Unfall maßgeblich sind und waren zur Beurteilung hinreichen-
der Erfolgsaussicht der Berufung gegen das Urteil, mit dem
Ansprüche gegen den Unfallversicherer abgewiesen worden wa-
ren. Was den juristischen Ausgangspunkt betrifft, den
Rechtsanwalt A. für seinen Stichentscheid gewählt hatte,

- 9 -

kommt demnach ein Abweichen von der wirklichen Rechtslage
nicht in Betracht.

b) Es ging in dem Prozeß gegen den Unfallversicherer
allein darum, ob sich der Kläger nur und gerade wegen einer
alkoholbedingten Bewußtseinsstörung einem absolut fahrun-
tüchtigen Motorradfahrer anvertraut hatte; es ging dagegen
nicht um ein alkoholbedingtes unfallursächliches Verhalten
des Klägers während der Fahrt. In zutreffender Berücksichti-
gung der Senatsrechtsprechung (vgl. Urteil vom 27. Februar
1985 — IVa ZR 96/83 - VersR 1985, 583 unter II) hatte das
Erstgericht nicht allein aufgrund der erwiesenen Blutalko-
holkonzentration von 2,87 g ‰ eine alkoholbedingte Be-
wußtseinsstörung im Sinne des in § 3 Abs. 4 der Allgemeinen
Unfallversicherungsbedingungen (AUB) enthaltenen Risikoaus-
schlusses bejaht; es hatte seine Überzeugung - ein An-
uscheinsbeweis kam nicht in Betracht (vgl. dazu auch Senats-
urteil vom 24. Februar 1988 — IVa ZR 193/86 unter 2 – VersR
1988, 733) — zusätzlich aus den Feststellungen hergeleitet,
die der den Kläger nach dem Unfall behandelnde Arzt getrof-
fen hatte. In seiner Stellungnahme vom 5. Februar 1987 zeig-
te Rechtsanwalt A. auf: Die ärztliche Feststellung, die
Atemluft des Klägers habe deutlich nach Alkohol gerochen,
sage über den Grad seiner erwiesenen Alkoholisierung nichts
aus; ein sogenanntes Alkoholdelirium, das während des Kran-
kenhausaufenthaltes aufgetreten sein soll, sei ebenfalls oh-
ne Aussagewert für die Alkoholisierung des Klägers bei
Fahrtantritt am Himmelsfahrttag, weil damit Entzugserschei—
nungen während des stationären Aufenthaltes angesprochen
seien, deren Auftreten gerade die Behauptung des Klägers un-
termauerten, er sei besonders alkoholgewohnt; der Anwalt bot

- 10 -

- zumindest in Verbindung mit der Berufungsbegründung – Be-
weis durch den Arzt an, der dem Kläger das Blut entnommen
hatte, daß der Kläger bei der Blutentnahme eine deutliche
Sprechweise, ein beherrschtes Verhalten, eine unauffällige
Stimmung mit klarer Bewußtseinslage und geordneten Denkab-
läufen gezeigt habe. Unter diesen Umständen wich sein wer-
tungsergebnis, er messe einer hierauf gestützten Berufung
hinreichende Erfolgsaussicht bei, nicht offenbar erheblich
von der wirklichen Rechtslage ab. Die Feststellung alkohol-
bedingter Bewußtseinsstörung verlangt, wo es nicht nur um
Fahruntüchtigkeit geht, ausnahmslos eine am Einzelfall ori-
entierte, alle in Betracht kommenden Indizien einschließende
Beweiswürdigung. Es ging bei der Feststellung einer alkohol-
bedingten Bewußtseinsstörung des Klägers auch nicht um einen
Anscheins-, sondern um Vollbeweis.

c) Die Bejahung hinreichender Erfolgsaussicht der Beru-
fung weicht auch nicht offenbar erheblich von der wirklichen
Rechtslage ab, soweit sie zusätzlich daraus hergeleitet wur-
de, daß der Kläger in der Berufungsbegründung auch Beweis
gegen die im ersten Urteil bejahte Kausalität seiner Alkoho-
lisierung für den Unfall angetreten hatte. Es war Sache des
Unfallversicherers zu beweisen, daß der Kläger ohne seine
alkoholische Beeinflussung mit Rücksicht auf die ihm dann
erkennbar gewordene oder sich ihm dann zumindest aufdrängen-
de Fahruntüchtigkeit des Motorradfahrers, dem äußerlich bei
Fahrtantritt eine Alkoholisierung nicht anzumerken war, Ab-
stand genommen hätte von einem Mitfahren. Alles, was der
Kläger gegen die Berechtigung einer solchen Annahme anführen
und unter Beweis stellen konnte, war grundsätzlich geeignet,
seinen Anspruch zu stützen. Die Berücksichtigung dieses Vor-

- 11 -

bringens in dem Stichentscheid bei der Bejahung hinreichen-
der Erfolgsaussicht konnte demnach ebenfalls nicht dazu füh-
ren, daß dieser erheblich und offenbar von der wirklichen
Rechtslage abwich.

Das Feststellungsbegehren des Klägers ist begründet.

B. D. Dr. S.

Dr. Z. Dr. R.

Nachschlagewerk: ja

BGHZ: nein

BGHR: ja

AVB f. Rechtsschutzvers. (ARB) § 17 Abs. 2

Zu den Anforderungen an eine Stellungnahme gemäß § 17 Abs. 2

ARB (Stichentscheid).

BGH, Urteil vom 17. Januar 1990 — IV ZR 214/88 — OLG Celle

LG Hannover

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BSG, IV ZB 5/90 vom 04.10.1990, Bundesgerichtshof
BUNDESGERICHTSHOF

IV ZB 5/90

Beschluss in dem Rechtsstreit

- 2 -

Der IV Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch
den vorsitzenden Richter B. und die Richter R.
, Dr. S. , Dr. Z. und R.

am 4. Oktober 1990

beschlossen:

Auf die sofertige Beschwerde des Beklagten wird
der Beschluß des 7. Zivilsenats des Ober1andes-
gerichts Stuttgart vom 21. Juni 1990 zu Nr. 2 und
3 aufgehoben.

Dem Beklagten wird wegen Versäumung der Berungs-
frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-
währt.

Die Kosten der Wiedereinsetzung einschließlich
der Kosten des Beschwerdevertfahrens nach einem
Beschwerdewert von 40.304,15 DM trägt der Be-
klagte.

Gründe

Das dem Rückzahlungsantrag des Klägers stattgebende Ur-
teil des Landgerichts ist dem Anwa1t des Beklagten am
5. März 1990 zugestellt werden. Mit Schriftsatz vom·30. März
1990, der beim Berufungsgericht am 2. April 1990 eingegangen
ist, beantragte der Beklagte für die Berufung gegen dieses

- 3 -

Urteil Prozeßkostenhilfe unter Vorlage der erforderlichen
Belege und Darlegung der beabsichtigten Berufungsbegründung.
Seine Rechtsschutzversicherung, die lediglich für die erste
Instanz Deckung zugesagt hatte, unterrichtete er am gleichen
Tage in gleicher Weise. Diese antwortete ihm, daß sie vor
Ablauf der Berufungsfrist die Frage der Deckungszusage für
die Berufungsinstanz nicht entscheiden werde. Mit Schreiben
vom 12., dem Anwalt des Klägers zugegangen am 19. April 1990
gewährte sie dann Deckungsschutz. Daraufhin legte der Be-
klagte am 23. April 1990 Berufung ein, begründete diese
gleichzeitig und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand.

Das Berufungsgericht hat durch den angefochtenen Be-
schluß

1. den Antrag auf Prozeßkostenhilfe zurückgewiesen,

2. den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und

3. die Berufung verworfen.

Gegen die Nr. 2 und 3 dieses Beschlusses wendet sich der Be-
klagte mit seiner fristgerecht eingelegten sofortigen Be-
schwerde. Diese hat Erfolg.

Das Berufungsgericht meint, der Beklagte habe bei
Durchführung der ihm und seinem Prozeßbevollmächtigten zu-
mutbaren Maßnahmen die Deckungszusage so rechtzeitig erhal-
ten können, daß er fristgerecht Berufung habe einlegen kön-
nen. Diese Begründung ist rechtsfehlerhaft.

- 3 -

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtsho-
fes ist ein Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmit-
tel- oder Rechtsmittelbegründungsfrist die Bewilligung von
Prozeßkestenhilfe beantragt hat, bis zur Entscheidung über
den Antrag so lange als ohne sein Verschulden an der Einle-
gung oder Begründung des Rechtsmittels verhindert anzusehen,
als er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht
mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftig-
keit rechnen muß (BGHZ 26, 99, 101; Beschlüsse vom 14.3.1984;
und 29.1.1985 - IVb ZB 114/83 und VI ZB 20/84 - FamRZ 1984,
677 unter II 1a und VersR 1985, 395 unter 1). Erst dann,
wenn das Hindernis der Bedürftigkeit entfallen ist, wenn
z.B. die anfängliche Armut des Rechtsmittelführers, durch nun
erlangtes Arbeitseinkommen wegfällt, muß er mit der Ableh-
dnung seines Antrages auf Prozeßkostenhilfe rechnen (BGH, Be-
schluß vom - 13.7.1988 - IVb ZR 19/88 - BGHR ZPO § 234 Abs. 2
Prozeßkestenhi1fe 2 = FamRZ 1988, 1153). Erst dann ist ihm
zuzumuten, die Berufung einzulegen, wofür ihm gegebenenfalls
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. So
liegt es hier. Erst mit dér Deckungssusage des Re¢htsschutz-
versicherers entfiel das Hindernis der Bedürftigkeit, dessen
Vorliegen der Beklagte mit seinem Antrag auf Prozeßkosten-
hilfe und den dazu eingereichten Unterlagen ordnungsgemäß
dargetan hatte.

Allerdings hat der Senat entschieden, daß Prozeßkosten-
hilfe nicht gewährt werden kann, wenn der Rechtsscbutzversi-
cherer die Deckung wegen fehlender Erfolgsaussicht des
Rechtsmittels verweigert (Beschluß vom 3.6.1987 - IVa ZR
318/86 - BGHR ZPO § 114 Abs. 1. Rechtschutzversicherung 1 =
VersR 1987, 978). Bei zutreffender Beurteilung der mangeln

- 5 -

den) Erfolgsaussicht durch den Rechtsschutzversicherer ist
ohnehin nach S 114 Satz 1 ZPO die Bewilligung von Prozeßko-
stenhilfe ausgeschlossen (vgl. Senatsurteil vom 16.9.1987
- IVa ZR 76/86 - BGHR ZPO § 114 Abs. 1 Satz 1 Erfolgsaus-
sicht 1 = VersR 1987, 1186, dazu Bauer, VersR 1988, 174).
Einer unrichtigen Beurteilung der Erfolgsaussicht kann der
Rechtsmittelführer durch den Stichentscheid gemäß S 17
Abs. 2 der Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzver—
sicherung (ARB) entgegentreten.

Das besagt jedoch nichts zur Frage der Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand. Derjenige, der die Kosten seines
Rechtsmittels nicht aufbringen kann, darf wie ein anderer
die Frist für die Einlegung oder Begründung des Rechtsmit-
tels bis zum letzten Tag ausnutzen; er darf also noch am
letzten Tag der Frist die Entscheidung treffen, ob er das
Rechtsmittel einlegen will, und braucht erst dann den aller-
dings vollständigen Antrag auf Prozeßkostenhilfe einzurei-
chen (BGHZ 16, 1 und 38, 376). Daran kann sich nichts da-
durch ändern, daß er rechtsschutzversichert und auf das Ver-
fahren gemäß § 17 ARB angewiesen ist. Der Stichentscheid ge-
mäß § 17 Abs. 2 ARB setzt die vorausgegangene Verneinung der
Leistungspflicht seitens des Rechtsschutzversicherers vor-
aus. Solange dieser sich nicht entschieden hat, ist für ei-
nen Stichentscheid kein Raum. Es liegt auf der Hand, daß
dieses Verfahren - zunächst die Entscheidung des Rechts-
schutzversicherers über die Erfolgsaussicht, dann gegebenen-
falls der Stichentscheid - eine gewisse Zeit erfordert. Die-
ser Zeitraum muß dem Rechtsmittelführer, der rechtsschutz-
versichert ist, ohne Rechtsnachteil zur Verfügung stehen. Er
darf, wenn er im übrigen die wirtschaftlichen Voraussetzun-

- 6 -

gen für die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe erfüllt nicht
wegen der Rechtsschutzversicherung schlechtergestellt werden
den als die übrigen Rechtsmittelführer.

Danach ist dem Beklagten mit der Kostenfolge § 238
Abs. 4 ZPO Wiedereinsetzung zu gewähren.

B. Dr. Z.

Nechschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja

Für einen rechtsschutzversicherten Rechtsmittelführer, der die
die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von
Prozeßkostehhilfe im übrigen erfüllt, entfällt das Hindernis
der Bedürftigkeit erst mit der Deckunugszusage seines Rechts-
schutzversicherers.

BGH, Beschl. v. 4. Oktober 1990 - IV ZB 5/90 - OLG Stuttgart
LG Rottweil


Faksimile 1 2 3 4 5 6 Leitsatz

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BSG, 3 RK 3/82 vom 23.03.1983, Bundessozialgericht
BSGE 55, 37, 38 ff [BSG 23.03.1983 - 3 RK 3/82] = SozR 2200 § 194 Nr 10



Bundessozialgericht



3 RK 3/82



Verkündet am

23. März 1983



Im Namen des Volkes



Urteil



in dem Rechtsstreit



Klägerin und Revisionsklägerin,

Prozeßbevollmächtigte:



gegen



Beklagte und Revisionsbeklagte,

Prozeßbevollmächtigter:



Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche

Verhandlung vom 23. März 1983



für Recht erkannt:



Auf die Sprungrevision der Klägerin wird das Urteil des

Sozialgerichts Dortmund vom 28. September 1981 aufgehoben.



Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das

Sozialgericht zurückverwiesen.



- 2 -



Gründe:



I



Die Klägerin begehrt die Erstattung von Krankentransportkosten.



Die Klägerin wohnt in D. und ist Mitglied der Beklagten. Am

27. April 1980 erlitt sie während ihres Urlaubs im Sauerland

einen Unterschenkelbruch rechts. Sie wurde zum nächstgelegenen

Krankenhaus, dem M. -H. -Krankenhaus in W. gefahren.

Dort wurde vom Chefarzt Dr. K. (K.) die Reposition

durchgeführt und ein Transportgips angelegt. Die Klägerin wurde

am selben Tag noch liegend ins Knappschaftskrankenhaus D.

transportiert. Für diese Fahrt stellte der Kreis S. 468,-- DM

in Rechnung, die die Klägerin beglich.



Die Übernahme der Kosten für die Fahrt von W. nach D.

lehnte die Beklagte am 7. Oktober 1980 ab. Mit ihrem Widerspruch

machte die Klägerin geltend, sie sei Mutter eines vierjährigen

Kindes. Ihm wäre es wegen der Dauer einer Reise von D. nach

W. (über BO km) praktisch nicht möglich gewesen, die Klä-

gerin regelmäßig zu sehen. Eine Trennung von Mutter und Kind

wirke sich unter Berücksichtigung der psychosomatischen Zusam-

menhänge auch für den Genesungsprozeß der Mutter äußerst nach-

teilig aus.



Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Sozialgericht



- 3 -



(SG) hat ausgeführt, der Transport der Klägerin von W. nach

D. sei nicht durch die Art und Weise der erforderlichen

Krankheitsbehandlung bedingt gewesen. Die erforderliche, medizi-

nisch ausreichende und zweckmäßige Krankenhauspflege wäre im

M. -H. -Krankenhaus gesichert gewesen. Medizinisch erforder-

lich sei die Verlegung nach D. auch nicht deshalb gewesen,

weil das Verbleiben der Klägerin in W. zu psychischen

Störungen mit Krankheitswert bei dem Kind hätte führen können.

Die Möglichkeit des Eintritts einer Krankheit bei einem anderen

könne die medizinische Notwendigkeit im Hinblick auf die zu

behandelnde Krankheit des Versicherten nicht beeinflussen. Am

27. April 1980 hätten auch konkrete Hinweise darauf gefehlt, daß

die sofortige Verlegung nach D. die medizinisch einzig

geeignete Maßnahme zur Sicherstellung des Genesungsprozesses der

Klägerin gewesen wäre. Vielmehr habe der verantwortliche Chefarzt

mitgeteilt, daß eine medizinische Notwendigkeit zur Verlegung

nicht bestanden habe. Diese Notwendigkeit werde auch nicht durch

das kassenarztrechtlich vorgesehene Formular der Anordnung des

Krankentransports bestätigt, denn darin gehe es nicht um die

Frage, ob die Verlegung erforderlich sei, sondern um deren Art

und Weise. Zwar behaupte die Klägerin, das Krankenhaus habe die

Verlegung veranlaßt. Es sei aber jedenfalls nicht Aufgabe der

Krankenkasse, Kosten einer nicht medizinisch bedingten Verlegung

zu tragen. Medizinische Gründe für die Verlegung habe Dr. K.

ausdrücklich verneint.



Die Klägerin hat Sprungrevision eingelegt und macht geltend, das

kassenarztrechtlich vorgesehene Formular bestätige die Notwen-



- 4 -



digkeit der Verlegung. Auch sei der Transport der Klägerin not-

wendig gewesen wegen der gesundheitlichen Gefährdung von Mutter

und und und der Beeinträchtigung des Genesungsprozesses durch

die Trennung zwischen beiden.



Die Klägerin beantragt sinngemäß,



die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des

Sozialgerichts Dortmund vom 28. September 1981

und der Bescheide vom 7. Oktober 1980 und

3. Februar 1981 zu verurteilen, an sie 468,-- DM

nebst 4 % Zinsen ab 1. März 1981 zu zahlen.



Die Beklagte beantragt,



die Revision zurückzuweisen.



II



Die Revision ist im Sinn der Zurückverweisung der Sache an das

SG zu neuer Verhandlung und Entscheidung begründet. Anhand der

im angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen des SG kann

der Senat nicht abschließend entscheiden, ob die angefochtenen

Bescheide rechtmäßig sind, und cb der Anspruch der Klägerin be-

steht.



Nach § 194 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) übernimmt die

Beklagte die im Zusammenhang mit der Gewährung einer Leistung

der Krankenkasse erforderlichen Fahrkosten für den Versicherten.



- 5 -



Der Anspruch aus § 19A Abs 1 RV0 setzt voraus, daß die Kassen-

leistung dem Versicherten an einem bestimmten Ort zu gewähren

ist und der Transport lediglich dazu dient, ihn zu diesem Ort zu

befördern (Urteil des Senats vom 28. März 1979 in BSGE NB, 139 =

SozR 2200 § 194 RVO Nr U). Aus den Feststellungen des SG ergibt

sich nicht, ob die Beklagte der Klägerin die Krankenhausbehand-

lung in diesem Sinn gerade im Knappschaftskrankenhaus in D.

zu gewähren hatte.



Die Gewährung der stationären Behandlung im Knappschaftskranken-

haus und die dafür erforderliche Fahrt nach D. sind nicht

von Dr. K. in einer für die Beklagten verbindlichen Weise

angeordnet worden. Mit Recht hat das SG die Frage offengelassen,

ob die Fahrt von W. nach D. Q von der Klägerin oder von

Dr. K. veranlaßt worden ist. Das SG hat bindend festgestellt,

Dr. K. habe die Verlegung jedenfalls nicht aus medizinischen

Gründen veranlaßt. Wenn der Arzt die Verlegung des Versicherten

von einem Krankenhaus in ein anderes aus medizinischen Gründen

veranlaßt, mag dies die Pflicht der Krankenkasse zur Übernahme

der Transportkosten auch dann nach sich ziehen, wenn die Gründe

objektiv nicht gegeben waren. Eine derartige Verpflichtung der

Krankenkasse ist zwar nicht ausdrücklich geregelt. Es liegt aber

nahe, sie dem Grundgedanken von Vorschriften wie § 20 Abs 5 des

Bundesmantelvertrages Ärzte (BMVÄ) vom 28. August 1978 zu ent-

nehmen. Nach § 20 Abs 5 BMVÄ bleibt bei der Verordnung von Kran-

kenhauspflege die Kostenverpflichtungserklärung gegenüber dem

Krankenhaus der Krankenkasse vorbehalten. Veranlaßt der Arzt in

Notfällen ausnahmsweise von sich aus die Aufnahme in ein



- 6 -



Krankenhaus, so hat er dieses in der Verordnung besonders zu be-

gründen. Aus der Vorschrift ergibt sich aber keinerlei Anhalts-

punkt dafür, daß ein Arzt durch seine Verordnung die Kasse zu

Leistungen verpflichten könnte, die er nicht im einzelnen für

medizinisch begründet hält.



Die Kosten des Transports von W. nach D. sind von der

Beklagten auch nicht schon deshalb zu tragen, weil Dr. K. die

ärztliche Notwendigkeit der Krankenfahrt festgestellt hat. Das SG

hat festgestellt, der Arzt treffe mit dem Formular keine

Anordnung hinsichtlich des "Ob" des Transports. Damit hat das SG

eine tatsächliche Feststellung getroffen, die mit der

Sprungrevision nicht angegriffen werden kann (§ 161 Abs 4

Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Die Klägerin bezieht sich in ihrer

Revisionsbegründung insoweit auf das Urteil des

Landessozialgerichts (LSG) Rheinland-Pfalz vom 24. Januar 1980

- L 5 K 46/79 -. Darin wird ausgeführt, Chefarzt Dr. M. habe den

Transport auf einem dafür vorgesehenen Formblatt angeordnet, und

die Anordnung beziehe sich nicht lediglich auf die Art des

Transports, sondern auch auf die Durchführung selbst; das

Formblatt sei nämlich als Nachweis der ärztlichen Anordnung für

die Krankenkasse bestimmt. Das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz

enthält insoweit tatsächliche Feststellungen, wobei es noch nicht

einmal vom gleichen Formblatt ausgeht wie im Fall der Klägerin.

Für den Rechtsstreit der Klägerin gegen die Beklagte sind die

Feststellungen des LSG Rheinland-Pfalz nicht verbindlich. Die

Auslegung der formularmäßigen Erklärung durch das SG läßt auch

keinen rechtlichen Fehler erkennen. Allerdings dient das



- 7 -



Formblatt dem Nachweis für die Krankenkasse. Das SG war aber

nicht an der Auslegung gehindert, daß es nur um den Nachweis der

angeordneten Art des Transports geht. Insoweit wird die Auslegung

durch die neuen Richtlinien über die Verordnung von

Krankenfahrten, Krankentransport- und Rettungsdienstleistungen

vom 26. Februar 1982 (BAnz Beilage 32 Seite 9) bestätigt. Darin

ist die Auswahl des Beförderungsmittels eingehend geregelt. Es

wird zwar auch bestimmt, daß Ausgangs- und Zielort der Fahrt

anzugeben sind. Die Richtlinien sehen aber keine Aussage des

Arztes über den Zweck und die Notwendigkeit der Fahrt vor.



Ein Anspruch der Klägerin auf Erstattung der Fahrkosten kann sich

aber aus einem anderen Rechtsgrund ergeben. Unter den

Krankenhäusern, mit denen Verträge über die Erbringung von

Krankenhauspflege bestehen, kann der Versicherte nach § 184 Abs 2

RVO wählen. Der Versicherte bestimmt mit dieser Wahl des Kran-

kenhauses allerdings nicht den Ort der Leistung in der Weise, daß

die Bestimmung die Pflicht der Krankenkasse zur Übernahme der

Kosten für die Fahrt dorthin nach sich zieht. Vielmehr hat er

selbst die Mehrkosten zu tragen, wenn er ohne zwingenden Grund

ein anderes ale eines der nächsterreichbaren Vertragskranken-

häuser in Anspruch nimmt (§ 184 Abs 2 Satz 2 RVO). Die Vorschrift

des § 184 Abs 2 Satz 2 RVO ist im vorliegenden Fall anwendbar.

Zu dem dieser Vorschrift im ambulanten Bereich entsprechenden

§ 368d Abs 2 RVO hat der Senat bereits entschieden, daß auch die

Kosten der Fahrt zum gewählten Arzt Mehrkosten in diesem Sinn

sind, soweit sie die Kosten der Fahrt zum nächsterreichbaren Arzt

überschreiten (BSG SozR 2200 § 368d RVO Nr N). Anderes



- 8 -



Krankenhaus iS des § 184 Abs 2 Satz 2 RVO ist allerdings in der

Regel das im Krankheitsfall zuerst aufgesuchte Krankenhaus.

Indessen ist kein durchschlagender Grund erkennbar, warum die

Vorschrift nicht auch im Fall des Krankenhauswechsels, der

Verlegung von einem Krankenhaus in ein anderes angewendet werden

soll. Die Klägerin hätte je nach Art des Unfalls genausogut

unmittelbar vom Unfallort nach D. gebracht werden können.

Nach der Interessenlage kann die - offenbar nur ambulante -

Erstversorgung in W. die Erstattung der Fahrkosten nach

D. nicht ausschließen.



Die Klägerin hat das Knappschaftskrankenhaus in D. "in

Anspruch genommen", selbst wenn die Verlegung dorthin allein von

Dr. K. oder durch andere Angestellte des W. Krankenhauses

veranlaßt werden sein sollte. Inanspruchnahme bedeutet keine

bewußt ausgeübte Wahl. Der Versicherte nimmt grundsätzlich das

Krankenhaus in Anspruch, in dem er sich behandeln läßt.



Die Feststellungen des SG reichen nicht aus für eine Entscheidung

darüber, ob für die Verlegung der Klägerin von W. nach

D. ein zwingender Grund gegeben war.



Zur Übernahme der Kosten für einen solchen Weitertransport ist

die Kasse nur verpflichtet, wenn Gründe dafür in der Art und

Weise der Krankheitsbehandlung liegen (BSG SozR 2200 § 194 RVO

Nr 4). Die erforderliche, medizinisch ausreichende und zweck-

mäßige Krankenhauspflege wäre nach den bindenden Feststellungen

des SG im M. -H. -Krankenhaus in W. gesichert gewesen.



- 9 -



Mit Recht hat das SG auch dargelegt, die Gefahr von psychischen

Störungen bei dem Kind der Klägerin sei kein in der Art und

weise der Krankheitsbehandlung liegender Grund. Krankheitsbe-

handlung in diesem Sinn ist nur die Behandlung der Klägerin

selbst. Zu den gesetzlichen Aufgaben der gesetzlichen Kranken-

versicherung gehört es nicht, gesundheitliche Gefahren für

Familienangehörige des Kranken abzuwehren, auch wenn die Angehö-

rigen selbst Krankenversicherungsschutz genießen.



Zu Unrecht hat das SG keine Feststellungen darüber getroffen, ob

und in welcher Weise die Trennung von Mutter und Kind den Gene-

sungsprozeß der Mutter beeinträchtigt hätte. Das SG hat die

Sachaufklärung dazu unterlassen, weil am 27. April 1980 offen-

kundig alle konkreten Hinweise für die Notwendigkeit der Verle-

gung aus diesem Grund gefehlt haben. Darauf kommt es indessen

nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob die Notwendigkeit objek-

tiv vorgelegen hat. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom

28. März 1979 angedeutet, daß die Gefahr einer psychischen

Erkrankung des Versicherten beim Verbleib in dem Krankenhaus

außerhalb seines Wohnorts für die Entscheidung erheblich sein

könnte. Im Verhältnis einer Mutter zu ihrem vierjährigen Kind

liegt die Beeinträchtigung des Genesungsprozesses der Mutter

durch eine Trennung nicht so fern, daß das SG von einer weiteren

Sachaufklärung ohne weiteres entbunden wäre. wenn die Gefahr

ernsthaft bestanden hat, wird das SG eine etwa zu befürchtende

Verzögerung der Genesung gegen die Transportkosten abzuwägen und

auch etwaige andere Möglichkeiten der Kontaktsicherung zu

berücksichtigen haben.



- 10 -



Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des SG vorbehalten.

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BVerwG, 3 B 62.88 vom 21.02.1989, Bundesverwaltungsgericht
Sachgebiet: BVerwGE: nein

Lebensmittelrecht Fachpresse: nein

Weinrecht

Rechtsquellen:

VO (EWG) Nr. 2179/83 Art. 4 Abs. 2.· Art. 5 Abs. 1

VwVfG

§§ 38 Abs. 1 Satz 1 u. Abs. 2. 44

VwGO § 132 Abs . 2 Nr . 1 u . Nr . 2

Stichworte:

Behördliche Genehmigung eines Vertrags zur Destillation von
Wein. allgemeine Hinweise im Genehmigungsbescheid. Auslegung
eines Hinweises als bedingte Zusicherung der Gewährung einer
Beihilfe; keine Grundsatzfrage (unbegründete Nichtzulassungs-
beschwerde)

Beschluß des 3. Senats vom 21. Februar 1989- BVerwG 3 B 62.88
I. VG Frankfurt am Main vom 13.06.1986 - Az.: I/3 E 2021/84 -
II. VGH Kassel vom 19.05.1988 - Az.: 8 UE 2017/86

- 1-

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT

BVerwG 3 B 62.88

VGH 8 UE 2017/86

BESCHLUSS

In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Februar 1989
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. D. sowie die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht S. Und W.-E. S.
beschlossen:

- 2 -

Die Beschwerde der Beklagten gegen die
Nichtzulassung der Revision im Urteil des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom
19. Mai 1988 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen
der Beklagten zur Last.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren
wird auf 28 374.79 DM festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der
Revision im angefochtenen Urteil des Berufungsgerichts erweist
sich als unbegründet. Keiner der in der Beschwerdebegründung
dargelegten rechtlichen Gesichtspunkte vermag die Zulassung der
Revision zu rechtfertigen.

Die von der Beklagten als klärungsbedürftig dargelegte Frage.
ob Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 und Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1
der Verordnung (EWG) Nr. 2179/83 des Rates vom 25. Juli 1983
dahin auszulegen sind. daß ein Verwaltungsakt. der eine dort
vorgesehene Genehmigung eines Vertrags zur Destillation von
Wein zum Inhalt hat. gleichzeitig die Zusicherung enthält. eine
für die Destillation beantragte Beihilfe zu gewähren, hat keine
grundsätzliche Bedeutung i.S. von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
weil sie in dieser Allgemeinheit nicht klärungsfähig ist. Im
Grundsatz wäre diese Frage sicherlich zu verneinen, weil es sich
von selbst versteht. daß ein Verwaltungsakt, der lediglich die
Genehmigung eines Vertrags zum Inhalt hat, nicht zugleich auch
die Zusicherung einer Leistung enthält. Allerdings kann sich

- 3 -

aus der Begründung einer Genehmigung ergeben, daß über die Ge-
nehmigung hinaus zugleich eine Zusicherung erteilt worden ist.
Dies hängt also von den jeweiligen besonderen Umständen des kon-
kreten Einzelfalls ab.

Die weiterhin von der Beklagten dargelegte Frage, ob ein Ver-
waltungsakt, der die Genehmigung eines Vertrags zur Destillation
von Wein betrifft, durch Interpretation eines allgemeinen Hin-
weises zu der Genehmigung dahin ausgelegt werden kann, daß er
zugleich die Zusicherung enthält, eine für die Destillation be-
antragte Beihilfe werde gewährt, ist nicht klärungsbedürftig,
weil sie zweifelsfrei zu bejahen ist. Denn es ist unter den
Umständen des konkreten Einzelfalls durchaus möglich, daß ein
zur Begründung der Genehmigung gegebener Hinweis als eine Zu-
sicherung zu verstehen ist. Ob dies im Einzelfall zutrifft. ist
wiederum keine Grundsatzfrage. sondern eine Frage der Auslegung
des konkreten Verwaltungsakts. Im übrigen ist die Frage. ob im
vorliegenden Falle die Umstände nicht eher gegen die Feststel-
lung des Berufungsgerichts sprechen. die Behörde habe eine Zu-
sicherung gegeben. vom Bundesverwaltungsgericht nicht zu ent-
scheiden.

Die Voraussetzungen für eine Revisionszulassung wegen Abweichung
nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegen ebenfalls nicht vor. Eine
Zulassung aus diesem Grunde kommt nur in Betracht. wenn die
Meinungsverschiedenheit die Frage der Geltung eines bestimmten
abstrakten Rechtssatzes betrifft.

- 4 -

Was die angebliche Abweichung vom Urteil des Bundesverwaltungs-
gerichts vom 17. Oktober 1975- BVerwG 4 C 66.72- (NJW 1976.
303 = BVerwGE 49. 244) anbetrifft, so wird in der Beschwerde
lediglich behauptet, das Berufungsgericht habe nicht die Anfor-
derungen beachtet, die das Bundesverwaltungsgericht an eine
behördliche Zusage stelle, nicht aber, daß das Berufungsgericht
die Richtigkeit dieser Anforderungen in Zweifel gezogen habe.

Ein etwaiger Fehler bei der Anwendung des zwischen Tatsachenge-
richt und Bundesverwaltungsgericht unumstrittenen Rechtssatzes
rechtfertigt keine Zulassung wegen Abweichung.

Zu Unrecht gerügt wird auch die Abweichung vom Urteil des Bun-
desverwaltungsgerichts vom 7. Juli 1966 - BVerwG 3 C 219.64-
(BVerwGE 24. 294) und von dem Beschluß vom 20. März 1973
- BVerwG 1 WB 217.72- (BVerwGE 46. 89); denn die diesbezügli-
chen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts enthalten
keine rechtliche Aussage zu den Voraussetzungen einer wirksamen
behördlichen Zusicherung. und auf den in diesen Entscheidungen
behandelten Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes hat das Be-
rufungsgericht nicht abgehoben. so daß es naturgemäß auch die
Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts für einen wirksamen Ver-
trauensschutz nicht in Frage gestellt hat. Im übrigen wird in
dem einschlägigen Beschwerdevorbringen übersehen, daß sich das
vom Berufungsgericht erwähnte Vertrauen auf das behördliche
Einverständnis mit der Destillation bezieht. die zeitlich nach
dem Zugang der Genehmigung erfolgte.

Im übrigen sei nur noch bemerkt. daß § 38 Abs. 2 VwVfG die Un-

- 5 -

wirksamkeit einer Zusicherung unbeschadet des § 38 Abs. 1
Satz 1 VwVfG nur unter den Voraussetzungen des § 44 VwVfG an-
nimmt.

Zusammenfassend ergibt sich. daß die Nichtzulassungsbeschwerde
unter keinem dargelegten rechtlichen Gesichtspunkt Erfolg haben
kann. so daß sie mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 2 VwGO
zurückzuweisen ist. Die Streitwertfestsetzung beruht auf§ 13
Abs. 1 Satz 1 GKG.

Dr. D. S. S.

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Freitag, 8. Mai 2015
BGH, II ZR 124/76 vom 19.01.1978, Bundesgerichtshof
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20, BGB § 203
Die Verjährung wird gehemmt, auch wenn die arme Partei
das Gesuch um Bewilligung des Armenrechts für die Er-
hebung der Klage zwar noch innerhalb der Verjährungs-
frist, aber so spät - auch noch am letzten Tage - bei
Gericht einreicht, daß darüber nicht mehr vor Frist-
ablauf entschieden werden kann (Abweichung von BGHZ 17,
199 und 37, 113).
BUNDESGERICHSTHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
II ZR 124/76
verkündet am 19. Januar 1978
Justizobersekretär
Als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit des Fischermeisters … K …
Klägers und Revisionsklägers,
- Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt … -
gegen
die Gesellschaft für K … und K … mbG,
gesetzliche vertreten durch den Geschäftsführer Manfred P …
Beklagte und Revisionsbeklagte,
- Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt … -
Tatbestand:
Der Fischkutter "Anneliese" des Klägers, eines
selbständigen Fischermeisters, ist am 4. März 1973
nach einer Kollosion mit MS "Hanseat III" der Beklagten
in der Lübecker Bucht gesunken. Der Kläger verlangt
Ersat eines Teils seines nicht durch Versicherung
gedeckten Schadens. Er ist der Auffassung, die Schiffs-
führung von MS "Hanseat III" habe durch ihr Verschulden
den Schiffszusammenstoß überwiegend verursacht Die
Parteien haben bis August 1974 außergerichtlich über
eine vergleichsweise Regelung verhandelt konnten sich
aber nicht über die Schadensquote einigen. Am
- 3 -
23. Oktober 1974 beantragten die vom Kläger bevoll-
mächtigten Rechtsanwälte beim Landgericht Lübeck das
Armenrechts für eine Klage über 37 061,22 DM nebst Zinsen.
Mit Schriftsatz vom 26. November 1974, der einen Tag
später bei Gericht einging, rügte die Beklagte unter
anderem die Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts,
mit dem Hinweis, daß sie ihren Sitz in Hamburg habe.
Die Anwälte des Klägers erwiderten mit Schriftsatz vom
10. Februar 1975, der am 19. Februar beim Landgericht
Lübeck eingegangen ist. Sie beantragten unter Erweiterung
des Gesuchs auf ca. 49 704,53 DM das Armenrechtsverfahren
an das Landgericht Hamburg abzugeben. Diesem Antrag hat
das Landgericht Lübeck entsprochen. Die Akten trafen am
3. März 1975 beim Landgericht Hamburg ein. Die zunächst
der Zivilkammern 10 zugeleitete Sache wurde an die Zivil-
kammer 6 abgegeben und anschließend, auf Antrag der Be-
klagten, an die Kammer für Handelssachen verwiesen. Nach-
dem die Beklagte sich auf Verjährung berufen hatte, hat
das Landgerichts durch Beschluß vom 4. Juni 1975 dem Kläger
das Armenrecht versagt. Seine Beschwerde wurde durch Be-
schluß des Oberlandesgerichts vom 18. August 1975 zurück-
gewiesen. Am 2. September 1975, der Beklagten zugestellt
am 4. September 1975, erhob der Kläger Klage mit dem Antrag,
die Beklagte zu verurteilen, 39.763,63, DM nebst 4 %
Zinsen seit dem 21. Oktober 1973 zu bezahlen.
Die Beklagte hat erneut die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Landgericht und das Oberlandesgericht haben die
Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt
der Kläger seinen Klageanspruch weiter.
- 4 -
Entscheidungsgründen:
Das Berufungsgericht hat den auf § 736 Abs. 1 HGB
gestützten Schadensersatzanspruch für verjährt und die
Klage schon aus diesem Grunde für abweisungsreif ge-
halten. Dem ist jedoch, wie die Revision zu Recht geltend
macht, nicht zu folgen.
Ansprüche dieser Art verjähren gemäß § 901 Satz 2
Nr. 2 HGB a.F. und § 902 Nr. 2 HGB i.d.F. d. Seerechts-
änderungsgesetzes vom 21. Juni 1972, BGBl I 1513 (= n. F.)
in zwei Jahren vom Ablauf des Kollosionstags
an gerechnet (§ 903 HGB). Diese Frist war am 4. März 1975,
also bevor der Kläger am 4. September 1975 Klage erhob,
abgelaufen. Die Einreichung des Armenrechtsgesuchs hat
die Verjährung nicht unterbrochen; eine dahingehende
gesetzliche Regelung besteht nicht (§ 209 BGB). Die Ver-
jährung war jedoch gehemmt (§ 203 BGB), weil der Kläger
wegen des Unvermögens, die Prozeßkosten zu tragen, während
der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch - im
Sinne jener Vorschrift - „höhere Gewalt" an der Rechts-
verfolgung gehindert war.
Das entspricht allerdings bei dem vorliegenden Sach-
verhalt nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundes-
gerichtshofes, der sich das Berufungsgericht angeschlossen
hat (BGHZ 17, 199; BGH, Urt. v. B. 5. 56 - VI ZR 58/55,
LM BGB § 254 [E] Nr. 2; v. 28. 9. 59 - III ZR 75/58,
VersR 1960, 60; v. 20. 6. 60 - III ZR 127/59, VersR 1960,
951; BGHZ 37, 113; v. 30. 9. 69 - VI ZR 54/68, DAVorm. 70,
10; v. 8. 3. 77 - VI ZR 142/75, VersR 1977, 622). Danach
soll der Umstand, daß das Gericht erst nach Fristablauf
- 5 -
entscheidet, nur dann einen Fall höherer Gewalt dar-
stellen, wenn der Berechtigte alles in seinen Kräften
Stehende getan hat, um eine rechtzeitige Bewilligung
des Armenrechts zu erreichen und damit eine Klage-
erhebung noch vor Ablauf der Verjährung zu ermöglichen.
Diese Voraussetzungen waren hier nicht erfüllt. Denn
die Beklagte, die ihren Sitz in Hamburg hat, hatte
schon mit Schriftsatz vom 26. November 1974 die örtliche
Zuständigkeit des vom Kläger zum Zwecke der Armenrechts-
bewilligung angerufenen Landgerichts Lübeck gerügt.
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers stellte jedoch
erst am 19. Februar 1975, also mehr als zwei Monate
später, beim Landgericht Lübeck den Antrag, das Armen-
rechtsverfahren an das Landgericht Hamburg abzugeben.
Nach dieser vom Kläger oder seinen Anwälten zu vertretenden
Verzögerung konnte mit einer Entscheidung des Landgerichts
Hamburg bis zum 4. März 1975 nicht mehr gerechnet werden.
An der Auffassung, die Verjährung werde nur gehemmt,
wenn die unbemittelte Partei so frühzeitig das Armenrecht
beantrage, daß darüber bei gewöhnlichem Geschäftsgang
des Gerichts noch innerhalb der Verjährungsfrist ent-
schieden und Klage erhoben werden können, kann jedoch nicht
festgehalten werden.
Im Bereich des Rechtsschutzes gebietet es der allge-
meine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung
mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), die
prozessuale Stellung von Bemittelten und Unbemittelten
weitgehend anzugleichen (BVerfGE 9, 124, 131; 10, 264,
270). Der unbemittelten Partei darf daher die Rechtsver-
folgung und -verteidigung im Vergleich zur bemittelten
- 6 -
nicht unverhältnismäßig erschwert werden (BVerfGE 2, 336,
340; 9, 124, 130, 131). Daraus hat das Bundesverfassungs-
gericht unter anderem hergeleitet, daß es gegen Art. 3
Abs. 1, 20 Abs. 1 GG verstoße, im Zivilprozeß einem unbe-
mittelten Rechtsmittelkläger, der nach Bewilligung des
Armenrechts die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag
(§ 234 Abs. 1 ZPO) versäumt hat, keine Wiedereinsetzung
zu gewähren (BVerfGE 22, 83).
Nach Ansicht des Senats sind diese Grundsätze auch
im vorliegenden Falle anzuwenden; sie erfordern es, die
Hemmung der Verjährung auch dann eintreten zu lassen, wenn
ein ordnungsgemäß begründetes und vollständiges Armen-
rechtsgesuch zwar noch innerhalb der Verjährungsfrist, aber
so spät - unter Umständen noch am letzten Tag - eingereicht
wird, daß darüber vor Fristablauf nicht mehr entschieden
werden kann.
Die gegenwärtige Rechtspraxis benachteiligt die unbe-
mittelte Partei und führt außerdem zur Rechtsunsicherheit
im Einzelfall: Einer bemittelten Partei steht der volle
Zeitraum, in dem die Verjährung läuft, für außergericht-
liche Verhandlungen und zur Vorbereitung der Klage zur
Verfügung, da sie noch am letzten Tage der Frist die Ver-
jährung durch Klageerhebung oder eine gleichstehende Maß-
nahme (§§ 209 BGB, 270 Abs. 3 n.F. ZPO) unterbrechen kann.
Für die unbemittelte Partei führt dagegen die Verpflichtung,
im Armenrechtsgesuch eine vollständige Sachdarstellung zu
geben (BGH, Urt. v. 27. 11. 1959 - VI ZR 112/59, LM BGB § 203
Nr. 6) und das Armenrecht so rechtzeitig zu beantragen,
daß darüber innerhalb der Verjährungsfrist entschieden
werden kann, zu einer Verkürzung dieser Frist. Ebenso
schwerwiegend wie dieser Nachteil ist die Unsicherheit,
mit der die arme Partei belastet wird. Dies gilt zu-
nächst für die Pflicht, das Armenrecht so rechtzeitig
zu beantragen, daß wirklich vor Ablauf der Verjährung
darüber entschieden werden kann (BGHZ 17, 199, 202).
Damit wird von der armen Partei eine Prognose verlangt,
die sie nicht zuverlässig stellen kann, weil sie nicht
alle Umstände kennt, die den Gang des Verfahrens beein-
flussen werden. Die unbemittelte Partei ist daher dem
Risiko ausgesetzt, nachträglich gesagt zu bekommen, sie
habe das Armenrechtsgesuch nicht „rechtzeitig" eingereicht.
Von Unsicherheit geprägt ist auch die Bestimmung des Zeit-
punkts für den Beginn der Hemmung. Nach der hierfür ver-
wendeten Formel tritt die Hemmung der Verjährung in dem
Augenblick ein, in dem der Kläger bei sachgemäßer Be-
handlung eine Entscheidung über sein Armenrechtsgesuch
erwarten konnte (BGHZ 17, 202; 37, 113, 122). Der Beginn
der Verjährungshemmung und damit auch ihre Dauer hängen
danach von dem unbestimmten, verschiedener Deutung zugäng-
lichen Begriff der "sachgemäßen" Behandlung des Armenrechts-
verfahrens ab. Da0 darin für die arme Partei eine Risiko
liegt, sich hinsichtlich der Dauer der Hemmung der Ver-
jährung zu "verrechnen", liegt auf der Hand. Die darge-
legten Umstände bedeuten für die arme Partei eine unver-
hältnismäßige Erschwerung der Rechtsverfolgung im Vergleich
zu der bemittelten. Darauf, daß die Belange der um das
Armenrecht nachsuchenden Partei durch die Zustellung eines
Mahnbescheids oder die Anbringung eines Gütevertrags nicht
hinreichend gewahrt sind, hat bereits das Reichsgericht
(RGZ 163, 9) hingewiesen. Bei einer am Gerechtigkeits-
gedanken orientierten Betrachtungsweise erscheint die
weitgehende Angleichung der Stellung der armen an die
der vermögenden Partei nur durch eine Regelung gewähr-
leistet, die es ersterer erlaubt, die Verjährungsfrist
in vollem Umfange zu nutzen (vgl.. auch BGHm Urt v.
4. 3. 77 -V ZR 236/75, VersR 1977, 665 u. Kollhoser,
VersR 1974, 829 zu der ähnlichen Problematik bei § 12
Abs. 3 VVG). Deshalb ist nach Auffassung des Senats
bei verfassungskonformer Anwendung des § 203 Abs. 2 BGB
eine Partei durch höhere Gewalt an der Rechtsverfolgung
verhindert, wenn sie am Tage des Ablaufs der Verjährungs-
frist infolge Armut keine Klage erheben kann, aber spätestens
in diesem Zeitpunkt das zur Behebung des Hindernisses not-
wendige Armenrechtsverfahren durch ein ordnungsgemäß be-
gründetes und vollständiges Armenrechtsgesuch eingeleitet
hat. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dann tritt die Hemmung
der Verjährung ein, und sie dauert grundsätzlich fort, bis
die arme Partei nach der Entscheidung über das Armenrechts-
gesuch bei angemessener Sachbehandlung in der Lage ist,
ordnungsgemäß Klage zu erheben. Eine solche Regelung wider-
spricht weder dem Wortlaut noch dem Sinn des Gesetzes.
Sie belastet auch nicht den Schuldner der unbemittelten
Partei in unangemessener Weise. Die dadurch in der Regel
eintretende Verlängerung der Verjährungsfrist hält sich
in vertretbarem Rahmen, und der Schuldner erfährt zur
gleichen Zeit wie bei Klageerhebung von der beabsichtigten
Rechtsverfolgung und kann sich darauf einstellen.
Für den vorliegenden Fall folgt daraus, daß die mit
der Klage geltend gemachte Schadensersatzforderung nicht
verjährt ist. Das Armenrechtsgesuch ist, da es am letzten
Tage der Verjährungsfrist dem Gericht vorlag, rechtzeitig
gestellt. Dem Kläger - der seine Armut glaubhaft gemacht
hatte - sind auch im weiteren Verlauf des Armenrechtsver-
fahrens keine Umstände, die eine Verzögerung der Armen-
rechtsentscheidung nach sich gezogen haben, als Verschulden
- 9 -
mit der Folge anzurechnen, daß von höherer Gewalt im
Sinne von § 203 Abs. 2 BGB nicht mehr gesprochen werden
könnte. Der Kläger wurde durch Verfügung des Vorsitzenden
der Zivilkammer 6 des Landgerichts Hamburg, die am
7. April 1975 an die Rechtsanwälte abgesandt worden ist,
aufgefordert, ein Armen-Attest neueren Datums vorzulegen.
Dem ist er nachgekommen, indem er am 5. Mai 1975 ein
weiteres Zeugnis zur Erlangungen einstweiliger Kosten-
befreiung eingereicht hat. Darauf, ob dieser Erledigungs-
zeitraum angemessen war, kommt es nicht an. Die Verzögerung
der Entscheidung über das Armenrechtsgesuch hätte selbst
dann nicht auf diesem Vorgang beruht, wenn das Armuts-
zeugnis etwas früher hätte vorgelegt werden können. Das
Landgericht hatte nämlich in der gleichen Verfügung die
Beklagte aufgefordert zu erklären, ob sie Verweisung an
die Kammer für Handelssachen beantragen wolle. Der Ent-
sprechende Antrag ist am 29. April 1975 beim Landgericht
eingegangen. Die Zivilkammer hat daraufhin durch Beschluß
vom 23. Mai 1975 das Verfahren an die Kammer für Handels-
sachen abgegeben. Zu dieser Zeit aber hat das neue Armuts-
zeugnis des Klägers vorgelegen. Der Umstand, daß der Kläger
nicht sogleich beim Landgericht Lübeck beantragt hat, das
Verfahren an die Kammer für Handelssachen des Landgerichts
Hamburg abzugeben, kann ihm nicht zum Nachteil gereichen.
Nach § 96 Abs. 1 GVG ist der Kläger nicht verpflichtet
zu beantragen, daß der Rechtsstreit vor der Kammer für
Handelssachen verhandelt werden solle.
Schließlich ist die Klage auch rechtzeitig nach Ab-
schluß des Armenrechtsverfahrens erhoben worden. Das Armen-
recht wurde dem Kläger durch Beschluß des Berufungsgerichts
vom 18. August 1975 endgültig versagt. Eine Ausfertigung
dieses Beschlusses ging am 21. August 1975 an die
Anwälte des Klägers ab. Mit Schriftsatz vom 1. Septem-
ber 1975, der bei Gericht am 2. September eingegangen
ist, hat der Kläger Klage erhoben. Diese ist am
4. September 1975 zugestellt worden. Der Kläger hat
also spätestens zwei Wochen, nachdem er von dem nega-
tiven Ausgang des Armenrechtsverfahrens Kenntnis erlangt
hatte, die Klage eingereicht. In Anwendung des Rechts-
gedankens von § 234 Abs. 1 ZPO ist der Partei nach
Kenntnis vom Abschluß des Armenrechtsverfahrens eben-
falls eine zumindest zweiwöchige Frist zur Vorbereitung
der Klage zuzubilligen. Ob diese im Einzelfall über-
schritten werden darf, braucht hier nicht entschieden
zu werden.
Aus all dem folgt, daß die Verjährung des Schadens-
ersatzanspruchs des Klägers bis zur Erhebung der Klage
gehemmt war. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht.
Ein Grund zur Vorlage dieser Sache an den Großen
Senat für Zivilsachen bestand nicht. Der III. und der
Vl. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes haben auf Anfrage
erklärt, daß sie an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung
nicht mehr festhalten.
S. Dr. S. F. Dr. B. B.

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BSG, 2 RU 61/60 vom 29.09.1965, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht

Az.: 2 RU 61/60

Im Namen des Volkes

29. September 1965

In dem Rechtsstreit

Verkündet am

Beklagte und Revisionsklägerin,

1. ,
2. ,

Kläger und Revisionsbeklagte,

hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts auf die
mündliche Verhandlung vom 29. September 1965 durch

Senatspräsident B.
- Vorsitzender -
Bundesrichter D. und
Bundesrichter H. ,
Bundessozialrichter Dr. S. und
Bundessozialrichter H.

für Recht erkannt:

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-
Westfalen vom 24. November 1959 wird mit den ihm
zugrunde liegenden Feststellungen aufgehohen.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Ent-
scheidung an das Landessozialgericht zurückver-
wiesen.

- 2 -

Gründe:

I

Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, der Kläger zu 2) der Sohn
des Franz D. (D.). Die Kläger beanspruchen Hinterblie-
nenenentschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung
(UV). Sie sind der Auffassung, den der Tod des D. am
22. Juni 1954 die Folge eines Arbeitsunfalls vom 19. Juni 1954
sei.

Ans dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ergeben sich ua
folgende tatsächlichen Feststellungen:

Der am 3O. März 1907 geborene D. war von Beruf gelernter
Schreiner und in einem Unternehmen beschäftigt, das der be-
klagten Berufsgenossenschaft (EG) als Mitglied angehört. Er
hatte an den Tagen vor dem 19. Juni 1954 bei dem Hausbau sei-
nes Schwagers P. laufend mitgearbeitet und am 18. Juni
1954 den Polizeimeister Schl. bei schweren Arbeiten gehol-
fen und ihm zugesagt, am nächsten und übernächsten Tag wie-
der mitzuhelfen. Weder seinem Schwager noch dem Polizeimei—
ster Sch. hatte D. Angaben über körperliche Beschwerden
gerecht. An Morgen des 19. Juni 1954 ging er wie üblich zu
seiner Arbeitsstätte, ohne über irgendwelche körperlichen
Beschwerden zu klagen. Um die Mittagszeit traf der Polizei-
meister Sch. ihn auf dem Weg von der Arbeitsstätte nach
hause. Auf die Frage, ob er am Nachmittag beim Bau wieder
helfen würde, erwiderte D., er könne leider nicht, er habe
bei der Arbeit ein Brett vor sein Geschlechtsteil bekommen
und große Schmerzen. Nachdem er zur üblichen Zeit nach Hause
gakommen war, setzte er sich an den Mittagstisch und ließ
das Essen unberührt. Seiner Ehefrau sagte er nur, er habe
einen anstrengenden Tag gehabt. Er begab sich zu Bett,
stand später wieder auf, brach aber nach zwei Minuten zusam-
men und mußte ins Bett gebracht werden. Während der Nacht

- 3 -

klagte er über große Schmerzen. Am Sonntag (20. Juni 1954)
verschlimmerte sich der Zustand derart, daß der praktische
Arzt Dr. Z. gerufen werden mußte. Diesem gab D. an,
ihm sei während der Arbeit ein Brett zwischen die Beine
gefallen und gegen das Geschlechtsteil geschlagen. Der Arzt
stellte hohes Fieber fest und veranlaßte die Einweisung in
das Dreifaltigkeitshospital in Lippstadt. Dort gab D. an,
er habe am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr vom Holzlager ein
Brett holen wollen. Die Bretter seien nachgerutscht und
dabei habe sich der Penis eingeklemmt. Dem Elektromeister
W., der mit D. auf einem Zimmer lag, erzählte D., er
habe am Samstag morgen gegen 11 Uhr einen Unfall gehabt.
Er habe von einem Stapel Bohlen eine 30 mm dicke Bohle her-
ausgezogen. Der Stapel sei ihm bis in Bauchhöhe gegangen.
Beim Fallenlassen der Bohle hätte diese mit dem Ende das
Geschlechtsteil eingeklemmt. Von Montagnachmittag an ver-
schlimmerte sich der Zustand des D. Es trat hohes Fieber
und ein Brand des Penis ein. Am Dienstag, dem 22. Juni 1954
um 9.50 Uhr ist D. gestorben.

Der Chefarzt des Dreifaltigkeitshospitals, Dr. Sch.,
teilte der Beklagten noch am 22. Juni 1954 fernmündlich
mit, daß es sehr zweifelhaft sei, ob die Penisinfektion,
die zum Tode geführt habe, auf den geschilderten Unfall-
hergang am 19. Juni 1954 zurückzuführen sei. Eine Obduktion
der Leiche sei zur Aufklärung erforderlich. Am 24. Juni 1954
teilte der gleichfalls im Dreifaltigkeitshospital tätige
Arzt Dr. B. der Beklagten fernmündlich mit, daß der
Schwager des Verstorbenen vorgesprochen und mitgeteilt habe,
die Witwe werde wegen des Arbeitsunfalls Ansprüche geltend
machen.

Die Beklagte zog die Akten der Staatsanwaltschaft bei,
Landgericht Paderborn bei, die am 17. August 1954 bei ihr
eingingen. In diesen Akten befindet sich ua ein Bericht
der Kriminalpolizei in Lippstadt vom 24. Juni 1954, in dem

- 4 -

hervorgehoben wird, daß der Witwe von der BG vermutlich
Schwierigkeiten bereitet werden würden, weil die Todes-
ursache und der Betriebsunfall ziemlich unklar seien. Aus
den Akten ergibt sich weiterhin, daß das Amtsgericht in
Lippstadt der Auffassung war, der Sachverhalt und das
Ermittlungsergebnis sprachen eindeutig für einen Betriebs-
unfall, die Schuld eines anderen sei nicht ersichtlich,
und daß die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Ermitt-
lungsverfahrens verfügt hat, weil kein Verdacht einer
strafbaren Handlung vorliege.

Die Beklagte stellte noch Ermittlungen in dem Unternehmen
an, in dem D. beschäftigt gewesen war. Diese ergaben, daß
weder den Arbeitskameraden noch den Vorgesetzten von einem
Unfall etwas bekannt war und D. auch weder den Werkssani—
täter noch den Durchgangsarzt aufgesucht hatte. Aus einer
Auskunft der Betriebskrankenkasse ergibt sich, daß D. vor
dem Unfall nicht an einem Leiden erkrankt gewesen ist,
das mit einer Penisinfektion in Zusammenhang stehen könnte.

In dem Durchgangsarztbericnt des Dr. Sch. .vom 22. Juni
1954 ist als Diagnose angegeben: "Infizierte Penisverlet-
zung mit septischer Aussaat", und ausgeführt, es werde ein
Arbeitsunfall bezweifelt, da eine Infektion nach einem
Tage nicht solche Ausmaße annehmen könne; D. habe sich
die Verletzung anderswo zugezogen; eine Überprüfung werde
für unbedingt erforderlich gehalten. In einem weiteren
Gutachten vom 20. Oktober 1954 führte Dr. Sch. ua aus,
die Angaben des Patienten seien sofort unglaubwürdig gewe-
sen: es sei schlecht vorstellbar, daß beim Herabfallen
von Brettern eine isolierte Penisverletzung auftrete; man
hätte wenigstens einige Schrammen an den Oberschenkeln
erkennen müssen; auch trete bei einer Penisverletzung
erfahrungsgemäß nicht innerhalb von Stunden eine Nekrose
auf; leider sei eine Sektion unterlassen worden.

- 5 -

Durch Bescheid vom 26. November 1954 lehnte die Beklagte den
Anspruch der Witwe und des Sohnes Franz H. auf Hinter-
bliebenenentschädigung ab. Sie begründete das unter ausführ-
licher Wiedergabe des Ermittlungsergebnisses damit, daß
sowohl das Vorliegen eines Unfallereignisses als auch der
ursächliche Zusammenhang des Todes mit einem Unfallereignis
nicht hinreichend wahrscheinlich seien.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger Klage beim Sozial-
gericht (SG) Dortmund erhoben. Dieses hat ein Gutachten von
Prof. Dr. B. (Knappschaftskrankenhaus Bottrop) vom
1O. Dezember 1955 beigezogen. Das Gutachten kommt zu dem
Ergebnis, es lasse sich keine Erklärung für die Vorfälle
finden, welche auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlich-
keit erlauben, den Unfall — bei seiner Unterstellung als
gegeben — als Ursache für die Entzündung des Penis und den
weiteren Verlauf anzuerkennen. Der Unfall sei in der durch
den Elektromeister W. wiedergegebenen Form ungeeignet,
eine Einklemmung des Penis zu verursachen, und weder das
Krankheitsbild noch der Verlauf seien in eine Kausalverbin-
dung mit dem Unfall zu dringen. Außerdem hat das SG
Dr. Sch. als sachverständigen Zeugen gehört. Dieser hat
ua ausgeführt: Es seien zwar äußere Anzeichen einer trauma-
tischen Beeinflussung vorhanden gewesen, doch habe die Krank-
heit innerhalb von 24 Stunden einen derart schnellen Ver-
lauf genommen, daß sie nicht auf einen Unfall vom Vortage
zurückgeführt werden könne. Es sei anzunehmen, daß schon
vorher eine Infektion bestanden habe. Wenn man die Richtig-
keit der schwersten Darstellung des Unfalles unterstelle,
sei dieser geeignet, bei bereits vorhandener Infektion eine
erhebliche Steigerung des Krankheitsverlaufs zu bewirken.
Ohne eine solche traumatische Beeinflussung wäre D. an der
Infektion voraussichtlich nicht gestorben.

Das SG hat durch Urteil vom 2. Oktober 1956 wie folgt ent-
schieden:

- 6 -
·
Der Bescheid vom 26. November 195A wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, daß es sich bei dem Ereignis
vom 19. Juni 1954 um einen Arbeitsunfall des Ehe-
mannes der Klägerin im Sinne des § 542 der Reichs-
versicherungserdnungordnung (RVO) handelt.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen
entsprechenden Bescheid zu erteilen und die Kosten
des Verfahrens zu tragen.
·
Das SG hat als erwiesen angesehen, daß D. von einem unbeo-
bachteten Lagerplatz eine schwere Bohle abholen wollte und
daß das Abheben oder Herausstemmen aus dem Stapel und das
Herunterfallen zu einem Schlag gegen die Geschlechtsteile
bzw. einem Einklemmen des Penis geführt hat. Im Übrigen hat
es als erwiesen angesehen, daß eine bereits vor dem 19. Juni
1954 vorhandene Pensisinfektien, die normalerweise geheilt
werden wäre, durch ein in seiner Stärke nicht erwiesenes,
aber doch recht schweres Trauma eine solche Verschlimme-
rung bewirkt habe, daß in kurzer Zeit der Tod eingetreten
sei.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung beim Landes-
sozialgericht Nordrhein—Westfalen eingelegt. Das LSG
hat ein Gutachten des Dr. Sch. vom 22. November 1954
beigezogen, in dem ua ausgeführt wird, bei der Aufnahme
seien keine sicheren Anzeichen einer Verletzung im Sinne
einer Quetschung, Prellung oder Schnittverletzung festzu-
stellen gewesen; aus dem Befund sei aber der Rückschluß zu
ziehen, daß zwar eine Verletzung stattgefunden, der Zeit-
punkt aber mindestens mehrere Tage zurückgelegen haben
müsse.

In Termin zur mündlichen Verhandlung am 14. November 1959
hat das LSG den Polizeimeister Sch. den Elektromeister
W. als Zeugen und die Ärzte Dr. Z. und Dr. Sch.
als sachverständige Zeugen vernommen. Außerdem hat es den
Oberarzt Dr. K. als Sachverständigen gehört. Dieser hat ua

- 7 -

ausgeführt, auch ohne Trauma könne es jederzeit zu einer
Infektion derart, wie sie bei D. vorgelegen haben müsse,
kommen, weil praktisch immer kleine Schleimhautdefekte am
Vorhautblatt vorhanden seien. Andererseits bestehe aber
die Möglichkeit, daß durch den Unfall mikroskopische Ver-
letzungen gesetzt worden seien, die Eintrittspforten für
die Erreger gebildet hätten. Ob das der Fall sei, könne
nachträglich nicht mehr gesagt werden und wäre nur durch
eine Obduktion mit mikroskopischer Untersuchung und bak-
teriologischem Nachweis der Erreger zu klären gewesen. Ob
der Unfall die Infektion wesentlich verschlimmert habe,
hätte gleichfalls nur durch Obduktion geklärt werden kön-
nen. Hierfür wären stärkere Gefäßquetschungen und Zer-
reißungen Voraussetzung gewesen. Der Unfall könne nicht
schwer gewesen sein. Damit sei aber nicht ausgeschlossen,
daß doch oberflächliche Verletzungen gesetzt werden seien.

Durch Urteil vom 24. November 1959 hat das LSG die Beru-
fung der Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund zurück-
gewiesen und die Revision zugelassen.

Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß sich am 19. Juni 1954
gegen 11 Uhr an der Arbeitsstelle ein Arbeitsunfall ereignet
hat, indem D. beim Herausziehen einer Bohle aus einem Bret-
terstapel auf dem Holzplatz vor der Schreinerei ein Brett
gegen das Geschlechtsteil geschlagen ist. Zur Begründung
hat das LSG unter eingehender Würdigung der Beweisergebnisse
ausgeführt, bei vernünftiger Abwägung aller Umstände, die
für und gegen das von D. selbst angegebene Unfallgeschehen
sprächen, überwögen die dafür sprechenden Erwägungen in
einer solchen Weise, daß das Unfallereignis als wahrschein-
lich geschehen angenommen werden müßte.

Im übrigen hat das LSG ausgeführt: Zu welcher Gesundheits-
schädigung der Arbeitsunfall geführt habe (schwere Penis-
infektion oder Verschlimmerung), habe sich nicht mit Wahr-
scheinlichkeit feststellen lassen. Die Infektion könne ihre

- 8 -

Entstehung und ihren Verlauf unabhängig von dem Arbeits-
unfall genommen haben; bei Mitwirkung ungewöhnlich viru-
lenter Bakterien könne sie auch auf einer durch Unfall
hervorgerufenen Verletzung beruhen, und schließlich könne
eine bereits vorhanden gewesene Infektion durch das Unfall-
ereignis derart verschlimmert werden sein, daß der rasche
weitere Verlauf und der Tod eingetreten seien. Eine Wahr-
scheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit lasse
sich nicht begründen. Die Unterlagen reichten für eine
Beurteilung nicht aus, welche Krankheitserreger für den
Verlauf und den Tod verantwortlich seien und ob der Unfall
im Bereich des Penisschafts kleinste oder schwere Verlet-
zungen gesetzt habe. Obgleich danach der ursächliche Zusam-
menhang des Todes mit dem Arbeitsunfall nicht bewiesen sei,
müsse sich die Beklagte doch so behandeln lassen, als ob
dieser Beweis erbracht sei; denn die Beklagte habe schuld-
haft verursacht, daß zur Beweisführung entscheidende und
geeignete Beweismittel, nämlich die Obduktion mit Sektions—
befund, nicht zur Verfügung stehen. Die Beklagte sei von
Amts wegen zur Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet
(§§ 1545 bis 1571 RVO). Sie habe auch eine notwendige
Obduktion von Amts wegen durchzuführen. Unterlasse sie
das, so vereitle sie die Benutzung eines wesentlichen
Beweismittels und bewirke dadurch schuldhaft die Unauf-
klärbarkeit des Sachverhalts (§§ 286, 444 der Zivilprozeß-
ordnung -ZPO~; §§ 128, 202 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG—).
Für die Beweiswürdigung könnten in einem solchen Fall Folge-
rungen zu ihren Ungunsten gezogen werden. Der Beklagten sei
durch die Anrufe der Ärzte Dr. Sch. und Dr. B. be-
kannt gewesen, daß die Hinterbliebenen einen ursächlichen
Zusammenhang zwischen Tod und Arbeitsunfall behaupten und
Hinterbliebenenansprüche geltend machen würden, und es sei
ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß dieser ursäch-
liche Zusammenhang zweifelhaft sei und nur durch eine
Obduktion geklärt werden könne. Dadurch daß sie bei dieser

-·9·-

Sachlage die Obduktion nicht habe durchführen lassen, obwohl
die Leiche für diesen Zweck bereits polizeilich beschlag-
nahmt gewesen sei, habe sie gegen ihre Aufklärungspflicht
verstoßen und ein wesentliches Beweismittel vereitelt. Sie
habe also die Unaufklärbarkeit des ursächlichen Zusammen-
hangs zwischen Tod und Arbeitsunfall schuldhaft veranlaßt.
Ob die Sektion zu einem für die Klägerin günstigen Beweis-
ergebnis geführt hätte, sei in diesem Zusammenhang nicht
von Bedeutung. Der bereits angeführte Grundsatz rechtfer-
tige es, im Wege der freien Beweiswürdigung den Beweis des
ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit dem Arbeitsunfall
als gegeben anzusehen, so daß die Hinterbliebenenansprüche
begründet seien. Die Revision sei zugelassen werden, weil
die Frage grundsätzliche Bedeutung habe, welche Rechtsfol-
gen aus der unterlassenen Obduktion zu ziehen seien.

Die Beklagte, der das Urteil des LSG am 21. März 1960 zuge-
stellt worden ist, hat dagegen am 7. April 196O Revision
eingelegt. Sie beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG und des
Urteils des SG die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Sache zur erneuten Verhandlung und Entschei-
dung an das LSG zurückzuverweisen.

Zur Begründung führt die Beklagte aus, nach dem Akteninhalt
erscheine es schon zweifelhaft, ob der Vorderrichter über-
haupt zu seiner Feststellung hinsichtlich des Unfallereig-
nisses habe kommen können. Das LSG hätte auch die von ihm
erörterten Möglichkeiten nicht als gleichwertig behandeln
dürfen. Vielmehr hätte die zweite und dritte Möglichkeit
völlig zurücktreten müssen. Vor allem aber bestehe ein
Beweiswürdigungsgrundsatz, wie in das LSG annehme, im
sozialgerichtliehen Verfahren nicht, das vom Prinzip der
objektiven Beweislast beherrscht werde. Auch im Zivilprozeß

- 10 -

bestehe ein solcher uneingeschränkter Grundsatz nicht.
§ 444 ZPO setze die Absicht voraus, das Beweismittel der
Gegenseite zu entziehen. Es komme also in der Regel auf
das arglistige Verhalten einer Partei an. Außerdem habe
der Beklagten keine Unfallanzeige vorgelegen, und der
Arbeitgeberin sei von einem Betriebsunfall nichts bekannt
gewesen. Deshalb sei vom Standpunkt der Beklagten aus
nichts zu veranlassen gewesen. Man kenne den an sich schon
so belasteten Verwaltungen der Versicherungsträger nicht
zumuten, nur auf telefonische oder schriftliche Angaben
Dritter gewissermaßen ins Blaue hinein Unfallermittlungen
vorzunehmen und dabei gar eine so einschneidende Maßnahme
wie die einer Leichenöffnung zu verlangen. Die Leiche habe
sich zudem gar nicht im Gewahrsam der Beklagten befunden,
sondern der Kreispolizeibehörde. Diejenigen, die in erster
Linie an eine Obduktion hätten denken müssen, seien die
Kläger. Sie hätten sie mindestens anregen können und sollen.

Die Kläger beantragen,

die Revision als unegründet zurückzuweisen.

Sie weisen auf EuM 22. 216 und 217 hin.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und
fristgerecht eingelegt und begründet werden und somit
zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als das Urteil
des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache an das LSG
zurückverwiesen worden ist.

Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß dem Ehemann der
Klägerin am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr ein Arbeitsunfall
zugestoßen ist, indem ihm ein Brett beim Herausziehen aus
einem Bretterstapel gegen die Geschlechtsteile schlug.

- 11 -

Die Rügen, mit denen die Revision diese tatsächlichen Fest-
stellungen angreift, sind allenfalls dazu geeignet, darzutun,
daß die Würdigung der Beweise in dieser Beziehung auch zu
einem negativen Ergebnis hätte führen können; dagegen rei-
chen sie nicht aus, um schlüssig darzutun, daß das LSG bei
der Würdigung der Beweise die Grenzen seines Rechts der
freien richterlichen Überzeugungsbildung überschritten hat
(§ 128 SGG). Diese Feststellung ist deshalb für das Revi-
sionsgericht bindend (§ i63 SGG).

Das LSG hat mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß
die Beklagte verpflichtet gewesen sei, zur Aufklärung des
Sachverhalts eine Leichenöffnung zu veranlassen. Die Aus-
führungen, mit denen die Revision diese Auffassung angreift,
enthalten keine Rügen gegen die tatsächlichen Feststellun-
gen, auf denen diese Schlußfolgerung des LSG beruht, son-
dern wenden sich gegen die Rechtsauffassung des LSG, daß
das Unterbleiben der Leichenöffnung auf eine schuldhafte
Vernachlässigung der Ermittlungspflicht der Beklagten (vgl.
§§ 1571, 1572 RVO) zurückzuführen sei. Diese Rüge der
Revision ist unbegründet. Die Beklagte wußte aus den
Telefongesprächen mit den beiden Ärzten des Dreifaltigkeits-
hospitals, daß der Zusammenhang zwischen den vom Verletzten
selbst behaupteten Unfallereignis und dem Tode außerordent-
lich zweifelhaft sei und daß die Hinterbliebenen Entschä-
digungsansprüehe geltend machen wollten. Unter diesen Um-
stünden hätte die Beklagte sofort alles tun müssen, um für
eine Aufklärung des Sachverhalts zu sorgen. Daß ihr noch
keine förmliche Unfallanzeige des Unternehmers vorlag und
der Unternehmer, wie sich später ergab, von dem Unfall
nichts wußte, enthob sie dieser Verpflichtung zur Sachauf-
klärung nicht. Sie konnte sich auch insbesondere nicht etwa
darauf verlassen, daß eine Leichenöffnung von der Kriminal-
polizei, dem Amtsgericht oder der Staatsanwaltschaft veran-
laßt würde; denn für diese Stellen war nur die Frage von

- 12 -

Bedeutung, ob Anhaltspunkte für strafbare Handlungen ande-
rer Personen gegeben seien. Das LSG ist ohne Rechtsirrtum
davon ausgegangen, daß die Beklagte verpflichtet gewesen
wäre, eine Leichenöffnung zu veranlassen.

Dagegen sind nach der Auffassung des erkennenden Senats
die Rügen berechtigt, mit denen sich die Revision gegen
die rechtlichen Schlußfolgerungen wendet, die das LSG aus
diesem Umstand gezogen hat.

Hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem
Unfallereignis vom 19. Juni 1954 und der zum Tode führen-
den Sepsis hat das LSG das Ergebnis der Beweiswürdigung
wie folgt zusammengefaßt:

(a) die Infektion könne unabhängig von dem Unfall ent-
standen und ihren Verlauf auch unabhängig von ihm
genommen haben;

(b) bei Mitwirkung von ungewöhnlich virulenten Bakterien
könne die Infektion aber auch auf einer durch den
Unfall hervorgerufenen Verletzung beruhen;

(c) eine zur Zeit des Unfalls bereits vorhandene Infek-
tion könne durch den Unfall derart verstärkt und
verschlimmert werden sein, daß der weitere rasche
Verlauf und der Tod eingetreten seien.

Die ernsthaften Möglichkeiten (b) und (c) müßten ebenso in
Erwägung gezogen werden wie die Möglichkeit (a). Eine Wahr-
scheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit lasse
sich nicht begründen. Die medizinischen Unterlagen reich-
ten nicht aus, um beurteilen zu können, welche Krankheits-
erreger den ungewöhnlichen Verlauf und raschen Eintritt des
Todes verursacht hätten und ob der Unfall kleinere oder
schwere Verletzungen gesetzt habe. Diese Feststellungen
hätten sich aber mit Sicherheit durch eine Obduktion mit
mikroskopischer Untersuchung von Gewebeschnitten und
bakteriologischem Nachweis der Erreger treffen lassen.
Anschließend hat das LSG ausdrücklich ausgeführt, auf Grund
der vorliegenden und jetzt noch möglichen Beweismittel sei

- 13 -

der ursächliche Zusammenhang des Todes mit dem Arbeitsunfall
nicht bewiesen.

Das LSG ist jedoch der Auffassung, die Beklagte müsse sich
"so behandeln lassen, als ob der Beweis des ursächlichen
Zusammenhangs zwischen Unfall und Tod erbracht" sei. Da
das LSG selbst hinsichtlich dieses ursächlichen Zusammen-
hangs keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, sich
insbesondere für keine der von ihm erörterten Möglichkei-
ten entschieden hat, sind nach der Auffassung des erkennen-
den Senats die Rechtsausführungen des LSG dahin zu verste-
hen, daß das - von der Beklagten verschuldete - Fehlen des
für die Sachaufklärung entscheidenden Beweismittels der
Leichenöffnung, eine "Umkehrung" der Beweislast zur Folge
hahe und daß infolgedessen zu Lasten der Beklagten ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und
dem Tod unterstellt werden müsse, weil das Gegenteil nicht
erweislich sei. Das trifft nach der Auffassung des erken-
nenden Senats nicht zu.

Mit der Frage, welche Bedeutung es hat, wenn der zur Sach-
aufklärung verpflichtete Versicherungsträger es unterläßt,
eine Leichenöffnung zu veranlassen, und deshalb der tat-
sächliche Sachverhalt in medizinischer Hinsicht nicht oder
nur unvollständig aufklärbar ist, hat sich bereits der
8. Senat im Urteil vom 26. Juli 1961 (SozR SGG § 128 Nr.60)
befaßt. Er hat ausgeführt, daß ein solches Verschulden
nichts an der Verteilung der objektiven Beweislast (Fest-
stellungslast) ändert, sondern nur von den Tatsachen-
Instanzen im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt
werden kann. Dieses Urteil ist von Glücklich in einer aus-
führlichen Anmerkung (Sgb 1963 S. 19) kritisch besprochen
worden. Glücklich vertritt die Meinung, daß eine vorsätz-
liche oder fahrlässige Beweisvereitelung die Beweislast
dergestalt umkehre, daß nunmehr der Gegner der zunächst
beweisbelasteten Partei die Beweislast trage.

- 14 -

Es kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Beweislast-
Regel, wenn sie, wie Glücklich wohl annimmt, für den
Zivilprozeß allgemein anerkannt wäre, auf das Verfahren
der Sozialgerichtsbarkeit übertragen werden könnte, obwohl
dieses Verfahren vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht
ist und entgegen Glücklich (aaO) nach fast allgemeiner
Ansicht keine Beweisführungslast und nur in sehr beschränk-
tem Umfang eine Behauptungslast kennt (vgl. Brackmann,
Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl., Stand Juni 1965,
S. 244 m I, mit weiteren Nachweisen auch für das Verfahren
vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten). Denn auch für
den Zivilprozeß ist die Lehre von der Umkehrung der Beweis-
last im Falle der schuldhaften Beweisvereitelung keines-
wegs allgemein anerkannt. Blomeyer (Zivilprozeßrecht, 1963
S. 369 § 73 II) nimmt zwar im Falle der schuldhaften Beweis-
vereitelung eine "Umkehr der Beweis1ast" an, auch Nikisch
(Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., S. 324 § 82 VI) vertritt diese
Auffassung. Dagegen führt Schönke (Zivilprozeßrecht), auf
dessen 2. Auflage sich Glücklich beruft, in der 7. Auflage
(S. 232 § 58 am Ende) zur Frage der schuldhaften Beweis-
vereitelung ausdrücklich aus: wenn in derartigen Fällen
von einer Umkehrung der Beweislast gesprochen werde (so RGZ
60, 152), so verdecke das den wahren Sachverhalt, daß Kraft
freier Beweiswürdigung und folglich ohne jeden Zwang der
Beweis vorbehaltlich des Gegenbeweises erbracht sei (ebenso
auch Schönke/Schroeder/Niese in der 8. Aufl. S. 264 § 58 am
Ende). Völlig eindeutig sind die Ausführungen von Rosenberg
(Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 3. Aufl., S. 559 § 114
III 3 d, S. 570 § 117 II 2; Die Beweislast, 4. Aufl., S. 153
§ 12, S. 191 § 14), aus denen sich ergibt, daß seiner Auf-
fassung nach die Beweisvereitelung keinen Einfluß auf die
Verteilung der Beweislast hat. Ebenso unmißverständlich
sind zB die Ausführungen in RGZ 128, 121, 125, während
andere Entscheidungen (zB BGHZ 6, 227; RGZ 60, 152), wie
der erkennende Senat nicht verkennt, auch die Deutung

- 15 -

zulassen, das Revisionsgerieht habe der schuldhaften Beweis-
vereitelung die Wirkung einer für das Tatsachengericht ver-
bindlichen "Umkehrung der Beweislast" zumessen wollen.

Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß die Lehre von
der Umkehrung der Beweislast im Falle der schuldhaften Be-
weisvereitlung in den Vorschriften des SGG und der ZPO keine
ausreichende Stütze findet; insbesondere läßt sie sich nach
der Auffassung des erkennenden Senats nicht aus den §§ 427,
444, 446 ZPO herleiten, die nur Vorschriften für die Beweis-
würdigung enthalten (vgl. zB auch die Anmerkungen zu diesen
Paragraphen in Stein/Jonas/Schönke/Pohle, Kommentar zur ZPO,
18. Aufl.) und die Verteilung der Beweislast ebenso unver-
ändert lassen, wie das der Fall ist, wenn das Gericht sich
bei der Beweiswürdigung der Regeln des Beweises des ersten
Anscheines (Prima—facie—Beweis, vgl. zB BSG 8, 245; 1O, 46;
l2, 242, 246; 19, 52, 54) bedient. Der erkennende Senat
stimmt mit dieser Auffassung nicht nur mit dem 8. Senat
überein, sondern auch mit dem Bundesverwaltungsgericht,
das es bereits mehrfach angelehnt hat, die Lehre von der
Umkehrung der Beweislast im Falle der Beweisvereitelung
anzuerkennen (BVerwG 1O, 27O; DVBl 1964, 759 mit weiteren
Nachweisen für das Verfahren vor den allgemeinen Verwaltungs-
gerichten).

Die rechtlichen Schlußfolgerungen daraus, daß die Unmöglich-
keit, das Ergebnis einer Leichenöffnung als Beweismittel zu
benützen, auf einem Verschulden der Beklagten beruht, sind
demnach unzutreffend und nicht geeignet, das angefochtene
Urteil zu rechtfertigen. Die Rügen der Revision hiergegen
sind begründet.

Andererseits zwingt aber der Umstand, daß das LSG ausgeführt
hat, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereig-
nis und dem Tod sei nicht erwiesen, nicht zur Klageabweisung.
Denn die Entscheidung des LSG beruht nicht auf diesem Ergeb-

- 16 -

nis der Beweiswürdigung, sondern, wie dargelegt, auf der rechts-
irrtümlichen Auffassung hinsichtlich der Verteilung der Beweis-
last und somit in tatsächlicher Beziehung auf der Feststellung,
daß das Nichtbestehen eines Zusammenhangs zwischen Tod und
Unfall gleichfalls nicht bewiesen sei. Das LSG hat auf Grund
seiner Rechtsauffassung insofern von einer vollständigen und
abschließenden Beweiswürdigung abgesehen, als es den durch das
Unterbleiben der Leichenoffnung verursachten Beweisnotstand
unberücksichtigt gelassen hat.

Der erkennende Senat stimmt mit den 8. Senat darin überein, daß
dieser von der Beklagten verschuldete Beweisnotstand vom Tat-
sachenrichter im Rahmen seines Rechts der freien richterlichen
Überzeugungsbildung (§ 128 SGG) zu berücksichtigen ist. Insbeson-
dere darf der Tatsachenrichter diesem Beweisnotstand, wie der
Senat in dem einen anders gelagerten Fall betreffenden Urteil in
BSG 19, 52, 56 ausgeführt hat (vgl. auch Brackmann aaO S. 244 )
dadurch Rechnung tragen, daß er an den Beweis der Tatsachen, auf
die sich der Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen
stellt.

Da dem Revisionsgericht eine solche ergänzende Würdigung der erho-
benen Beweise verwehrt ist, mußte das angefochtene Urteil mit den
ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückver-
wiesen werden.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisions-
verfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung
vorbehalten.

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BSG, 2 RU 38/96 vom 27.05.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT



Im Namen des Volkes



Verkündet am
27. Mai 1997



Urteil



in dem Rechtsstreit



Az: 2 RU 38/96



Klägerin und Revisionsbeklagte,
Prozeßbevollmächtigte:



gegen
Bau-Berufsgenossenschaft Hamburg,
Holstenwall 8-9, 20355 Hamburg,
Beklagte und Revisionsklägerin,
Prozeßbevollmächtigter:



Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung
vom 27. Mai 1997 durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. K. , die
Richter Dr. B. und K. sowie die ehrenamtlichen
Richter B. und L.



für Recht erkannt:



Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landes-
sozialgerichts vom 7. August 1996 aufgehoben.



Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurück-
verwiesen.

-2-



Gründe:



I



In dem Rechtsstreit um Gewährung von Witwenrente streiten die Beteiligten, ob der Tod
des Ehemannes der Klägerin Folge einer Berufskrankheit (BK) der Nr 4104 der Anlage 1
zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) ist.



Der im Jahre 1944 geborene Ehemann der Klägerin (Versicherter) war nach seiner Aus-
bildung in der Zeit von September 1959 bis Oktober 1963 zum Klempner und Installateur
bis März 1971 in diesem Beruf als Geselle tätig. Nach einer Fortbildung zum Bautechniker
in der Zeit von April 1971 bis September 1972 war er im Bedachungs- und Fassadenbau
bis Juli 1976 als Bauleiter, anschließend bis Juli 1984 als Bauleiter und Abteilungsleiter,
von August 1984 bis Juni 1986 als Niederlassungsleiter, von August 1986 bis August
1987 als Vertriebsleiter sowie ab September 1987 als Oberbau- und Außendienstleiter be-
schäftigt. Während seiner Tätigkeit als Klempner hatte er asbesthaltige Materialien zu be-
arbeiten. Im Bedachungs- und Fassadenbau wurden vorwiegend Bitumen, Asbestzement-
und Betonsteinprodukte verarbeitet.



Im März 1988 trat beim Versicherten ein Doppelbildersehen mit Kopfschmerzen auf. Des-
wegen wurde er im Allgemeinen Krankenhaus B. stationär behandelt. Dabei wurde
ein fortgeschrittenes metastasiertes Bronchialkarzinom diagnostiziert.


Am 4. Mai 1988 zeigte das Krankenhaus der Beklagten an, daß beim Versicherten der
Verdacht auf das Vorliegen einer BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO bestehe. Das
daraufhin mit Schreiben vom 26. Mai 1988 an den Chefarzt der neurologischen Abteilung
des Krankenhauses gerichtete Ersuchen, im Falle des Ablebens des Versicherten vor-
sorglich eine Sektion durchzuführen, wurde mit dem Hinweis zurückgewiesen, derartige
Mitteilungen in Zukunft zu unterlassen.



Die Beklagte zog die medizinischen Unterlagen der Landesversicherungsanstalt (LVA)
der Freien und Hansestadt Hamburg bei und ermittelte im Anschluß an eine schriftliche
Auskunft des Versicherten bei seinen früheren Arbeitgebern über Art und Dauer seiner
Beschäftigungen sowie welchen Einwirkungen er dabei ausgesetzt war. Aus den Berich-
ten des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Beklagten vom 20. Oktober und
21. Dezember 1988 ergab sich ua, daß der Versicherte im September 1988 verstorben
war. Die Beklagte zog die Krankenblätter des Allgemeinen Krankenhauses B.
und der Reha-Klinik D. über die Behandlungen des Versicherten bei.


Am 30. Januar 1989 unterrichtete die Klägerin die Beklagte telefonisch, daß ihr Ehemann
am 17. September 1988 verstorben sei. Es habe eine Erdbestattung stattgefunden. Mit

- 3 -



Schreiben vom 19. Juli 1989 teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß zur Feststellung ei-
ner BK eine Obduktion erforderlich sei und fragte zugleich an, ob - sofern eine solche
nicht bereits durchgeführt worden sei - die Klägerin einer Exhumierung und Untersuchung
des Leichnams ihres Ehemannes zustimme. Diese teilte mit, daß eine Obduktion nicht
vorgenommen worden sei; sie sei nicht sicher, ob sie einer Exhumierung zustimmen
solle, da ihr Ehemann bereits vor zehn Monaten verstorben sei. Nach Ablauf einer
eingeräumten Bedenkzeit erklärte die Klägerin mit ihrer am 11. August 1989 bei der
Beklagten eingegangenen Erklärung ihr Einverständnis mit einer Exhumierung und
Untersuchung des Leichnams ihres Ehemannes.


Der Arzt für innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. S. teilte auf Anfrage
der Beklagten mit, daß eine Exhumierung sinnlos sei, weil seit dem Ableben des Versi-
cherten mehr als sechs Monate vergangen seien. Nach Einholung eines Gutachtens von
Dr. S. vom 18. April 1990 sowie einer Stellungnahme des Staatlichen Gewerbearz-
tes der Freien und Hansestadt Hamburg vom 1. Juli 1990 lehnte es die Beklagte ab, der
Klägerin Hinterbliebenenleistungen aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes zu gewähren.
Nach den ärztlichen Feststellungen könne das Vorliegen einer Asbestose nicht wahr-
scheinlich gemacht werden. Es bestehe nach dem ermittelten Sachverhalt allenfalls die
Möglichkeit einer beruflichen Krebsentstehung. Die anspruchsbegründenden Tatsachen
seien trotz umfangreicher Ermittlungen nicht bewiesen (Bescheid vom 21. August 1990
idF des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1991).


Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung eines Gutachtens mit ergänzender Stellung-
nahme von dem Arzt für innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. L. vom
18. Februar 1993/12. Oktober 1993 die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Dezember
1993).


Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Einholung eines Gutachtens des Arztes für in-
nere Medizin und Sozialmedizin Prof. Dr. W. vom 1. April 1996 das Urteil des SG
aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren
(Urteil vom 7. August 1996). Der Tod des Versicherten sei auf eine BK der Nr 4104 der
Anlage 1 der BKVO zurückzuführen. Zwar stehe nicht fest, daß der Versicherte während
seiner beruflichen Tätigkeit den Einwirkungen von Asbestfaserstaub in einem Umfang von
25 Faserjahren ausgesetzt gewesen sei. Auch die weiteren Tatbestandsalternativen einer
BK nach der Nr 4104 stünden wegen fehlender Röntgen-, computertomographischer und
feingeweblicher Untersuchungsbefunde nicht fest. Schließlich sei auch nachträglich keine
Obduktion durchgeführt worden. Der medizinische Sachverhalt könne insoweit im Nach-
hinein nicht mehr aufgeklärt werden. Nach allem steht zwar fest, daß der Versicherte an
einem Lungenkrebs verstorben sei, nicht aber, daß bei dem Versicherten eine Asbest-
staublungenerkrankung oder eine durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura
vorgelegen habe. Dies schließe jedoch nicht die Feststellung aus, daß der Versicherte in-

- 4 -



folge einer BK nach der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO verstorben sei. Wegen der be-
sonderen Umstände des Falles reiche es zur Anspruchsbegründung aus, daß bei dem
Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorgelegen habe. Denn die Beweislage sei
auf das Verhalten der Beklagten zurückzuführen. Sie habe schuldhaft versäumt, den me-
dizinischen Sachverhalt aufzuklären. Durch das Verhalten der Beklagten sei die Klägerin
in einen Beweisnotstand geraten. Diesen Umständen sei bei den Anforderungen an den
Nachweis der anspruchsbegündenden Tatsachen Rechnung zu tragen. Es sei zwar keine
Umkehr der Beweislast anzunehmen. Wenn der beweisbelastete Beteiligte durch das
schuldhafte Verhalten des Gegners in einen Beweisnotstand gerate, könne das Gericht
aber dem dadurch Rechnung tragen, daß es an den Nachweis der Tatsachen, auf die
sich der Beweisbelastete beziehe, weniger hohe Anforderungen stelle. Im vorliegenden
Falle reiche deshalb lediglich die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Asbestose aus.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens gehe das LSG davon aus, daß der Versi-
cherte möglicherweise an einer Minimalasbestose erkrankt gewesen sei. Der Versicherte
sei über eine Reihe von Jahren mit der Verarbeitung von Asbest befaßt gewesen. Das sei
die wesentliche Voraussetzung für das Entstehen einer Asbestose. Damit seien die Vor-
aussetzungen für die Bejahung einer BK iS der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO erfüllt.
Dem stehe auch nicht die Annahme entgegen, daß der Versicherte nach Aktenlage Rau-
cher gewesen sei.



Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte, daß das LSG zu Unrecht
die fehlenden bzw nicht festgestellten Tatbestände der BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur
BKVO meine dadurch ersetzen zu können, daß es der Beklagten eine schuldhafte Be-
weisverhinderung anlaste. Die Begründung des LSG laufe im Ergebnis darauf hinaus, daß
es zu Lasten der Beklagten eine Umkehr der Beweislast vorgenommen habe. Diese Fol-
gerung sei aber mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) unvereinbar. Im
vorliegenden Fall habe entgegen der Auffassung des LSG eine schuldhafte Beweisverei-
telung durch die Beklagte nicht vorgelegen. Selbst wenn die Beklagte sofort tätig gewor-
den wäre und die erforderlichen Genehmigungen eingeholt hätte, hätte die Obduktion erst
nach einem Zeitraum von fünf bis sechs Monaten nach dem Ableben des Versicherten
durchgeführt werden können. Das LSG gehe aber selbst davon aus, daß eine Obduktion
spätestens "bis zu sechs Monaten" nach dem Tode hätte durchgeführt werden müssen,
um eine Asbestose oder eine asbestbedingte Veränderung der Pleura nachweisen zu
können. Unabhängig davon begegne die Beweisführung des LSG durchgreifenden Be-
denken. Es unterstelle, daß bei dem Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorge-
legen habe. Alsdann gewähre das LSG der Klägerin eine weitere Beweiserleichterung
aufgrund des Beweisnotstandes und sehe die Möglichkeit des Vorhandenseins einer As-
bestose, die es mangels konkreter Nachweise und Anhaltspunkte selbst unterstellt habe,
als ausreichend an. Das LSG komme also im Ergebnis entgegen der Rechtsprechung
des BSG zu einer Umkehr der Beweislast. Das LSG habe daher nicht nur die
Rechtsprechung des BSG, sondern auch die nicht vorhandenen Tatsachen verfälscht, um

- 5 -



zu dem von ihm gewünschten Ergebnis zu kommen. Das LSG hätte auch berücksichtigen
müssen, daß der Versicherte ein starker Raucher gewesen sei und nach seinen eigenen
Angaben 20 Zigarillos pro Tag geraucht habe.



Die Beklagte beantragt,



das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. August 1996
aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts
Itzehoe vom 16. Dezember 1993 zurückzuweisen.



Die Klägerin beantragt,



die Revision zurückzuweisen.



Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Entgegen der Ansicht der Beklagten habe
das LSG keineswegs eine Umkehr der Beweislast vorgenommen. Unverständlich sei
auch der Vortrag der Beklagten darüber, daß eine schuldhafte Beweisvereitelung durch
sie nicht vorgelegen habe.



II



Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuhe-
ben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzu-
verweisen ist. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über den
Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung
zu entscheiden.



Der Anspruch der Klägerin richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversiche-
rungsordnung (RVO), da die von ihr geltend gemachte BK ihres Ehemannes vor dem In-
krafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) am 1. Januar 1997
eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes , § 212
SGB VII).



Der Anspruch auf Witwenrente besteht gemäß § 589 Abs 1 RVO "bei" Tod durch Arbeits-
unfall. Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein Unfall, den ein Versicherter bei
einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Ar-
beitsunfall gilt nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind die Krankheiten,
welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung bezeichnet und die sich ein Versi-
cherter bei einer versicherten Tätigkeit zugezogen hat.



Das LSG hat die Voraussetzungen für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente im vorlie-
genden Rechtsstreit als erfüllt angesehen, weil der Tod des Versicherten auf eine BK der

- 6 -



Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO zurückzuführen sei. Das LSG hat dabei auf die BK der
Nr 4104 idF der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992
(BGBl I, S 2343) abgestellt, die nach Art 2 Abs 1 dieser Verordnung am 1. Januar 1993 in
Kraft getreten ist. Nach der Rückwirkungsklausel des Art 2 Abs 2 dieser Verordnung
könnte sie jedoch nur angewandt werden, wenn der Versicherungsfall erst nach dem
31. März 1988 eingetreten ist. Dies war vorliegend aber nicht der Fall, weil sich der Versi-
cherte bereits ab dem 22. März 1988 wegen des Bronchialkarzinoms in stationärer Be-
handlung befand. Es kann daher hier ungeprüft bleiben, ob die Einwirkung einer kumulati-
ven Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren nachgewie-
sen ist. Somit ist die frühere Fassung der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO maßgebend.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO vom 22. März 1988
(BGBl I, S 400) oder deren Vorgängerin, die BKVO idF der Änderungsverordnung vom
8. Dezember 1976 (BGBl I, S 3329), anzuwenden ist, da der hier einschlägige Tatbe-
stand, Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) in Verbindung mit Lungenkrebs, der
BK der Nr 4104 im Wortlaut zwar verändert wurde, inhaltlich aber keine Änderungen
erfahren hat. Nach der Fassung der BK der Nr 4104 der Anlage 1 der BKVO vom
22. März 1988 zählt als BK "Lungenkrebs in Verbindung mit
Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder mit durch Asbeststaub verursachter
Erkrankung der Pleura".


Die Voraussetzungen der Nr 4104 in der hier maßgebenden Fassung stehen nach An-
sicht des LSG nicht fest, weil wegen fehlender Röntgen-, computertomographischer oder
feingeweblicher Befunde nicht festgestellt werden kann, daß bei dem Versicherten eine
Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder eine durch Asbeststaub verursachte Er-
krankung der Pleura vorlag. Auch eine Obduktion oder rechtzeitig durchgeführte Exhu-
mierung und Untersuchung des Leichnams, wodurch eine Klärung, ob eine Asbeststaub-
erkrankung vorgelegen hat, möglich gewesen wäre, sei nicht durchgeführt worden. We-
gen der besonderen Umstände des Falles reiche es zur Anspruchsbegründung aus, daß
bei dem Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorgelegen habe. Denn die Beweis-
lage sei auf das Verhalten der Beklagten zurückzuführen, die es schuldhaft versäumt ha-
be, den medizinischen Sachverhalt aufzuklären.


Die Ausführungen, mit denen die Beklagte sich gegen die Auffassung des LSG wendet,
das Unterbleiben der Obduktion bzw der rechtzeitigen Exhumierung und Untersuchung
des Leichnams des Versicherten sei auf eine schuldhafte Vernachlässigung ihrer Ermitt-
lungspflicht (§ 20 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuches ) zurückzuführen, sind
unbegründet. Sie hat nach den Feststellungen des LSG bereits im Oktober 1988 und spä-
ter noch einmal im Dezember 1988 erfahren, daß der Versicherte im September 1988
verstorben war, ohne unverzüglich Ermittlungen hinsichtlich des medizinischen Sachver-
halts anzustellen. Der Beklagten oblag es im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht auch
festzustellen, ob Rechtsnachfolger iS des § 56 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) und

- 7 -



Hinterbliebene iS des § 589 RVO vorhanden waren. Schon deshalb ist der Hinweis der
Revision unbeachtlich, der Beklagten seien Angehörige des Versicherten nicht bekannt
gewesen.


Vor allem übersieht die Beklagte, daß der Vorwurf des LSG, ihre Pflicht zur Amtsermitt-
lung dahingehend, ob beim Versicherten eine Asbeststaublungenerkrankung bzw eine
durch Asbeststaub verursachte Erkrankung des Zwerchfelles vorlag, verletzt zu haben,
sich auch auf den Zeitraum vor dem Tode des Versicherten bezieht. Nach den Feststel-
lungen des LSG war der Beklagten bereits seit dem 4. Mai 1988 durch die Anzeige des
Allgemeinen Krankenhauses B. bekannt, daß beim Versicherten der Verdacht des
Vorliegens einer BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO bestand, ohne daß von ihr - vor
allem in Hinblick auf den ihr bekannten Gesundheitszustand des Versicherten - unver-
züglich die erforderlichen medizinischen Untersuchungen und Begutachtungen veranlaßt
wurden. Hinzu kommt, daß im Falle rechtzeitiger Ermittlungen der Klägerin ggf für das
Feststellungsverfahren über ihre Hinterbliebenenansprüche die Rechtsvermutung des
§ 589 Abs 2 Satz 2 RVO zugute gekommen wäre. Auch diese mögliche Rechtsvermutung
der Klägerin wurde durch das Verhalten der Beklagten vereitelt.


Dagegen sind nach der Auffassung des erkennenden Senats die Rügen der Revision be-
rechtigt, mit denen sie sich gegen die Schlußfolgerungen wendet, die das LSG aus dem
von der Beklagten verschuldeten Beweisnotstand der Klägerin gezogen hat. Das LSG
geht entsprechend der Rechtsprechung des BSG (BSGE 24, 25; 41, 297, 300; BSG SozR
Nr 60 zu § 128 SGG) und der Literatur (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 103 RdNrn 18,
19; § 128 RdNr 18; Bley in Gesamt-Komm, § 128 SGG Anm 4a ff; Krasney/Udsching,
Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, III, RdNrn 29, 159) von dem Grund-
satz aus, daß bei einem Beweisnotstand, auch wenn er auf einer fehlerhaften Beweiser-
hebung oder sogar auf einer Beweisvereitelung durch denjenigen beruht, dem die Uner-
weislichkeit der Tatsachen zum prozessualen Vorteil gereicht, keine Umkehr der Beweis-
last eintritt. Vielmehr sind die Tatsachengerichte in einem derartigen Fall berechtigt, im
Rahmen der vielfältigen Möglichkeiten der Beweiswürdigung (s ua Baumgärtel, Beweis-
lastpraxis im Privatrecht, 1996, S 152 ff) an den Beweis der Tatsachen, auf die sich der
Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen zu stellen (BSGE 24, 25). An die-
ser, auch vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) geteilten Rechtsauffassung
(BVerwGE 10, 270) hält der Senat trotz der beachtlichen abweichenden Ausführungen
von Keller (SGb 1995, 474) fest. Auch Keller geht zutreffend und in Übereinstimmung mit
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) davon aus, einem Beweisnotstand
jedenfalls zunächst einmal im Rahmen der Beweiswürdigung Rechnung zu tragen. Die
Fälle, in denen nach der Rechtsprechung des BGH eine Beweislastumkehr zu prüfen ist
(vgl Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, Band 1, 2. Aufl 1991, § 823 II RdNr 51, § 823
Anhang C II RdNrn 33, 64 und Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 267 ff,
297), unterscheiden sich wesentlich von denen, die dem vorliegenden Fall entsprechen (s

- 8 -



auch Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 266, RdNr 453). Insbesondere
kommt es weder im Rahmen der Amtsermittlungspflicht der Sozialleistungsträger (s
BVerwGE 10, 270, 272) noch grundsätzlich für die geltend gemachten materiell-
rechtlichen Ansprüche der Versicherten darauf an, ob einem der Beteiligten - oder in der
gesetzlichen Unfallversicherung dem Arbeitgeber - ein Verschulden trifft (vgl Baumgärtel
aaO § 823 Anhang C II RdNr 33; s auch BGH NJW 1985, 1774, 1775 und 1992, 754,
755). Eine gegenüber der Berücksichtigung des Beweisnotstandes im Rahmen der Be-
weiswürdigung sichere Handhabung bietet auch eine Beweislastumkehr nicht, deren Ein-
tritt ebenfalls nicht generell bei fehlerhafter Beweiserhebung oder Beweisvereitelung, son-
dern in diesen Fällen je nach den Umständen des Einzelfalls flexibel gestaltet sein
(Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 266 RdNr 453) und als letzte der sich
an die Beweiswürdigung anschließenden Maßnahmen eintreten soll (s auch BGHZ 72,
132, 139; Baumgärtel Handbuch aaO § 823 II RdNr 51, § 823 Anhang C II RdNr 64 und
Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 297 RdNr 508).


Die ständige Rechtsprechung des BSG, die sich im Ergebnis nicht zwangsläufig von de-
nen der Gegenmeinung und der Rechtsprechung des BGH unterscheiden muß, vermag
auch bei Beweisnotstand den in diesem Zusammenhang vom Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) betonten Grundsätzen - insbesondere des fairen Verfahrens und der Waffen-
gleichheit - wirksam zu beachten (s BVerfGE 52, 131, 153, 158; 54, 148, 157; s auch
BGHZ aaO; BVerfG DVBl 1991, 154; Reinhardt NJW 1994, 93). Es bleibt dem Tatsa-
chengericht im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung überlassen, je nach
den Besonderheiten des maßgebenden Einzelfalls schon einzelne Beweisanzeichen, im
Extremfall ein Indiz ausreichen zu lassen für die Feststellung einer Tatsache oder der dar-
aus abgeleiteten Bejahung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.
Hätte das LSG im Hinblick auf den Beweisnotstand der Klägerin aufgrund der gesamten
Umstände des vorliegenden Falles die Voraussetzungen der BK Nr 4104 und die Wahr-
scheinlichkeit des Kausalzusammenhangs zwischen dieser BK und dem Tod des Versi-
cherten bejaht, so wäre dies revisionsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden gewe-
sen.



Die demgegenüber vom LSG aus den angeführten Grundsätzen gezogene rechtliche
Schlußfolgerung, daß schon die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Asbestose beim
Versicherten ausreiche, ist unzutreffend (s auch BGH NJW 1990, 1721). Denn die Be-
fugnis der Tatsachengerichte, im Falle eines unverschuldeten Beweisnotstands ange-
sichts der konkreten Umstände des Einzelfalles an den Beweis weniger hohe Anforde-
rungen zu stellen, basiert auf dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
(§ 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ). Dieser Grundsatz bezieht sich nur auf
die zu würdigenden Tatsachen; er schließt nicht die Befugnis ein, das Beweismaß zu ver-
ringern oder frei darüber zu entscheiden, ob die Gewißheit erforderlich oder die Wahr-
scheinlichkeit ausreicht oder sogar die Möglichkeit genügt, damit eine Tatsache als fest-

- 9 -



gestellt oder der Kausalzusammenhang als gegeben angesehen werden kann. Die zu-
grunde zu legenden Beweismaßstäbe sind anders als die Beweiswürdigung im engeren
Sinn revisionsgerichtlich nachprüfbar (vgl Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Aufl
1994, § 108 VwGO RdNr 5).


Das LSG ist aufgrund seiner Rechtsauffassung von einem anderen Beweismaßstab bei
der Beurteilung des Kausalzusammenhangs ausgegangen und hat darauf seine Beweis-
würdigung ausgerichtet. Dem Revisionsgericht ist eine eigene Würdigung der Beweise
verwehrt. Deshalb mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneu-
ten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

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BSG, 2 RU 18/85 vom 10.04.1986, Bundessozialgericht
SG Bremen S 11 J 117/82 vom 11.04.1984
LSG Bremen L 1 J 15/84 vom 13.12.1984
BSG 2 RU 15/85 vom 30.04.1986, BSGE 60, 87 - 96

Bundessozialgericht

2 RU 15/85

Im Namen des Volkes

Verkündet am

30. April 1986

in dem Rechtsstreit

Klägerin und Revisionsbeklagte,

Prozeßbevollmächtigter

gegen

1.

Beklagte,

2.

Beklagter und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

beigeladen:

l.

Prozeßbevollmächtigter:

2.

- 2 -

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche
Verhandlung am 30. April 1986

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Beklagten zu 2) wird das Teilurteil
des Landessozialgerichts Bremen vom 13. Dezember 1984
geändert, soweit der Beklagte zu 2) zur Zahlung eines Be-
trages in Höhe von 297,10 DM für den Monat Juni 1981 an die
Klägerin verurteilt worden ist.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialge-
richts Bremen vom 11. April 1984 wird auch insoweit zu-
rückgewiesen, als sie die Klage gegen den Beigeladenen zu 2)
für den Monat Juni 1981 betrifft.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Streitig ist, ob die Beklagten von den der Beigeladenen zu 1)
zustehenden Renten Teilbeträge auf Grund eines Pfändungs- und

- 3 -

Uberweisungsbeschlusses an die klagende Bank abzuführen haben,
obwohl die Beigeladene zu 1) zuvor zwei Abtretungserklärungen
hinsichtlich des pfändbaren Teils der ihr zustehenden Rentenan-
sprüche unterschrieben hatte.

Die Beigeladene zu 1) bezieht als Witwe des durch einen Arbeits-
unfall am 25. Mai 1971 verstorbenen Versicherten H.
G. sowohl eine Witwenrente von der Beklagten zu 1) (: LVA
für das Saarland) als auch von dem Beklagten zu 2) (: GUV für das
Saarland); die Höhe der von der Beklagten zu 1) bezogenen Wit-
wenrente betrug - nach dem Stand vom 1. Januar 1981 - 237,10 DM
monatlich, die Höhe der von dem Beklagten zu 2) bezogenen Wit-
wenrente - ebenfalls nach dem Stand vom 1. Januar 1981 -
1.104,80 DM monatlich. Die Kinder der Beigeladenen zu 1) M.
geb. am 5. Juni 1966, und C. , geb. am 9. Dezember 1970,
bezogen Waisenrenten, und zwar von der Beklagten zu 1) in der
Gesamthöhe von 305,80 DM monatlich sowie von dem Beklagten zu 2)
in der Gesamthöhe von 1.104,80 DM monatlich (Stand: 1. Januar
1981).

Unter dem Datum vom 28. Mai 1979 unterzeichnete die Beigeladene
zu 1) eine formularmäßige Abtretungserklärung, mit der sie zur
Sicherung eines ihr von der Beigeladenen zu 2) gewährten Kredits
den pfändbaren Teil ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Ansprüche
gegen den Beklagten zu 2) auf Zahlung der ihr zustehenden Rente
bzw Pension gemäß § 53 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner
Teil - (SGB I) unwiderruflich an die Beigeladene zu 2) abtrat.
Hiervon unterrichtete die Beigeladene zu 2) den Beklagten zu 2)

- 4 -

mit Schreiben vom 13. Juli 1979. Außer dieser Erklärung befindet
sich in den Akten des Beklagten zu 2) eine weitere von der Bei-
geladenen zu 1) unterzeichnete, wörtlich gleichlautende formu-
larmäßige Abtretungserklärung - ebenfalls vom 28. Mai 1979 -, in
der ein Schuldner jedoch nicht bezeichnet ist.

Mit Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß des Amtsgerichts Saar-
brücken vom 18. Februar 1981, der der Beklagten zu 1) am
25. Februar 1981 und dem Beklagten zu 2) am M. März 1981 zuge-
stellt wurde, pfändete die Klägerin wegen einer Forderung in Höhe
von 21.778,37 DM zuzüglich Zinsen und Kosten die gegenüber den
Beklagten bestehenden Rentenansprüche der Beigeladenen zu 1). In
dem Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß ordnete das Amtsgericht
gemäß § 850c Abs 4 der Zivilprozeßordnung (ZPO) an, daß die Kin-
der der Beigeladenen zu 1), M. und C. , bei der Berech-
nung des pfändbaren Teils des Einkommens nicht zu berücksichtigen
seien; außerdem verfügte es zugleich die Zusammenrechnung der
gepfändeten Renten gemäß § 850e Nr 2 und 2a ZPO. Die Beklagten
verständigten sich daraufhin am 5. März 1981 dahingehend, daß
die Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung weiterhin
in voller Höhe an die Beigeladene zu 1) auszuzahlen und der
gesamte pfändbare Teil aus der Witwenrente der Unfallversicherung
zu entnehmen sei. Durch einen weiteren Beschluß vom 3. Juni
1981, welcher der Beklagten zu 1) am 15. Juni 1981 und dem Be-
klagten zu 2) am 12. Juni 1981 zugestellt wurde, änderte das
Amtsgericht den Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß dahingehend
ab, daß der Beigeladenen zu 1) von den zusammengerechneten Renten
in Anlehnung an die Sozialhilferichtlinien gemäß § 54 Abs 3 SGB I

- 5 -

ein unpfändbarer Betrag in Höhe von 1.000,-- DM monatlich ver-
bleiben sollte.

Der Beklagte zu 2) zahlte daraufhin auf Grund der ihm vorliegen-
den Abtretungserklärungen vom 28. Mai 1979 ab Juni 1981 an die
Beigeladene zu 2) einen Betrag in Höhe von 3A1,90 DM monatlich
aus, und zwar unter Berücksichtigung der Anordnungen des Pfän-
dungs- und Uberweisungsbeschlusses sowie des Beschlusses vom
3. Juni 1981. Der Beigeladenen zu 1) verblieben danach von den
zusammengerechneten Renten in der Gesamthöhe von 1.341,90 DM ab
Juni 1981 ihre gesamte Witwenrente aus der Rentenversicherung in
Höhe von 237,10 DM monatlich sowie ein Teil ihrer Witwenrente aus
der Unfallversicherung in Höhe von 762,90 DM monatlich, insgesamt
der vom Amtsgericht Saarbrücken festgesetzte unpfändbare Betrag
in Höhe von 1.000,-- DM monatlich. Zahlungen auf Grund des
Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses an die Klägerin lehnte der
Beklagte zu 2) durch seine Schreiben vom 27. Mai, 14. Juli und
27. November 1981 ab.

Das Sozialgericht (SG) Bremen hat die hiergegen gerichtete Klage
auf Auszahlung der auf Grund des Pfändungs- und Uberweisungsbe—
schlusses pfändbaren Rentenbeträge abgewiesen (Urteil vom
11. April 198U). Durch Teilurteil hat das Landessozialgericht
(LSG) Bremen auf die Berufung der Klägerin das erstinstanzliche
Urteil abgeändert und den Beklagten zu 2) verurteilt, an die
Klägerin für den Monat Juni 1981 297,10 DM als pfändbaren Betrag
zu zahlen. Im übrigen hat es die Klage gegen den Beklagten zu 2)
bezüglich des Monats Juni 1981 und die Klage gegen die Beklagte

- 6 -

zu 1) in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 13. Dezember
1984). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Von den
Renten des Monats Juni 1981 seien nach dem Pfändungs- und Über-
weisungsbeschluß (vom 18. Februar 1981) sowie dem Beschluß vom
3. Juni 1981 der über 1.000,-- DM hinausgehende Teil, insgesamt
341,90 DM, pfändbar. Die zeitlich früher vorgenommene Abtretung
genieße gegenüber der späteren Pfändung zwar Vorrang, dieser
Vorrang setze sich aber nur in Höhe von 44,80 DM zugunsten der
Beigeladenen zu 2) durch. Rechtsgrundlage der Abtretung sei § 53
Abs 3 SGB I. § 53 Abs 2 Nr 2 SGB I sei schon deshalb nicht anzu-
wenden, weil es an ausdrücklichen Feststellungen der Beklagten
fehle, daß die Übertragung der Rentenanteile im wohlverstandenen
Interesse der Beigeladenen zu 1) liege. wirksam abgetreten sei
nur der gegenüber dem Beklagten zu 2) bestehende Rentenanspruch,
der gemäß § 53 Abs 3 SGB I iVm § 8500 ZPO in der ab 1. Januar
1981 geltenden Fassung sowie der dazugehörigen Tabelle des § 850c
Abs 3 ZPO unter Berücksichtigung der Unterhaltsgewährung der
Beigeladenen zu 1) für ihre beiden Kinder in Höhe von 44,80 DM
pfändbar und somit abtretbar gewesen sei. Der Beklagte zu 2)
müsse an die Klägerin den Differenzbetrag von 297,10 DM zwischen
dem gepfändeten (= 341,90 DM) und dem abgetretenen Betrag (:
44,80 DM) abführen. Nicht wirksam abgetreten sei dagegen der
Rentenanspruch der Beigeladenen zu 1) gegenüber der Beklagten
zu 1). Die von der Beigeladenen zu 1) unterzeichnete Abtretungs-
erklärung, in der ein Drittschuldner nicht benannt sei, verstoße
gegen das Bestimmtheitsgebot, zumal die Forderung gegen die Be-
klagte zu 1) bereits bestanden habe und insoweit individuali-
sierbar gewesen sei. Der Rentenanspruch gegenüber der Beklagten

- 7 -

zu 1) sei im übrigen ohnehin in vollem Umfang unpfändbar und so-
mit unabtretbar gewesen, weil dieser unter dem damals unpfändba-
ren Grundbetrag in Höhe von 559,-- DM monatlich gelegen habe. Die
Zusammenrechnung der beiden Renten wie auch die Nichtberücksich-
tigung der beiden Kinder der Beigeladenen zu 1) für die Berech-
nung des unpfändbaren Teils des Einkommens wirke nur zugunsten
der Klägerin, nicht der Beigeladenen zu 2). Es fehle insbesondere
eine Verweisungsvorschrift, nach der eine solche Zusammenrechnung
verschiedener Einkünfte bzw die Nichtberücksichtigung unter-
haltsberechtigter Personen auch etwa vorhandenen Abtretungsgläu-
bigern zugute komme. Selbst wenn ein Abtretungsgläubiger ein den
§§ 8500 Abs U und 850e Nrn 2 und 2a ZPO entsprechendes Antrags-
recht haben sollte, fehle es an einem entsprechenden Antrag der
Beigeladenen zu 2). Zudem beeinträchtige die Erhöhung des pfänd-
baren Betrages zugunsten der vorrangigen Abtretungsgläubiger den
Schutz des Schuldners, den die §§ 53 ff SGB I im Auge hätten.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte zu 2) hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er rügt die
Verletzung von Bundesrecht und begründet dies zunächst damit, daß
die Klage wegen Verstoßes gegen § 54 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG) unzulässig sei. Die Klägerin sei in der Lage gewesen, im
einzelnen das pfändbare Renteneinkommen ziffernmäßig anzugeben.

Auch komme vorliegend nicht eine Leistungsklage, sondern eine
Anfechtungsklage in Betracht, da es sich bei seinen Schreiben vom
27. Mai und 14. Juli 1981 um Verwaltungsakte gehandelt habe.

Die Pfändung der Klägerin auf Grund des Pfändungs- und Überwei-
sungsbeschlusses sei im übrigen ins Leere gegangen. Nach dem

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Prioritätsprinzip gehe eine zeitlich frühere Abtretung einer
späteren Pfändung vor. Im Gegensatz zur Auffassung des LSG liege
eine wirksame Abtretung auch der gegenüber der Beklagten zu 1)
bestehenden Rentenansprüche der Beigeladenen zu 1) vor. Maßgeb-
lich hierfür sei allein der Wille der Parteien des Abtretungs-
Vertrages. Da die Abtretung gemäß § 398 des Bürgerlichen Gesetz-
buches (BGB) nicht an eine bestimmte Form gebunden sei, sei
hierfür auf alle Umstände abzustellen. Die Tatsache, daß die
Beigeladene zu 1) neben der Abtretungserklärung bezüglich der
Rentenansprüche gegenüber dem Beklagten zu 2) eine weitere Ab-
tretungserklärung unterzeichnet habe, habe nur den Sinn, weitere
Rentenleistungen an die Beigeladene zu 2) abzutreten. Hierfür
komme es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH)
allein darauf an, ob die abgetretene Forderung genügend indi-
vidualisierbar sei, wofür die Bezeichnung des Drittschuldners in
der schriftlichen Urkunde nicht erforderlich sei. Die Wirksamkeit
der Abtretung sei nach § 53 Abs 3 SGB I zu beurteilen. Diese Re-
gelung bezwecke ebenso wie die des § 54 SGB I vor allem den
Schutz des Leistungsempfängers davor, durch die Abtretung oder
Pfändung sozialhilfebedürftig zu werden. Die Frage der Sozial-
hilfebedürftigkeit werde aber auch bei einer Abtretung nicht wie
jede einzelne Sozialleistung gesondert ermittelt, sondern richte
sich danach, ob dem Sozialleistungsempfänger insgesamt genug zum
Leben bleibe. Unabhängig von einem konkreten Antrag der Beige-
ladenen zu 2) habe der Beklagte zu 2) daher die Arbeitseinkommen
und Sozialleistungen zusammenzurechnen. Die Wirkung der Zusam-
menrechnung gemäß § 850e Nr 2a ZPO trete also unabhängig davon
ein, ob ein späterer Pfandgläubiger im Verfahren vor dem Voll-

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streckungsgericht einen entsprechenden Antrag stelle oder nicht.

Dies gelte ebenso für die Nichtberücksichtigung der unterhalts-
berechtigten Kinder gemäß § 8500 Abs 4 ZPO. Der Beklagte zu 2)
habe sich im Rahmen seiner Prüfung nach § 53 Abs 3 SGB I insofern
an die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts halten können,
weil hierdurch die tatsächlichen Umstände iS des § 850c Abs 4 ZPO
zutreffend berücksichtigt worden seien.

Der Beklagte zu 2) beantragt,

das Urteil des LSG Bremen vom 13. Dezember
198M aufzuheben und die Berufung der Klägerin
zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision des Beklagten zu 2) zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, daß die Schreiben des Beklagten zu
2) vom 27. Mai und 1A. Juli 1981 keine Verwaltungsakte, sondern
lediglich Anfragen an die Klägerin seien. Die somit allein in
Betracht kommende Leistungsklage, zu deren Stellung das SG an-
stelle einer Feststellungsklage zudem ausdrücklich aufgefordert
habe, sei trotz fehlender genauer Bezifferung des geforderten
Geldbetrages hinreichend konkretisiert und damit zulässig. Zudem
sei nicht nachgewiesen, daß die Abtretung der Rentenansprüche der
Beigeladenen zu 1) zugunsten der Beigeladenen zu 2) bereits am
26. Mai 1979 wirksam geworden sei. Die von der Beigeladenen zu
1) unterzeichneten Abtretungserklärungen tragen zwar das Datum
vom 28. Mai 1979, es sei aber nicht erkennbar, ob und wann dié

- 10 -

Beigeladene zu 2) diese Abtretungserklärungen angenommen habe. Da
die Beigeladene zu 2) ihren Sitz in Koblenz habe, die Abtre-
tungserklärungen jedoch in Saarbrücken unterschrieben worden
seien, hätten diese als einseitiges Angebot zu wertenden Erklä-
rungen nach § 147 Abs 2 BGB nur innerhalb einer Zeitspanne von
einer Woche oder mehr angenommen werden können. Ein nicht recht-
zeitig angenommenes Angebot stelle rechtlich ein nullum dar.

Diese zeitlich unklaren Verhältnisse seien insbesondere deshalb
von Bedeutung, weil die Beigeladene zu 1) auch ihr (der Klägerin)
gegenüber die Rentenansprüche abgetreten habe. Diese Abtretungs-
erklärung, die sich auf dem von der Beigeladenen zu 1) am
1. Juni 1979 unterzeichneten Kreditantrag befinde, sei von ihr
am 15. Juni 1979 angenommen worden. Die ihr (der Klägerin) ge-
genüber vorgenommene Abtretung sei somit am 15. Juni 1979 und
damit zu einem Zeitpunkt wirksam geworden, als die Abtretungen
zugunsten der Beigeladenen zu 2) noch nicht wirksam gewesen
seien.

Der Beklagte zu 2) hat zur Frage der Wirksamkeit des zwischen den
Beigeladenen zu 1) und 2) geschlossenen Abtretungsvertrages mit
Schriftsatz vom 24. Juni 1985 Stellung genommen. Dieser Ab-
tretungsvertrag sei am 28. Mai 1979, dem Tage der Unterzeichnung
zustande gekommen. Für die Beigeladene zu 2) sei in Saarbrücken
ein Vertreter tätig gewesen, so daß es nicht auf deren Ge-
schäftssitz in Koblenz ankomme. Dieser Vertreter habe der Beige-
ladenen zu 1) sowohl ein Darlehen gewähren als auch mit dieser
Verträge über die Abtretung von Rentenansprüchen schließen kön-
nen.

- 11 -

Die Beklagte zu 1) beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladenen zu 1) und 2) stellen keinen Antrag.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die
Schriftsätze vom 23. April 1985, 8. Mai 1985, 12. Juni 1985,
22. Juni 1985 und 5. Juli 1985 Bezug genommen.

II

Die zulässige Revision des Beklagten zu 2) ist begründet.
Die Klägerin begehrt mit der von ihr erhobenen Klage von den Be-
klagten zu 1) und 2) in Ausführung des Pfändungs- und Überwei-
sungsbeschlusses vom 18. Februar 1981 sowie des Beschlusses vom
3. Juni 1981 Zahlung des pfändbaren Teils der Renteneinkommen
ier Beigeladenen zu 1).

Da nur der Beklagte zu 2) Revision eingelegt hat, hat der Senat
auch nur über das Urteil des LSG zu entscheiden, soweit es die
gegen den Beklagten zu 2) gerichtete Klage betrifft. Das LSG hat
hierüber gemäß § 202 SGG iVm § 301 ZPO durch Teilurteil ent-
schieden, indem es über einen Teil des geltend gemachten An-
spruchs, nämlich nur für den Monat Juni 1981 entschieden und die
Entscheidung für den übrigen Zeitraum dem Schlußurteil vorbehal-
ten hat. Gegenstand der revisionsrechtlichen Prüfung ist daher

- 12 -

nur der Klageanspruch gegen den Beklagten zu 2) für den Monat
Juni 1981. Der von der Klägerin gegenüber dem Beklagten zu 2)
geltend gemachte weitergehende Anspruch für den übrigen Zeitraum
ist noch in der Berufungsinstanz anhängig und damit der Prüfung
durch den erkennenden Senat entzogen.

Das LSG hat zutreffend den Rechtsweg zu den Gerichten der So-
zialgerichtsbarkeit bejaht. Die Klägerin macht die Ansprüche der
Beigeladenen zu 1) auf die Hinterbliebenenrenten aus der ge-
setzlichen Renten- und Unfallversicherung im eigenen Namen gel-
tend, soweit sie ihr aufgrund der Pfändung zur Einziehung über-
wiesen sind. Da die Rechtsnatur eines Anspruchs durch seine
Pfändung und Überweisung nicht geändert wird und der Streit um
Rente aus der gesetzlichen Unfall- oder Rentenversicherung eine
öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der
Sozialversicherung iS des § 51 Abs 1 SGG ist, ist der Sozial-
rechtsweg gegeben (vgl ua BSGE 18, 76, 78; 53, 182, 183; SozR
1200 § 5A Nr 6; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung,
10. Auflg, S 187u).

Die von der Klägerin erhobene echte Leistungsklage ist gemäß § 54
Abs 5 SGG zulässig. Hiernach kann die Verurteilung zu einer Lei-
stung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt
werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Ein sol-
cher Fall liegt jedenfalls dann vor, wenn - wie hier - zwischen
den Beteiligten nicht streitig ist, ob und in welcher Höhe der
Schuldnerin (: Beigeladene zu 1) Rentenleistungen aus der ge-
setzlichen Renten- und Unfallversicherung zustehen, sondern le-

- 13 -

diglich die Frage umstritten ist, ob und ggf welcher Teil der
Sozialleistungen aufgrund der Pfandung an die Pfändungsgläubige-
rin auszuzahlen ist. Bei dieser Sachlage bedurfte es keiner er-
neuten Regelung durch einen Verwaltungsakt, so daß vor Erhebung
der echten Leistungsklage auf Zahlung des pfändbaren Betrages der
Witwenrenten die Durchführung eines Vorverfahrens nicht erfor-
derlich wer (BSG 30zR 1200 § 5M Nr 5 S b, 7; BSGE 18, 76, 77 f).

Hieran ändern auch die beiden Schreiben des Beklagten zu 2) vom
27. Mai und 14. Juli 1482 nichts. Zwar ist es für die Wertung
einer Verwaltungshandlung als Verwaltungsakt unerheblich, ob die
Behörde zu seinem Erlaß befugt gewesen ist oder ob sie im kon-
kreten Fall überhaupt hoheitlich tätig werden durfte. Für das
Vorliegen eines Verwaltungsakts reicht es aus, daß der äußeren
Erscheinungsform nach eine hoheitliche Maßnahme zur Regelung ei-
nes Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts vorliegt.

Entscheidend hierfür ist, daß das Verwaltungshandeln seinem ln-
halt nach die Merkmale des § 31 SGB X erfüllt und erkennbar den
Willen der Benörde ausdrückt, auf dem Gebiet des öffentlichen
Rechts einen Einzelfall verbindlich zu regeln (vgl ua BSGE 15,
7b, 78 mwN; 19, 123, 124; Schneider-Danwitz in RVO/SGB-Gesamt-
Kommentar, Stand Dezember 1981, § 31 SGB X Anm 7 mwN;
Schröder-Printzen/Engelmann, SGB X, 1981, § 31 Anm 1,2). In
diesem Sinne ist der Beklagte zu 2) gegenüber der Klägerin jedoch
nicht tätig geworden. Die beiden Schreiben vom 27. Mai und
14. Juli 1981 sind - im Gegensatz zur Auffassung der Revision -
nicht als Verwaltungsakte zu werten, de sie ihrem Inhalt nach
nicht die Voraussetzungen des § 31 BGB X erfüllen. Das Schreiben
vom 27. Mai 1981 beinhaltet lediglich eine Darstellung des

- 14 -

Rechtsstandpunktes des Beklagten zu 2), mit dem das Zahlungsbe-
gehren der Klägerin abgelehnt wurde. Mit dem weiteren Schreiben
vom 14. Juli 1981 wiederholt der Beklagte zu 2) unter Bezugnahme
auf sein vorhergehendes Schreiben vom 27. Mai 1981 lediglich
diesen ablehnenden Rechtsstandpunkt. Da somit ein Verwaltungsakt
des Beklagten zu 2) nicht erforderlich war und auch nicht vor-
liegt, war die Durchführung eines Vorverfahrens und mithin die
Erhebung einer Anfechtungsklage nicht notwendig; die Klägerin hat
daher hier zutreffend eine Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG
erhoben.

Entgegen der Auffassung des Beklagten zu 2) ist diese Leistungs-
klage zulässig, obwohl die Klägerin ihren Antrag nicht im ein-
zelnen beziffert hat. Zwar gilt auch im sozialgerichtlichen Ver-
fahren als Zulässigkeitsvoraussetzung das Erfordernis eines be-
stimmten Klageantrages (Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl 1981, § 92
Anm 5); hieraus folgt jedoch nicht, daß bei einer auf eine Geld-
leistung gerichteten Klage der geforderte Geldbetrag genau be-
ziffert werden müßte (Meyer-Ladewig, aaO, § 92 Anm 5; anderer
Ansicht wohl Bley in RVO/SGB-Gesamtkomm, Stand Juli 1983, § 54
SGG Anm 11c). Dieser in anderen Rechtsgebieten anerkannte Grund-
satz (vgl für die Zivilgerichtsbarkeit ua BGH NJW 1982, 340f mwN;
für die Verwaltungsgerichtsbarkeit BVerwGE 12, 189 und Hess VGH
Hess VGRspr 1977, 62, 63; Eyermann/Fröhler, VwGO, 8. Aufl 1980,
§ 82 Rdn 4; Kopp, VwG0, 7. Auflage 1986, § 82 Rdn 10), nach dem
dem Bestimmtheitsgebot jedenfalls dann genügt ist, wenn neben
einer hinreichend genauen Darlegung des anspruchsbegründenden
Sachverhalts wenigstens die ungefähre Höhe des verlangten Be-

- 15 -

trages angegeben wird, gilt auch im sozialgerichtlichen Verfah-
ren, zumal § 130 SGG bei einer auf eine Geldleistung gerichteten
echten Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs 5 SGG die Verurtei-
lung dem Grunde nach erlaubt, und zwar ohne daß - wie nach § 111
VwGO und auch § 304 ZPO erforderlich - der Anspruch dem Grunde
und der Höhe nach streitig ist. Aus der Befugnis zum Erlaß eines
Grundurteils nach § 130 SGG ergibt sich konsequenterweise, daß
ein entsprechender, hierauf gerichteter, nicht bezifferter Kla-
geantrag zulässig ist.

Die danach zulässige Leistungsklage ist hinsichtlich des gegen-
über dem Beklagten zu 2) geltend gemachten Klageanspruchs für den
Monat Juni 1981 jedoch unbegründet. Das LSG hat den Beklagten
zu 2) zu Unrecht zur Zahlung von 297,10 DM für den Monat Juni
1981 verurteilt.

Dies ergibt sich aus den Wirkungen der hier vorliegenden nach-
einander erfolgten Abtretung und Pfändung der Rentenansprüche der
Beigeladenen zu 1). Hat ein Leistungsberechtigter seine Sozial-
leistungsansprüche an einen Dritten abgetreten, so gilt im Falle
des Zusammentreffens dieser Abtretung mit einer zeitlich nach-
folgenden Pfändung das Prioritätsprinzip, soweit es sich bei dem
Abtretungsgläubiger und dem Pfändungsgläubiger - wie hier bei der
Beigeladenen zu 2) und der Klägerin - nicht um bevorrechtigte
Unterhaltsberechtigte handelt (vgl Brackmann aaO S 738 m; von
Maydell in GK-SGB I, 2. Aufl 1981, § 53 Rz 41; Heinze in
Bochumer Kommentar, SGB AT, 5 53 Rz 40; SGB I, Allgemeiner Teil,
BfA/VDR, 6. Aufl 1983, § 53 Anm 8.3). Ist also ein Anspruch auf

- 16 -

Sozialleistungen nach dem SGB zunächst in den Grenzen des § 860c
ZPO abgetreten, so kommt bei einer nachfolgenden Pfändung der
Pfändungsgläubiger nur insoweit zum Zuge, als die Sozialleistung
von der vorausgegangenen Abtretung nicht erfaßt war. Gemäß § 398
Satz 2 BGB wird nämlich der Zessionar mit der Abtretung einer
Forderung eines Schuldners neuer Gläubiger des Drittschuldners,
so daß die Forderung nicht mehr zum Vermögen des Schuldners
gehört (Stöber, Forderungspfändung, 7. Auflage 1984, Rdnr 764,
1248; BAGE 41, 297, 300; OLG Hamm Rechtspfleger 1978, 186), dh,
die Klägerin als nachrangige Pfändungsgläubigerin kann mit ihrer
Pfändung nur insoweit Erfolg haben, als die Witwenrentenansprüche
der Beigeladenen zu 1) nicht wirksam an die Beigeladene zu 2)
abgetreten sind. Die Beigeladene zu 1) hat aber von der ihr für
den Monat Juni 1981 zustehenden Witwenrente aus der gesetzlichen
Unfallversicherung einen Betrag - wie unten noch näher darzulegen
ist - in Höhe von 378,70 DM wirksam an die Beigeladene zu 2) ab-
getreten.

Zutreffend hat das LSG die Wirksamkeit der Abtretung der Witwen-
rentenansprüche nicht nach Maßgabe des § 53 Abs 2 Nr 2 SGB I,
sondern nach § 53 Abs 3 SGB I beurteilt. Danach können Ansprüche
auf laufende Geldleistungen, die - wie die Witwenrenten der Bei-
geladenen zu 1) - der Sicherung des Lebensunterhalts dienen, in
anderen Fällen übertragen und verpfändet werden, soweit sie den
für Arbeitseinkommen geltenden unpfändbaren Betrag übersteigen.

§ 53 Abs 2 Nr 2 SGB I, wonach Ansprüche auf Geldleistungen über-
tragen und verpfändet werden können, wenn der zuständige Lei-
stungsträger feststellt, daß die Übertragung und Verpfändung im

- 17 -

wohlverstandenen Interesse des Berechtigten liegt, ist hier schon
deshalb nicht einschlägig, weil es an einer entsprechenden Fest-
stellung des wohlverstandenen Interesses durch die Beklagte zu 1)
und den Beklagten zu 2) fehlt, die zudem durch Verwaltungsakt zu
erfolgen hat (allg Ansicht vgl ua BSG SozR 1200 § 53 Nr 2 S 0;
Hauck/Haines, SGB I, K § 53 Rz 8 aE., Heinze in Bochumer Kom-
mentar, SGB AT, § 53 Rz 21). Die Beigeladene zu 1) konnte somit
ihre gegenüber den Beklagten zu 1) und 2) bestehenden Witwen-
rentenansprüche an die Beigeladene zu 2) gemäß § 53 Abs 3 SGB I
wirksam nur innerhalb der für Arbeitseinkommen geltenden Pfän-
dungsgrenzen abtreten. Die Pfändbarkeit von Arbeitseinkommen er-
gibt sich aus § 850c Abs 1 ZPO in der hier anzuwendenden Fassung
des Artikels 1 Nr 6 des M. Gesetzes zur Änderung der Pfändungs-
freigrenzen vom 28. Februar 1978 (BGBl I S 333) sowie der maß-
gebenden Tabelle zu § 8500 Abs 3 ZPO (: Anlage zu § 850c ZPO idF
des Art 1 Nr 9 des M. Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfrei-
grenzen, Umbenennung mit Wirkung vom 1. Januar 1981 in Anlage 2
durch Art 1 Nr 13 des Gesetzes über die Prozeßkostenhilfe vom
13 Tuni 1980 — BGBl I S 677). Der pfändungsfreie Betrag ist
dabei, sofern — wie hier - verschiedene Ansprüche gegen ver-
schiedene Schuldner abgetreten werden, für jeden Anspruch geson-
dert nach § 850c ZPO zu ermitteln (Stein/Jonas/Münzberg, ZPO,
20. Aufl aaO, § 850e Rdnr 19, 32; s. auch Grunsky in ZIP 1983,
908, 909).

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat die Beigeladene
zu 1) am 28. Mai 1979 hinsichtlich ihres gegenüber dem Beklagten
zu 2) bestehenden Witwenrentenanspruches eine formularmäßige Ab-

- 13 -

tretungserklärung zu Gunsten der Beigeladenen zu 2) unterzeich-
net. Hiervon hat die Beigeladene zu 2) den Beklagten zu 2) mit
Schreiben vom 13. Juli 1979 in Kenntnis gesetzt, so daß davon
auszugehen ist, daß die Abtretungserklärung der Beigeladenen zu
1) spätestens zu diesem Zeitpunkt von der Beigeladenen zu 2) an-
genommen (vgl §§ 147 bis 152 BGB) und somit der zwischen den
Beigeladenen zu 1) und 2) geschlossene Abtretungsvertrag eben-
falls spätestens zu diesem Zeitpunkt wirksam geworden ist. Dies
hat zur Folge, daß die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfall-
versicherung von der Beigeladenen zu 1) an die Beigeladene zu 2)
vorrangig vor der im Jahre 1981 und damit zeitlich späteren
Pfändung durch die Klägerin abgetreten worden ist. Hiervon ist
das LSG im angefochtenen Urteil auch zu Recht ausgegangen. Die
diesbezüglichen tatsächlichen Feststellungen des LSG sind mit
zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angegriffen wor-
den und damit für den Senat bindend (§ 163 SGG).

Der Wirksamkeit steht auch nicht entgegen, daß auf der in den
Akten des Beklagten zu 2) befindlichen Abtretungserklärung die
Unterschrift der Beigeladenen zu 1) — worauf die Klägerin im Re-
visionsverfahren hinweist — nicht beglaubigt ist. Die Beglau-
bigung der Unterschrift ist nur eine auf dem Abtretungsformular
vorgesehene Möglichkeit der Absicherung der Unterschriftslei-
stung. Dem Abtretungsvertrag sind keine Anhaltspunkte zu ent-
nehmen, daß seine Wirksamkeit von diesem gesetzlich nicht vor-
geschriebenen Formerfordernis abhängig sein soll.

Die Klägerin hält zwar die Vorrangigkeit der Abtretung zu Gunsten

- 19 -

der Beigeladenen zu 2) für zweifelhaft und führt hierzu in ihrer
Revisionserwiderung aus, daß die Beigeladene zu 1) am 1. Juni
1979 ihr gegenüber die Rentenansprüche ebenfalls abgetreten habe
und diese Abtretung aufgrund ihrer Annahmeerklärung vom 15. Juni
1979 zu einem Zeitpunkt wirksam geworden sei, als die Abtretung
vom 28. Mai 1979 zu Gunsten der Beigeladenen zu 2) mangels Vor-
liegen einer entsprechenden Annahmeerklärung noch nicht wirksam
gewesen sei. Hierin könnte die Rüge mangelnder Sachaufklärung
(§ 103 SGG) zu sehen sein. Derartige Verfahrensrügen können zwar
auch vom Revisionsbeklagten im Wege der sogenannten Gegenrüge bis
zum Schluß der mündlichen Verhandlung vorgebracht werden (BSG
SozR 1500 § 16A Nr 2H mwN; Meyer-Ladewig, aaO, § 170 RdNr A mwN),
jedoch entsprechen die Ausführungen der Klägerin nicht den Er-
fordernissen des § 166 Abs 2 Satz 3 SGG. Hierfür hätte die Klä-
gerin die den Verfahrensmangel vermeintlich begründenden Tat-
sachen substantiiert darlegen müssen, wozu insbesondere dieje-
nigen Gründe gehören, aufgrund derer sich das LSG von seinem
sachlich—rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt sehen müssen,
weitere Ermittlungen zur Sachverhaltsaufklärung anzustellen und
in welcher Hinsicht derartige Ermittlungen unterlassen worden
sind (vgl BSG SozR 2200 § 160a Nr 3M mwN; SozR Nr ÖH zu § 102
SGG; SozR Nr 1A zu § 103 SGG). Da das Rangverhältnis zwischen der
Abtretung zu Gunsten der Beigeladenen zu 2) und dem von der Klä-
gerin erwirkten Pfändungs— und Uberweisungsbeschluß und somit der
zeitliche Vorrang der Abtretung vor der Pfändung nicht umstritten
war, hätte die Klägerin diesbezüglich näher darlegen müssen,
welche Umstände das LSG hätten veranlassen müssen, den genauen
Zeitpunkt der Annahme der Abtretungserklärung der Beigeladenen zu

- 20 -

1) durch die Beigeladene zu 2) zu ermitteln und ob die Beige-
ladene zu 1) noch eine weitere Abtretungserklärung, und zwar zu
Gunsten der Klägerin unterschrieben hätte. Die Tatsache des Vor-
handenseins einer weiteren Abtretungserklärung der Beigeladenen
zu 1) vom 1. Juni 1979 zu Gunsten der Klägerin, die aufgrund der
zeitlichen Nähe zu der Abtretung vom 28. Mai 1979 für die zeit-
liche Rangfolge der verschiedenen Abtretungen und der Pfändung
von Bedeutung sein könnte, hat die Klägerin erst im Revisions-
verfahren vorgebracht, obwohl ihr diese Tatsache als weitere Ab-
tretungsgläubigerin von Anfang an bekannt gewesen ist, so daß sie
diese spätestens im Berufungsverfahren hätte vorbringen können.

Im Revisionsverfahren ist derartiges neues Tatsachenvorbringen
nur unter den Voraussetzungen des § 163 SGG zu berücksichtigen,
die hier aber nicht gegeben sind.

Ausgehend von diesem vom LSG festgestellten und für den Senat
somit maßgebenden Sachverhalt hat das LSG zu Unrecht die für den
Monat Juni 1981 von dem Beklagten zu 2) zu gewährende Witwenrente
von 1.104,80 DM lediglich in Höhe eines Betrages von 44,80 DM
als pfändbar und damit abtretbar angesehen. Das LSG ist bei der
Bemessung des unpfändbaren Betrages von einer Unterhaltsgewährung
der Beigeladenen zu 1) an ihre beiden Kinder im Sinne des § 850c
Abs 1 Unterabs 2 ZPO ausgegangen; es hat hierbei jedoch nicht
dargelegt, woraus sich ein Unterhaltsanspruch der beiden Kinder
M. und C. gegenüber ihrer Mutter, der Beigeladenen zu
1), ergibt, denn nur aufgrund eines Unterhaltsanspruchs gelei-
stete Zahlungen sind im Rahmen dieser Vorschrift beachtlich.

- 21 -

§ 850c Abs 1 ZPO stellt hinsichtlich der Bemessung des unpfänd-
baren Teils des Einkommens auf den gesetzlichen Unterhalt ab.

Ausgehend von einem unpfändbaren Grundbetrag von seinerzeit
559,00 DM (§ 850c Abs 1 Unterabs 1 ZPO in der oa anzuwendenden
Fassung) richtet sich die Höhe des unpfändbaren Teils des Ein-
kommens des weiteren danach, ob der Schuldner, dh hier die Bei-
geladene zu 1), eine Unterhaltsverpflichtung hat. Der pfändungs-
freie Teil des Einkommens erhöht sich dabei nach § 850c Abs 1
Unterabs 2 ZPO, wenn der Schuldner ua einem Verwandten, wozu
eheliche oder nichteheliche (§§ 1615a ff BGB) Kinder etc gehören,
kraft Gesetzes unternaltspflichtig ist und tatsächlich Unterhalt
gewährt (vgl ua BAG AP Nr 2 mwN und AP Nr 3 zu § 850c ZPO). Lei-
stungen an Verwandte, die sich selbst unterhalten können, sind
daher gemäß § 1602 Abs 1 BGB nicht zu berücksichtigen (Stein/
Jonas/Münzberg, aa0, § 850c RdNr 15; Baumbach/Lauterbach/
Albers/Hartmann, ZPO, 44. Aufl, § 850c Anm 2 A).

Die Unterhaltspflichten zwischen Eltern und ihren Kindern ergeben
sich aus § 1601 BGB. Danach sind Verwandte in gerader Linie ver-
pflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Eine "abstrakte" Un-
terhaltsverpflicntung allein aufgrund einer bestimmten familien-
rechtlichen Beziehung reicht aber hierfür nicht aus. Die Pflicht
zur Gewährung von Unterhalt ergibt sich erst aus den konkreten
Lebens- und Einkommensverhältnissen des zum Unterhalt Berechtig-
ten und des hierzu Verpflichteten. Auf den vorliegenden Fall be-
zogen bedeutet dies, daß die Kinder der Beigeladenen zu 1) un-
terhaltsbedürftig (§ 1602 Abs 1 BGB) und die Beigeladene zu 1)
zur Gewährung des Unterhalts leistungsfähig (S 1603 BGB) gewesen

- 22 -

sein müssen. Nach § 1602 Abs 1 BGB ist unterhaltsberechtigt, wer
außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Bei Verwandten in
gerader Linie ist diese Voraussetzung gegeben, wenn ein der Le-
bensstellung der Bedürftigen entsprechender Unterhalt nicht ge-
sichert ist, wenn sie also nicht in der Lage sind, ihren ange-
messenen Unterhalt selbst zu bestreiten (§ 1610 Abs 1 BGB).

Die Beigeladene zu 1) bezog nach den bindenden Feststellungen des
LSG (§ 163 SGG) im Juni 1981 Witwenrenten von der Beklagten zu 1)
und dem Beklagten zu 2) in einer Gesamthöhe von 1.341,90 DM.

Ihre beiden 10 und 15-jährigen Kinder C. und M. erhiel-
ten zur selben Zeit von der Beklagten zu 1) und dem Beklagten zu
2) zusammen Halbwaisenrenten in der Gesamthöhe von 1.410,60 DM,
so daß auf jedes einzelne Kind hiervon die Hälfte, dh ein Betrag
von 705,30 DM entfiel. Angesichts dieser den beiden Kindern zur
Verfügung stehenden monatlichen Einkünfte waren sie nicht unter-
haltsbedürftig im Sinne des § 1602 Abs 1 BGB.

Der Betrag des angemessenen Unterhalts bestimmt sich nach den
Umständen des Einzelfalles (BSG SozR 2200 § 596 Nr 10). Da deren
Feststellung häufig recht schwierig ist, hat die Praxis der Zi-
vilgerichte eine Anzahl von Tabellen und Leitlinien entwickelt,
um die unbestimmten Rechtsbegriffe der "Lebensstellung" und des
"angemessenen" Unterhalts praktikabel zu machen. Für eine solche
Pauschalierung treten die meisten Oberlandesgerichte ein. Eine
besonders weite Verbreitung bei den Familiengerichten haben
hierbei die in der sogenannten Düsseldorfer Tabelle festgelegten
Unterhaltsrichtlinien gefunden (vgl hierzu Gesamtüberblick bei

- 23 -

Kalthoener/Büttner, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts,
3. Aufl 1985, S 3 ff), die auch in die sozialrechtliche Praxis
Eingang gefunden haben (vgl ua zuletzt Urteil des 7. Senats des
BSG vom 23. Oktober 1985 - 7 RAr 32/8M -; BSG SozR 2200 5 596
Nr 10; BSGE 57, 59, 70; 57, 77, 81, s. aber auch Gernhuber
SGb 1985, 523). Auch der Bundesgerichtshof geht in seiner Rech-
sprechung davon aus, daß bei der Bemessung des angemessenen
Unterhalts Richtsätze und Leitlinien zugrunde gelegt werden kön-
nen, die auf die gegebenen Verhältnisse abgestimmt sind und der
Lebenserfahrung entsprechen, soweit nicht im Einzelfall besondere
Umstände eine Abweichung bedingen; er hat hierbei bislang die in
der Düsseldorfer Tabelle enthaltenen unterhaltsrechtlichen
Grundsätze nicht beanstandet (vgl zB BGHZ 70, 151, 155; FamRZ
1979, 692, 693; 1982, 365, 366).

Da gemäß § 1606 Abs 3 Satz 1 BGB beide Elternteile ihren Kindern
anteilig nach ihren Erwerbs- und Vvermögensverhältnissen haften
und nach der Wertentscheidung des Gesetzes in § 1606 Abs 3 Satz 2
BGB jedenfalls während der Minderjährigkeit der Kinder davon
auszugehen ist, daß die finanziellen Leistungen des Vaters und
die Betreuung der Kinder durch die Mutter im allgemeinen als
gleichwertig anzusehen sind (BGH NJW 1981, 168, 170; BGHZ 70,
151, 159f), geben die Tabellenwerte auch nur den nälftigen Le-
bensbedarf wieder (Kalthoener/Büttner, aaO, RdNr 286). Nach dem
Tode eines Elternteils, entweder des barleistungspflichtigen oder
des die Kinder betreuenden, richtet sich daher der Unterhalts-
anspruch der Kinder in Höhe des vollen Bedarfs C: doppelter Ta-
bellensatz: Bar- und Betreuungsunterhalt) gegen den überlebenden

- 24 -

Elternteil (BGH NJW 1981, 168, 170; Kalthoener/Büttner, aaO,
RdNr 287).

Auf den derart ermittelten Unterhaltsanspruch eines Berechtigten
sind dessen eigene Einkünfte anzurechnen. Zwar müssen minder-
jährige unverheiratete Kinder nach § 1602 Abs 2 BGB den Stamm
ihres Vermögens nicht zum eigenen Unterhalt verwenden, dies gilt
jedoch nicht für Einkünfte jeder Art einschließlich von ihnen
bezogener Sozialleistungen. Eine einem ehelichen Kind nach dem
Tode eines Elternteils gewährte Waisenrente aus der gesetzlichen
Renten- oder Unfallversicherung mindert oder beseitigt somit
dessen Unterhaltsbedürftigkeit und dementsprechend auch dessen
Unterhaltsanspruch (BGH NJW 1981, 168, 169 mwN; Kalthoener/Bütt-
ner, aaO, RdNr 286; Köhler, Handbuch des Unterhaltsrechts,
6. Aufl, RdNr 67; Sorgel/Lange, Kommentar zum BGB, 11. Aufl,
§ 1602 RdNr 6; Köhler in Münchener Kommentar zum BGB, 1978,
§ 1602 RdNr 17). Da - wie bereits ausgeführt - sich nach dem Tode
eines Elternteils der Unterhaltsanspruch in Höhe des vollen Be-
darfs gegen den überlebenden Elternteil richtet, kommt diesem
auch die Minderung der Unterhaltsbedürftigkeit durch die Waisen-
rente in voller Höhe zugute (BGH NJW 1981, 168, 170). Unter Zu-
grundlegung der Düsseldorfer Tabelle nach dem hier maßgebenden

Stand vom 1. Januar 1980 (vgl NJW 1980, 107; 1981, 963) ergeben
sich aufgrund des Renteneinkommens der Beigeladenen zu 1) in Höhe
von insgesamt 1.341,90 DM für den Monat Juni 1981 Unterhalts-
bedarfsbeträge von 456,00 DM für das Kind C. (: doppelter
Satz der Tabelle A "Kindesunterhalt" entsprechend der zum dama-
ligen Zeitpunkt - Juni 1981 - maßgebenden Altersstufe vom 7. bis

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zur Vollendung des 12. Lebensjahres sowie der Einkommensgruppe
1) sowie 540,00 DM für das Kind M. (= doppelter Satz der Ta-
belle A "Kindesunterhalt" entsprechend der zum damaligen Zeit-
punkt - Juni 1981 - maßgebenden Altersstufe vom 13. bis zur
Vollendung des 18. Lebensjahres sowie der Einkommensgruppe 1).

Auf diese Unterhaltsbedarfsbeträge sind die den beiden Kindern
der Beigeladenen zu 1) gewährten Waisenrenten in Höhe des jeweils
auf das einzelne Kind entfallenen Anteils von 705,30 DM voll an-
zurechnen. Da diese Einkünfte die Unterhaltsbedarfsbeträge über-
steigen, fehlt es insoweit an der Unterhaltsbedürftigkeit der
beiden Kinder der Beigeladenen zu 1).

Da somit eine Unterhaltsverpflichtung der Beigeladenen zu 1)
mangels Unterhaltsbedürftigkeit ihrer Kinder nicht bestand, war
die von dem Beklagten zu 2) zu gewährende Witwenrente des Monats
Juni 1981 nach § 8500 Abs 1 iVm der Tabelle zu § 850c Abs 3 ZP0
(= pfändbarer Betrag bei Unterhaltspflicht für null Personen -,
jeweils in der oa anzuwendenden Fassung) in Höhe eines Betrages
von 378,70 DM pfändbar und damit abtretbar. Die Beigeladene zu 1)
hat daher ihre gegen den Beklagten zu 2) bestehenden Rentenan-
sprüche wirksam und - wie ausgeführt — auch vorrangig von der
zeitlich späteren Pfändung durch die Klägerin in Höhe eines Be-
trages von 378,70 DM abgetreten. Daß in dem Beschluß des Amts-
gerichts vom 3. Juni 1981 ein höherer unpfändbarer Betrag fest-
gestellt ist, berührt die für die Abtretung maßgebende Berechnung
des pfändbaren Betrages nicht, da der Beschluß nur die Pfändung
betrifft.

- 25 -

Aufgrund der wirksamen und vorrangigen Abtretung des gegenüber
dem Beklagten zu 2) bestehenden Witwenrentenanspruches in Höhe
eines Betrages von 378,70 DM war - wie bereits dargelegt - dies-
bezüglich nicht mehr die Beigeladene zu 1), sondern die Beige-
ladene zu 2) Gläubigerin des Beklagten zu 2), so daß die Pfändung
der Klägerin aufgrund des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses
vom 18. Februar 1981 ins Leere ging, da hiernach sowie dem er-
gänzenden Beschluß vom 3. Juni 1981 lediglich ein Betrag von
insgesamt 341,90 DM und damit weniger als der abgetretene Betrag
von 378,70 DM pfändbar war.

Es kann daher hier dahingestellt bleiben, welche Wirkungen die
mit dem Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß des Amtsgerichts
Saarbrücken vom 18. Februar 1981 gleichzeitig erlassenen Be-
schlüsse nach den §§ 850c und 850 e Nrn 2 und 2a ZPO sowie der
Beschluß vom 3. Juni 1981 in bezug auf die Abtretungsgläubige-
rin, dh die Beigeladene zu 2), entfalten, da dies jedenfalls
hinsichtlich des hier allein streitigen Anspruchs der Klägerin
gegen den Beklagten zu 2) für den Monat Juni 1981 nicht ent-
scheidungserheblich ist. Ein höherer Betrag als der bereits vor-
rangig von der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversiche-
rung abgetretene Betrag in Höhe von 378,70 DM ist nämlich nach
den genannten Beschlüssen - wie ausgeführt - für den Monat Juni
1981 nicht pfändbar.

Es kann daher darüber hinaus auch dahingestellt bleiben, ob trotz
fehlender Schuldnerbenennung in der weiteren Abtretungserklärung
vom 28. Mai 1979 auch die von der Beklagten zu 1) zu zahlende

- 27 -

Witwenrente wirksam an die Beigeladene zu 2) abgetreten ist oder
ob entsprechend der Auffassung des LSG mangels Bestimmtheit des
Abtretungsvertrages eine wirksame Abtretung der Witwenrente aus
der gesetzlichen Rentenversicherung nicht vorliegt, da selbst bei
einer Unwirksamkeit der Abtretung der Witwenrente aus der ge-
setzlichen Rentenversicherung - wie ausgeführt - der Klägerin
jedenfalls von der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallver-
sicherung kein pfändbarer Betrag mehr zur Verfügung stehen würde.

Nach den Beschlüssen des Vollstreckungsgerichts käme allenfalls
die Pfändbarkeit der von der Beklagten zu 1) zu gewährenden Wit-
wenrente in Betracht. Hierüber hat der Senat jedoch nicht zu
entscheiden. Das Urteil des LSG, mit dem der Beklagte zu 2) zur
Zahlung von 297,10 DM verurteilt, die Klage gegen die Beklagte zu
1) jedoch in vollem Umfang abgewiesen worden ist, ist nämlich nur
von dem Beklagten zu 2) mit der Revision angefochten worden. Die
Klägerin dagegen hat keine Revision eingelegt. Das angefochtene
Urteil ist daher einer Nachprüfung durch das Revisionsgericht nur
insoweit zugänglich, als es sich um die von dem Revisionskläger
(= Beklagter zu 2) angegriffene Verurteilung zur Zahlung von
297,10 DM als pfändbaren Betrag handelt. Hinsichtlich der Klage-
abweisung gegenüber der Beklagten zu 1) ist das Urteil des LSG
zwischen den Beteiligten bindend geworden, da es diesbezüglich
weder von der Klägerin noch der Beklagten zu 1) bzw den Beigela-
denen angegriffen und auch eine Anschlußrevision innerhalb eines
Monats nach Zustellung der Revisionsbegründungsschrift nicht
eingelegt worden ist (BSGE 44, 184).

Da das SG somit im Ergebnis zutreffend die Klage gegen den Be-

- 28 -

klagten zu 2) betreffend den Monat Juni 1981 abgewiesen hat, war
das angefochtene Urteil insoweit zu ändern und die Berufung gegen
das Urteil des SG betreffend den Zeitraum Juni 1981 zurückzuwei-
sen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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BSG, 2 BU 15/91 vom 09.08.1991, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT
2 BU 15/91

BESCHLUSS

in dem Rechtsstreit

Kläger, Antragsteller
und Beschwerdeführer,
gesetzlich vertreten durch seinen Pfleger ... ,
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt ...,

gegen

Bayerischer Gemeindeunfallversicherungsverband,
München 40, Ungererstraße 71,
Beklagter, Antragsgegner
und Beschwerdegegner.

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat am 9. August 1991
durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. K. sowie
Richter W. und Dr. B.
beschlossen:

Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Nichtzu-
lassungsbeschwerde vor dem Bundessozialgericht Prozeßkosten-
hilfe zu bewilligen und ihm Rechtsanwalt M..... beizuordnen,
wird abgelehnt.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision
im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Oktober
1990 wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe :

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Pflege oder Pfle-
gegeld wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 23. März 1979.
Den Antrag des Klägers, ihm Pflegegeld zu gewähren, lehnte der
Beklagte ab, weil der Kläger nicht infolge des Arbeitsunfalls,
sondern durch seine paranoide Schizophrenie hilflos sei
(formloses Schreiben vom 4. Februar 1986, Widerspruchsbescheid
vom 10. Februar 1987). Vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg und
dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger eben-
falls keinen Erfolg gehabt (Urteile vom 19. Juli 1988, berich-
tigt am 6. Oktober 1988 - S 2 U 57/87 - und vom 24. Oktober 1990
- L 2 U 204/88 -) .

Sein Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe für das Ver-
fahren der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundessozialgericht
(BSG) war abzulehnen; die nicht in zulässiger Form begründete
Beschwerde war zu verwerfen.

Prozeßkostenhilfe kann dem Kläger allein deshalb nicht gewährt
werden, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinrei-
chende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Sozialgerichtsgesetz -
SGG- iVm § 114 Abs 1 Satz 1 Zivilprozeßordnung idF des Gesetzes
über die Prozeßkostenhilfe vom 13. Juni 1980 - BGBl I 677 -).
Zulassungsgründe iS des § 160 Abs 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das
LSG ist unzulässig. Die dazu gegebene Begründung entspricht

- 3 -

nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 SGG festgelegten
gesetzlichen Form. Nach der ständigen Rechtsprechung erfordert
§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG, daß die Zulassungsgründe schlüssig
dargetan werden (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 34, 47, 54, 58). Daran
fehlt es der Beschwerde. Der Beschwerdeführer hat keinen der in
§ 160 Abs 2 SGG genannten Zulassungsgründe formgerecht bezeichnet
oder dargelegt. In seiner Beschwerdebegründung erwähnt er noch
nicht einmal eine einzige Vorschrift des SGG für das Verfahren
der Nichtzulassungsbeschwerde.

Zur Begründung der Grundsätzlichkeit einer Rechtssache iS des
§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG muß erläutert werden, daß und warum in dem
angestrebten Revisionsverfahren eine Rechtsfrage erheblich sein
würde, die über den Einzelfall hinaus allgemeine Bedeutung hat
(BSG SozR 1500 § 160a Nr 39). Der Beschwerdebegründung fehlt es
sowohl an der konkreten Formulierung einer Rechtsfrage als auch an
der schlüssigen Darlegung, warum das angedeutete Rechtsproblem
klärungsbedürftig ist.

Eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG hat der Beschwerde-
führer nicht schlüssig bezeichnet, weil er die Entscheidung des
BSG, von der die Entscheidung des LSG abweichen soll, nicht mit
Datum und Aktenzeichen genau bezeichnet hat und auch die Angabe
fehlt, mit welchem tragenden Rechtssatz der angefochtenen
Entscheidung das LSG von welcher genau bezeichneten tragenden
rechtlichen Aussage eine Entscheidung des BSG abgewichen sein
soll (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14).

- 4 -

Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefoch-
tene Entscheidung beruhen kann. Auch daran fehlt es der Be-
schwerdebegründung.

Zweck des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde ist es nicht,
das Urteil eines LSG daraufhin zu überprüfen, ob das materielle
Recht zutreffend angewandt worden ist. Deshalb kann der Kläger
in diesem Verfahren nicht mit dem Argument gehört werden, das
LSG habe den Grundsatz der Subsidiarität sozialhilferechtlicher
Leistungen grundlegend verkannt.


Aus den oben angeführten prozeßrechtlichen Gründen ist es dem
Senat verwehrt, zu dieser materiell-rechtlichen Frage Stellung
zu nehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung
des § 193 SGG.

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BSG, 1 RK 23/96 vom 18.02.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: 1 RK 23/96

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Schwäbisch Gmünder Ersatzkasse,
73529 Schwäbisch Gmünd, Gottlieb-Daimler-Straße 19,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung
am 18. Februar 1997 durch den Präsidenten von W. ,
die Richter S. und Dr. D. sowie die ehrenamtliche
Richterin D. und den ehrenamtlichen Richter H.
für Recht erkannt:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom
26. September 1996 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

Der 1938 geborene Kläger leidet an einer Niereninsuffizienz, derentwegen er sich seit
Dezember 1993 zwei- bis dreimal wöchentlich einer Dialysebehandlung unterziehen muß.

Für die Fahrten zwischen seiner Wohnung in Wilhelmshaven und dem Dialysezentrum in
Jever benötigt er ein Taxi. Die beklagte Ersatzkasse übernahm aufgrund der Härtefallre-
gelung des § 62 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) für 1994 den die Bela-
stungsgrenze übersteigenden Teil der notwendigen Fahrkosten. Eine darüber hinausge-
hende, generelle Kostenübernahme nach Maßgabe des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V lehnte
sie ab, weil die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt seien (Bescheid vom
9. März 1994; Widerspruchsbescheid vom 9. September 1994).

Klage und Berufung des Klägers sind ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht
(LSG) hat im Urteil vom 26. September 1996 ausgeführt, auf § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4
SGB V lasse sich der geltend gemachte Anspruch nicht stützen. Diese Bestimmung sehe
bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung eine Kostenübernahme nur für den
Fall vor, daß dadurch eine an sich gebotene vollstationäre oder teilstationäre Kranken-
hausbehandlung vermieden werde. Dialysebehandlungen würden aber regelmäßig ambu-
lant durchgeführt, so daß der angesprochene Gesichtspunkt bei ihnen nicht zum Tragen
komme. Da die Regelung in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V vom Gesetzgeber bewußt eng
gefaßt worden sei, scheide auch eine analoge Anwendung der Bestimmung auf andere,
vom Wortlaut nicht erfaßte Tatbestände aus. Das Gleichbehandlungsgebot des Art 3
Abs 1 Grundgesetz (GG) werde durch die Nichteinbeziehung der Dialysebehandlungen in
die gesetzliche Regelung nicht verletzt.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, die Dialyse müsse im Hinblick auf den damit
verbundenen zeitlichen, personellen und medizinisch-technischen Aufwand einer teilsta-
tionären Behandlung gleichgesetzt werden. Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebiete,
daß bei Dialysepatienten ebenso wie bei anderen Schwerkranken die mit der medizini-
schen Versorgung in Zusammenhang stehenden Fahrkosten von der Krankenkasse ge-
tragen werden.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. September 1996 und

des Sozialgerichts Oldenburg vom 25. Oktober 1995 aufzuheben und die Beklagte

unter Abänderung des Bescheides vom 9. Mai 1994 in der Gestalt des Wider-

- 3 -

spruchsbescheides vom 9. September 1994 zu verurteilen, ihm den Eigenanteil an
den Fahrkosten zu Dialysebehandlungen ab April 1994 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Zwischen den Beteiligten besteht Übereinstimmung, daß die Beklagte die Kosten des
Klägers für Fahrten zur Dialysebehandlung nach der Härtefallregelung des § 62 Abs 1
SGB V insoweit zu tragen hat, als sie die dort festgelegte individuelle Belastungsgrenze
übersteigen. Eine darüber hinausgehende, generelle Übernahme dieser Kosten, wie sie
der Kläger begehrt, läßt das geltende Recht nicht zu. Die klageabweisenden Urteile der
Vorinstanzen sind deshalb zu bestätigen.

Zu der Frage, ob und inwieweit die durch eine Krankenbehandlung verursachten Fahrko-
sten zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, trifft das Ge-
setz eine differenzierende Regelung: Nach der Grundnorm des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V
sind diese Kosten von der Krankenkasse nur bei bestimmten, in der Vorschrift genannten
Sachverhalten zu tragen, während sie im übrigen dem Verantwortungsbereich des Versi-
cherten zugerechnet werden. Demgegenüber hat die Kasse nach § 60 Abs 2 Satz 2
SGB V unabhängig von der Art der Leistung einzutreten, wenn die Kosten den Versicher-
ten unzumutbar belasten würden, sei es, daß er wegen seines geringen Einkommens
überhaupt keine Eigenleistungen erbringen kann (§ 61 SGB V) oder daß die entstehen-
den Aufwendungen eine von der Einkommenshöhe abhängige Grenze der zumutbaren
Eigenbelastung überschreiten (§ 62 SGB V). Gemäß § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V übernimmt
die Krankenkasse die einen Betrag von 20,00 DM je Fahrt übersteigenden Fahrkosten bei
Fahrten zu einer stationären Behandlung (Nr 1), bei Rettungsfahrten (Nr 2), bei Kranken-
transporten (Nr 3) sowie bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung einschließ-
lich einer Behandlung nach § 115a oder § 115b SGB V, wenn dadurch eine an sich ge-
botene vollstationäre oder teilstationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt
wird oder diese nicht ausführbar ist (Nr 4).

Da die Dialysebehandlungen des Klägers ambulant durchgeführt werden und keinen
qualifizierten Krankentransport iS der Nr 3 erfordern, kommt als Grundlage des geltend
gemachten Anspruchs allein § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in Betracht. Wie das LSG
zutreffend ausgeführt hat, sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift jedoch nicht erfüllt;

- 4 -

denn die Dialyse gehört nicht zu den Leistungen, durch die eine "an sich gebotene"
stationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird. Der Senat braucht
nicht zu entscheiden, ob mit dieser Wendung nur Ausnahmefälle erfaßt werden sollen, in
denen eine aus medizinischer Sicht eigentlich notwendige stationäre Behandlung aus be-
sonderen Gründen ambulant vorgenommen wird (so wohl Krauskopf, Soziale Krankenver-
sicherung und Pflegeversicherung, Stand Juni 1996, § 60 SGB V RdNr 16), oder ob dar-
unter, wofür die Einbeziehung der Leistungen nach § 115b SGB V spricht, auch solche
Behandlungen fallen, die zwar bisher (noch) überwiegend stationär erbracht werden,
grundsätzlich aber auch ambulant durchführbar sind und durchgeführt werden. Nachdem
Dialysebehandlungen regelmäßig ambulant erbracht werden und allenfalls beim Auftreten
von Komplikationen eine stationäre Aufnahme nach sich ziehen, werden sie vom Rege-
lungsgehalt des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in keinem Fall erfaßt.

Mit Recht hat es das LSG auch abgelehnt, § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zur
Dialysebehandlung analog anzuwenden. Eine Erstreckung des Anwendungsbereichs der
Vorschrift auf weitere, nicht ausdrücklich genannte Fälle einer ambulanten Behandlung
käme nur in Betracht, wenn die getroffene Regelung gemessen an den mit ihr verfolgten
Zielen unvollständig wäre und durch die Einbeziehung ähnlicher, vom Gesetzeszweck
ebenfalls erfaßter Sachverhalte ergänzt werden müßte. Für die Annahme einer solchen
planwidrigen Gesetzeslücke ist indessen nach dem Inhalt der Vorschrift und der ihr
zugrundeliegenden Regelungsabsicht kein Raum.

Bereits die Tatsache, daß das Gesetz die Übernahme der durch eine medizinische
Behandlung verursachten Fahrkosten durch die Krankenkasse auf bestimmte, genau
umschriebene Sachverhalte beschränkt und den Versicherten im übrigen in § 60 Abs 2
Satz 2 SGB V auf die Härteklauseln der §§ 61 und 62 SGB V verweist, macht deutlich,
daß die Regelung Ausnahmecharakter hat und die privilegierten Tatbestände abschlie-
ßend erfassen will. Dies wird durch die Rechtsentwicklung bestätigt. Während der
frühere, am 31. Dezember 1988 außer Kraft getretene § 194 Abs 1 Reichsversicherungs-
ordnung (RVO) noch generell die Erstattung der im Zusammenhang mit einer Leistung
der Krankenkasse erforderlichen Fahr-, Verpflegungs- und Übernachtungskosten ein-
schließlich eines notwendigen Gepäcktransports vorgesehen hatte, hat das Gesundheits-
Reformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477) die Ansprüche auf Reise-
kostenerstattung drastisch eingeschränkt. Seither werden nur noch Fahrkosten und auch
diese nur in besonderen Fällen übernommen. Die Fahrkosten zu einer ambulanten
Behandlung hat der Versicherte grundsätzlich selbst zu tragen. Ausgenommen hiervon
waren nach der ursprünglichen, auf dem GRG beruhenden Fassung des § 60 Abs 2
Satz 1 SGB V nur Rettungsfahrten zum Krankenhaus und Krankentransporte in einem
speziellen Krankentransportfahrzeug. Der Gesetzgeber war der Auffassung, daß
einerseits die starke, durch eine weitgehend unkritische Verordnung von Krankenfahrten
seitens der Ärzte und Krankenhäuser mitverursachte Kostenbelastung der Kranken-

- 5 -

kassen finanziell nicht länger vertretbar, andererseits angesichts des hohen Grades der
Motorisierung und des zumindest im städtischen Bereich dichten Netzes öffentlicher Ver-
kehrsmittel eine umfassende Kostenübernahme auch nicht zwingend geboten sei
(Regierungsentwurf zum GRG, BR-Drucks 200/88 S 186 Begr zu § 68). Das
Gesundheits-Strukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S 2266) hat den
Katalog der zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung zählenden
Fahrkosten um den Tatbestand des jetzigen § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V erweitert,
ohne das der Vorschrift zugrundeliegende Regel-Ausnahmeprinzip aufzugeben. Ange-
sichts dessen ist nicht zweifelhaft, daß die Aufzählung der für eine Kostenerstattung in
Frage kommenden Fälle abschließend sein soll.

Der Annahme einer unbeabsichtigten Regelungslücke als Voraussetzung für eine analoge
Anwendung des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zu Dialysebehandlungen steht
aber vor allem der aus der Entstehungsgeschichte ersichtliche Zweck dieser Vorschrift
entgegen. Im Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. vom 5. No-
vember 1992 (BT-Drucks 12/3608 S 82) ist ihre Einführung damit begründet worden, daß
dadurch Anreize zur Vermeidung oder Verkürzung einer stationären Behandlung geschaf-
fen werden sollten. Im Unterschied zu den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V ge-
nannten Sachverhalten, bei denen die überdurchschnittliche Höhe der zu erwartenden Ko-
sten den Grund für die Ausnahmeregelung abgibt, ging es bei den Behandlungsfällen
nach Nr 4 darum, das Ziel einer Verlagerung von Leistungen aus dem stationären in den
ambulanten Bereich nicht durch eine Schlechterstellung der ambulanten Behandlungsal-
ternativen bei der Fahrkostenerstattung zu gefährden. Mit Blick auf diese gesetzgeberi-
sche Absicht sind Dialysebehandlungen den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V aufgeführ-
ten Behandlungen von vornherein nicht vergleichbar, so daß es insoweit an einem analo-
giefähigen Tatbestand fehlt. Diese Konsequenz ist im Gesetzgebungsverfahren aus-
drücklich gesehen und gebilligt worden. Der Ausschuß für Gesundheit des Deutschen
Bundestages, auf dessen Beschlußempfehlung vom 7. Dezember 1992 (BT-Drucks
12/3930 S 17) der endgültige Text der Vorschrift zurückgeht, hat in seinem Bericht vom
8. Dezember 1992 (BT-Drucks 12/3937 S 12) wörtlich ausgeführt: "Für Leistungen, die
grundsätzlich ambulant erbracht werden (zB Dialysebehandlungen) bringt die Neurege-
lung keine Änderung gegenüber dem bisherigen Recht, da bei solchen Behandlungen
stationäre oder teilstationäre Krankenhauspflege nicht erforderlich ist und damit auch
nicht vermieden werden kann." Das Problem der Fahrkosten bei Dialysebehandlungen
und allgemein bei ambulanten Dauer- oder Serienbehandlungen war dem Gesetzgeber
demnach bekannt und sollte bewußt nicht in dem von der Revision befürworteten Sinne
einer Einbeziehung dieser Leistungen in die Kostenerstattungsregelung gelöst werden.

Zu Unrecht beruft sich der Kläger für seinen Rechtsstandpunkt auf den Gleichbehand-lungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG. Abgesehen davon, daß die gesetzliche Regelung
gegen den erklärten Willen des Gesetzgebers auch im Wege einer ver-

- 6 -

fassungskonformen Auslegung nicht auf Fahrten zu Dialysebehandlungen erstreckt
werden könnte (vgl dazu BVerfGE 8, 28, 34; 70, 35, 63 f mwN; Hesse, Grundzüge des
Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl, RdNr 80), gibt es für die
Privilegierung der in § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V genannten Tatbestände hinreichende
sachliche Gründe. Daß Dialysebehandlungen auf der einen und die in § 60 Abs 2 Satz 1
Nr 4 SGB V aufgeführten ambulanten Leistungen auf der anderen Seite in bezug auf die
Erstattung von Fahrkosten unterschiedlich behandelt werden, ist angesichts des mit der
genannten Vorschrift verfolgten Zwecks sachgerecht. Der Umstand, daß die Dialyse
wegen der Häufigkeit und der Zeitdauer der Behandlung sowie des erforderlichen perso-
nellen und medizinisch-technischen Aufwands einer teilstationären Behandlung vergleich-
bar sein mag, zwingt auch nicht dazu, sie hinsichtlich der Übernahme von Fahrtkosten
einer stationären Therapie iS des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V gleichzusetzen. Anders
als in den Fällen des § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V, in denen es darum geht, den
Versicherten von dem Risiko einer einmaligen hohen Kostenbelastung freizustellen,
verteilen sich die - in der Summe unter Umständen ebenfalls hohen - Fahrkosten bei
Dialysebehandlungen regelmäßig über einen längeren Zeitraum. Insoweit wird jedoch
durch die Regelung in § 62 Abs 1 SGB V sichergestellt, daß die finanzielle Ge-
samtbelastung des Versicherten durch Fahrkosten sowie Zuzahlungen zu Arznei-,
Verband- und Heilmitteln längerfristig nicht über einen zumutbaren Eigenanteil hinaus an-
wächst. Im Hinblick auf diese Unterschiede und bei Berücksichtigung der
Härtefallregelung ist die Differenzierung zwischen Fahrten zur stationären Behandlung auf
der einen und den auf lange Sicht vergleichbar kostenaufwendigen Fahrten zu einer
ambulanten Langzeitbehandlung auf der anderen Seite verfassungsrechtlich nicht zu be-
anstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

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BSG, 1 RK 23/95 vom 09.12.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: 1 RK 23/95

Kläger und Revisionsbeklagter,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Barmer Ersatzkasse,

Untere Lichtenplatzer Str. 100-102, 42289 Wuppertal,

Beklagte und Revisionsklägerin.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom
9. Dezember 1997 durch die Richter S. - Vorsitzender - , Dr. D.
und Dr. S. sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. B.
und B.

für Recht erkannt:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-
Westfalen vom 27. Juli 1995 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 9. September
1994 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

Der 1987 geborene Kläger leidet an einer Phenylketonurie, einer angeborenen Störung
des Eiweißstoffwechsels, bei der die Aminosäure Phenylalanin vom Körper nicht abge-
baut werden kann. Die Krankheit erfordert eine Diät, deren Grundlage phenylalaninfreie
Eiweißersatzpräparate bilden. Daneben müssen haushaltsübliche Getreideprodukte wie
Mehl, Brot, Backwaren, Teigwaren, Gebäck und Pasteten durch eiweißarme Spezialnah-
rungsmittel aus dem Reformhaus ersetzt werden.

Die beklagte Ersatzkasse, bei welcher der Kläger über seine Mutter krankenversichert ist,
trägt die Kosten für die als Arzneimittel eingestuften Eiweißersatzpräparate. Die Über-
nahme der Kosten für die eiweißarmen Nahrungsmittel lehnte sie dagegen mit Bescheid
vom 28. März 1989 (Widerspruchsbescheid vom 21. August 1989) ab, weil die Kranken-
versicherung für die Beschaffung von Lebensmitteln des täglichen Bedarfs auch dann
nicht aufzukommen habe, wenn aus Krankheitsgründen eine besondere, kostenaufwen-
digere Ernährung vonnöten sei.

Während das Sozialgericht (SG) die dagegen gerichtete Klage abgewiesen hat, hat das
Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, dem Kläger die durch die notwendige
eiweißarme Ernährung entstandenen Mehrkosten im Verhältnis zu den Kosten der Ernäh-
rung eines gesunden gleichaltrigen Versicherten zu erstatten (Urteil vom 27. Juli 1995).

Es hat ausgeführt: Lebensmittel seien zwar im Regelfall auch dann keine Arznei- oder
Heilmittel, wenn ihnen über den allgemeinen Ernährungszweck hinaus eine spezifische
Heilwirkung zukomme, wie dies bei den eiweißarmen Getreideprodukten der Fall sei. Et-
was anderes müsse jedoch ausnahmsweise gelten, wenn der Versicherte auf die beson-
dere Ernährung angewiesen und ihm die Beschaffung der teureren Spezialnahrungsmittel
unter Abwägung mit den Interessen der Solidargemeinschaft wirtschaftlich nicht zumutbar
sei. Letzteres sei hier der Fall gewesen, denn die Mutter des Klägers habe zeitweise von
Sozialhilfe gelebt und die zusätzlichen Mittel für die Krankenkost in Höhe von mindestens
100,-- DM pro Monat nicht aufbringen können.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Der Krankenbe-
handlungsanspruch umfasse nach § 27 Abs 1 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch
(SGB V) die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, nicht aber die Be-
reitstellung von Mitteln des allgemeinen Lebensbedarfs. Für Mehraufwendungen, welche
durch eine besondere krankheitsbedingte Lebensführung entstünden, habe die Kranken-
versicherung grundsätzlich keinen Ersatz zu leisten, es sei denn, daß ausdrücklich etwas
anderes geregelt sei. Hiervon könne nicht je nach den Umständen des Einzelfalles abge-
wichen werden. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Versicherten sei schon vom

- 3 -

Ansatz her kein geeigneter Gradmesser für die Leistungsverpflichtung eines Trägers der
gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Juli 1995 aufzu-
heben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold
vom 9. September 1994 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Mehraufwendungen für besondere
krankheitsverträgliche Nahrungsmittel seien typische Folgekosten der Krankheit und mit-
hin dem Risikobereich der Krankenversicherung zuzurechnen. Dies rechtfertige es, sie
jedenfalls dann der Krankenkasse aufzubürden, wenn der Versicherte mit der Aufbrin-
gung der zusätzlichen Mittel wirtschaftlich überfordert sei.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Wiederherstellung der klageabwei-
senden Entscheidung erster Instanz.

Nach dem Tenor des angefochtenen Urteils hat das Berufungsgericht nur über die Er-
stattung der bei Erlaß des Urteils bereits entstandenen Kosten entschieden. Es hat damit
das Klagebegehren, das auf Übernahme der durch die eiweißarme Ernährung bedingten
Mehraufwendungen ohne zeitliche Begrenzung gerichtet war, nicht ausgeschöpft. Da nur
die Beklagte Revision eingelegt hat, ergeben sich daraus jedoch keine prozessualen Fol-
gerungen. In der Sache selbst kann der Auffassung des LSG nicht gefolgt werden. Der
Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der durch den Verzehr eiweißarmer Spezial-
nahrungsmittel entstandenen krankheitsbedingten Mehrkosten.

Als Rechtsgrundlage des vom LSG angenommenen Erstattungsanspruchs kommt nur
§ 13 Abs 3 (früher Abs 2) SGB V in Betracht. Danach hat die Krankenkasse, wenn sie
eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu
Unrecht abgelehnt hat, dem Versicherten die für die Beschaffung der Leistung aufgewen-
deten Kosten zu erstatten. Da der Kostenerstattungsanspruch an die Stelle eines an sich
gegebenen Sachleistungsanspruchs tritt, kann er nur bestehen, soweit die selbstbe-
schaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, welche die gesetzlichen Kran-
kenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben. Das ist bei den im Streit
befindlichen Diätnahrungsmitteln nicht der Fall.

- 4 -

Die von der Krankenkasse zu gewährende Krankenbehandlung umfaßt neben der ärztli-
chen Behandlung ua nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V die Versorgung mit Arznei-,
Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Diätnahrungsmittel sind keine Heilmittel iS der genannten
Vorschrift, weil sie zum Verzehr und nicht zur äußeren Einwirkung auf den Körper be-
stimmt sind (zum Begriff des Heilmittels vgl BSGE 28, 158, 159 f = SozR Nr 30 zu § 182
RVO Bl Aa 28; BSGE 46, 179, 182 = SozR 2200 § 182 Nr 32 S 62; BSG SozR 3-2200
§ 182 Nr 11 S 47 f). Als Arzneimittel dürfen sie nach den Arzneimittelrichtlinien des Bun-
desausschusses der Ärzte und Krankenkassen (AMRL) von den an der vertragsärztlichen
Versorgung teilnehmenden Ärzten nicht verordnet werden (vgl Nr 17.1 Buchst i AMRL
vom 31. August 1993 - BAnz 1993 Nr 246; ebenso früher: Nr 21 Buchst i AMRL vom
19. Juni 1978 - Beilage zum BAnz 1978 Nr 235). Sie sind damit von der Anwendung zu
Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Die auf der Grundlage
des § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V erlassenen AMRL regeln als untergesetzliche Rechts-
normen den Umfang und die Modalitäten der Arzneimittelversorgung mit verbindlicher
Wirkung sowohl für die Vertragsärzte und die Krankenkassen als auch für die Versicher-
ten (allgemein zur Rechtsqualität und Tragweite der Richtlinien der Bundesausschüsse
der (Zahn)Ärzte und Krankenkassen: Senatsurteil vom 16. September 1997 - 1 RK 32/95,
zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Das Verordnungsverbot für Diätle-
bensmittel und Krankenkost hält sich im Rahmen der dem Bundesausschuß der Ärzte
und Krankenkassen erteilten Rechtsetzungsermächtigung. Zwar bezieht sich diese Er-
mächtigung nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur auf den Erlaß
von Vorschriften zur Sicherung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen
Arzneimittelversorgung und gibt dem Bundesausschuß nicht die Befugnis, selbst Inhalt
und Grenzen des Arzneimittelbegriffs festzulegen (BSGE 66, 163, 164 = SozR 3-2200
§ 182 Nr 1 S 2; BSGE 67, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 4; BSGE 72, 252, 255
= SozR 3-2200 § 182 Nr 17 S 81 f). Der Regelung in Nr 17.1 Buchst i AMRL liegt indes-
sen kein vom Gesetz abweichender Arzneimittelbegriff zugrunde. Sie zieht mit dem Aus-
schluß von Diätnahrungsmitteln aus der vertragsärztlichen Versorgung lediglich die recht-
liche Konsequenz daraus, daß derartige Produkte keine Arzneimittel im krankenversiche-
rungsrechtlichen Sinne sind.

Der Begriff des Arzneimittels wird im SGB V selbst nicht erläutert. Nach der Definition des
Arzneimittelgesetzes (AMG), die im wesentlichen mit dem allgemeinen Sprachgebrauch
übereinstimmt, sind darunter Substanzen zu verstehen, deren bestimmungsgemäße Wir-
kung darin liegt, Krankheitszustände zu erkennen, zu heilen, zu bessern, zu lindern oder
zu verhüten (vgl § 2 Abs 1 AMG idF der Bekanntmachung vom 19. Oktober 1994 - BGBl I
3018). Die in Rede stehenden eiweißarmen Getreideprodukte dienen demgegenüber in
erster Linie der Ernährung. Sie treten an die Stelle haushaltsüblicher Back- und Teigwa-
ren, deren Verzehr dem Kläger wegen ihrer krankheitsverschlimmernden Wirkung versagt
ist. Ihre durch den vorrangigen Verwendungszweck begründete Eigenschaft als Nah-

- 5 -

rungs- bzw Lebensmittel (vgl § 1 Abs 1 Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz idF
der Bekanntmachung vom 9. September 1997 - BGBl I 2390) verlieren sie nicht dadurch,
daß sie speziell zu dem Zweck hergestellt werden, eine auf die Krankheit abgestimmte
Ernährungsweise zu ermöglichen. Als Lebensmittel sind sie, wie § 2 Abs 3 Nr 1 AMG
ausdrücklich klarstellt, keine Arzneimittel. Sie gehören damit auch nicht zur Arzneimittel-
versorgung als Teil der Krankenbehandlung. Dabei kann offenbleiben, ob der Arzneimit-
telbegriff des SGB V in jeder Hinsicht mit demjenigen des AMG übereinstimmt
(verneinend: BSGE 67, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 4; BSG SozR 3-2200 § 182
Nr 11 S 46; bejahend: Schlenker, DOK 1987, 236 ff; ders, SGb 1988, 473 ff). Darauf
kommt es nicht an, weil jedenfalls in dem hier interessierenden Punkt der Unterscheidung
und Abgrenzung zwischen Arzneimitteln auf der einen und Nahrungsmitteln auf der ande-
ren Seite keine Abweichung besteht.

Eine Ausweitung des Arzneimittelbegriffs durch Einbeziehung von Diät- oder Krankenkost
widerspräche der begrenzten Aufgabenstellung der gesetzlichen Krankenversicherung.

Diese verfolgt nicht das Ziel, den Versicherten vor krankheitsbedingten Nachteilen umfas-
send zu schützen. Bei der Vielzahl von Auswirkungen, die eine Krankheit auf die Le-
bensführung des Betroffenen haben kann, wäre das Krankenversicherungsrisiko nicht
sachgerecht begrenzbar, wenn es sich auf alle durch die Krankheit veranlaßten Aufwen-
dungen erstrecken würde. Die Leistungspflicht der Krankenkassen ist deshalb, soweit das
Gesetz nichts anderes vorschreibt, auf Maßnahmen beschränkt, die gezielt der Krank-
heitsbekämpfung dienen. Mehrkosten und andere Nachteile und Lasten, die der Versi-
cherte im täglichen Leben wegen der Krankheit hat, sind der allgemeinen Lebenshaltung
zuzurechnen und nicht von der Krankenkasse zu tragen (vgl BSGE 42, 16, 18 f = SozR
2200 § 182 Nr 14 S 30 f; BSGE 42, 229, 231 = SozR 2200 § 182b Nr 2 S 3; BSGE 53,
273, 275 = SozR 2200 § 182 Nr 82 S 161 f). Das gilt grundsätzlich auch für Mehraufwen-
dungen, die durch eine besondere, krankheitsangepaßte Ernährungsweise entstehen
(BSG SozR 2200 § 182 Nr 88 S 183; BSGE 63, 99, 100 = SozR 2200 § 182 Nr 109 S 234;
vgl zur identischen Risikoabgrenzung im Beihilferecht des öffentlichen Dienstes: OVG
Rheinland-Pfalz, Der öffentliche Dienst 1995, 291; VGH Baden-Württemberg, Zeitschrift
für Beamtenrecht 1985, 255; im sozialen Entschädigungsrecht: BSGE 64, 1 = SozR 3100
§ 11 Nr 17; im Sozialhilferecht: BverwG Buchholz 427.3 § 276 LAG Nr 15).

Dementsprechend hat der 3. Senat des BSG schon zum früheren Recht der Reichsversi-
cherungsordnung (RVO) entschieden, daß Lebensmittel, auch soweit ihnen über ihren
generellen Ernährungszweck hinaus eine spezifische krankheitsheilende, krankheitslin-
dernde oder verschlimmerungshemmende Wirkung zukommt, keine Arzneimittel im Sinne
des Leistungsrechts der Krankenversicherung sind (Urteil des 3. Senats vom 18. Mai
1978 - BSGE 46, 179, 182 = SozR 2200 § 182 Nr 32 S 82).

Dieser Rechtsstandpunkt ist entgegen der Ansicht des LSG nicht dadurch relativiert wor-
den, daß derselbe Senat in späteren Entscheidungen zu § 182 Abs 1 RVO die Auffassung

- 6 -

vertreten hat, eine Krankenkost könne von der Krankenkasse ausnahmsweise gewährt
werden, wenn zu der Heilwirkung der Kost für den einzelnen Versicherten noch beson-
ders gravierende Umstände, insbesondere eine unzumutbar hohe finanzielle Belastung
durch die im Vergleich zu üblichen Lebensmitteln teureren Diätpräparate, hinzuträten
(Urteile vom 23. März 1983 - SozR 2200 § 182 Nr 88 S 183 und vom 23. März 1988 -
BSGE 63, 99, 100 = SozR 2200 § 182 Nr 109 S 234; ähnlich für andere Gegenstände des
allgemeinen Lebensbedarfs: BSGE 65, 154, 157 = SozR 2200 § 368e Nr 13 S 35; BSGE
67, 36, 37 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 3). Damit ist nicht zum Ausdruck gebracht worden,
daß beim Vorliegen derartiger Umstände die Krankenkost zum Arzneimittel wird. Die Re-
vision weist mit Recht darauf hin, daß die Arzneimitteleigenschaft einer Substanz durch
den Verwendungszweck bestimmt wird und nichts mit der wirtschaftlichen Leistungsfähig-
keit des Versicherten zu tun hat. Andernfalls könnte ein und dasselbe Produkt je nach der
Situation des Erkrankten einmal Arzneimittel sein und ein anderes Mal nicht. Die ange-
führten Entscheidungen haben nicht den Arzneimittelbegriff modifiziert, sondern vielmehr
das Spektrum der im Gesetz vorgesehenen Leistungen erweitert. Das war nach früherem
Recht nicht ausgeschlossen; denn § 182 Abs 1 Nr 1 RVO enthielt, wie das Wort
"insbesondere" im Einleitungssatz der Vorschrift verdeutlicht, keine abschließende Auf-
zählung der als Krankenpflege zu gewährenden Leistungen und ließ damit Raum für eine
Ausweitung des Leistungskatalogs. Insofern konnte die Gewährung der Krankenkost in
den genannten Ausnahmefällen als eine besondere Leistung der Krankenpflege neben
den in § 182 Abs 1 Nr 1 RVO ausdrücklich genannten Leistungsarten angesehen werden.

Diese Möglichkeit ist mit dem Inkrafttreten des SGB V am 1. Januar 1989 entfallen. Der
jetzige § 27 Abs 1 Satz 2 SGB V regelt den Umfang der Krankenbehandlung bewußt ab-
schließend (Begründung zum Entwurf des Gesundheitsreformgesetzes, BT-Drucks
11/2237 S 170). Die Krankenkassen sind damit grundsätzlich auf die in der Vorschrift ge-
nannten Leistungen beschränkt; außerhalb etwaiger Modellvorhaben nach § 63 Abs 2
SGB V können neue Leistungsarten nur vom Gesetzgeber eingeführt werden (Höfler in
Kasseler Kommentar, § 27 SGB V RdNr 58; von Maydell in Gemeinschaftskommentar
zum SGB V § 27 RdNr 77). Die bisherige Rechtsprechung, auf die das LSG seine Ent-
scheidung gestützt hat, kann deshalb für das geltende Recht nicht aufrechterhalten wer-
den.

Mit der Aussage, daß Lebensmittel, auch wenn es sich um Diät- oder Krankenkost han-
delt, keine Leistungen der Krankenversicherung sind, weicht der Senat von der Rechts-
auffassung ab, die dem Urteil des für die knappschaftliche Krankenversicherung zustän-
digen 8. Senats des BSG vom 27. September 1994 - 8 RKn 9/92 (USK 94110) zugrunde
liegt. Der 8. Senat hat dort auch für das neue Recht daran festgehalten, daß ein Lebens-
mittel (im konkreten Fall ein handelsübliches Heilwasser) ausnahmsweise zum Arznei-
mittel werden könne, wenn zu der Heilwirkung besonders gravierende Umstände, etwa
eine unzumutbare finanzielle Belastung des Versicherten, hinzukämen. Einer Anfrage
gemäß § 41 Abs 3 SGG wegen der insoweit bestehenden Divergenz bedarf es gleichwohl

- 7 -

nicht, weil vorliegend ein Anspruch des Klägers auch bei Zugrundelegung der Rechtsauf-
fassung des 8. Senats zu verneinen wäre. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil
vom 10. Mai 1995 (SozR 3-2500 § 33 Nr 15) entschieden, daß krankheitsbedingte Mehr-
kosten beim Kauf von Gegenständen des allgemeinen Lebensbedarfs nur dann als
"besonders gravierender Umstand" gewertet werden können, wenn bei den betreffenden
Gütern der Teil der Herstellungskosten überwiegt, der allein auf die therapeutische Wir-
kung des Mittels zurückzuführen ist. Nur dann trete die Bedeutung als Gebrauchsgegen-
stand für den Versicherten in den Hintergrund, so daß eine Beteiligung der Krankenkasse
an den Aufwendungen zu rechtfertigen sei. Ausgehend hiervon würde eine Leistungs-
pflicht der Beklagten auch auf dem Boden der früheren Rechtsprechung ausscheiden,
weil die vom Kläger benötigten Back- und Teigwaren, wie sich aus den von ihm vorge-
legten und bei den Akten befindlichen Preislisten ersehen läßt, durchweg weniger als
doppelt so teuer sind wie gleichartige haushaltsübliche Produkte.

Nach alledem konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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BSG, 1 RA 63/70 vom 11.11.1971, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht

Az. 1 RA 63/70

Verkündet
am 11 November
1971,
Amtsinspektor
als Urk. Beamter
d. Gesch.Stelle

Im Namen des Volkes

Urteil
in dem Rechtsstreit
Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte;

gegen

Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Berlin 54,

Ruhrstraße 2,

Beklagte und Revisionsbeklagteo

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die
mündliche Verhandlung vom 11 November 1971 durch

Präsident Prof. Dr. W.
- Vorsitzender -,
Bundesrichter Dr. S. ,
Bundesrichter S. ,
Bundessozialrichter M. und
Bundessozialrichter B.

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des
Landessozialgerichts Niedersachsen vom 42 Dezember
1969 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung
an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

- 2 -

Gründe

I

Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der
Angestelltenversicherung. Die Beklagte lehnte seine "form-
losen Anträge" vom 15. November und 17. November 1965 durch
Bescheid vom 18. April 4967 ab, weil der Kläger es trotz
mehrfacher Aufforderung unterlassen habe, die für die
Rentengewährung erforderlichen Antragsvordrucke auszu-
füllen und einzureicheno Das Sozialgericht (SG) Braun-
schweig hat durch Urteil vom 15. Januar 1968 die gegen den
Bescheid gerichtete Klage abgewiesen.

Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger unter Ver-
wendung eines Antragsvordrucks der Bundesversicherungsan-
stalt für Angestellte (BfA) am 48. Oktober 1968 Rente be-
antragte Die Beklagte hat auch diesen Antrag durch Bescheid
vom 1. Oktober 1969 angelehnt, weil die für die Rentenge-
währung erforderlichen Voraussetzungen nicht hätten geklärt
werden können.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Ur-
teil vom 12. Dezember 1969 die Berufung des Klägers zurück-
gewiesen und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten
vom 1. Oktober 1969 abgewiesen. Es hat die Revision nicht
zugelassen.

Der Kläger hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegte
Er rügt vor allem Verletzung des § 103 des Sozialgerichts-
gesetzes (SGG) im Verfahren des LSG. Er beantragt, ihm
die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Ver-
säumung der Revisionsfrist und Revisionsbegründungsfrist
zu gewähren, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des
SG Braunschweig vom 15. Januar 1968 und die Bescheide der

- 3 -

Beklagten vom 18. April 1967 und vom 10. Oktober
1969 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen, hilfsweise, das ange-
fochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu ver-
werfen, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen.

II

Die Revision des Klägers ist zulässig und insofern begründet,
als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das
LSG zurückzuverweisen is.

Dem Kläger ist auf seinen Antrag gemäß § 67 iVm §§ 165, 153
SGG gegen die Versäumung der Revisionseinlegungs- und Revisione-
begründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu ge-
währen, nachdem er innerhalb eines Monats nach Zustellung des
Beschlusses über die Bewilligung des Armenrechts die Revision
eingelegt und begründet hat.

Obgleich das LSG die Revision nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1
SGG zugelassen hat, ist Sie nach § 162 Abs. 4 Nr. 2 SGG statt-
haft, weil die Revision ordnungsgemäß als wesentlichen Mangel
im Verfahren des Berufungsgerichts Verletzung des § 103 SGG
rügt, der auch vorliegt (BSG 1, 150).

In den Gründen seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht
ausgeführt, nach § 204 des Angestelltenversicherungsgesetzes
(AVG) iVm § 1613 Abs. 5 Satz 1 der Reichsversicherungs-
ordnung (RVO) habe die Beklagte den Sachverhalt aufzuklären.
Das bedinge aber eine Mitwirkung des Antragstellers, wie sich
aus § 1613 Abs. 1 Satz 2 RVO ergebe, Da der Kläger sich

- 4 -

beharrlich weigere, an dieser notwendigen Aufklärung des Sache
verhalts mitzuwirken, indem er zunächst kein Antragsformular
eingesandt und später eine Untersuchung verweigert habe, habe
die Beklagte mit Recht den Rentenantrag abgelehnt, weil sie
nicht in der Lage gewesen sei, den Sachverhalt aufzuklären.
Zur Beurteilung der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit des Klägers
sei die Einholung eines ärztlichen Gutachtens über seinen
Gesundheitszustand unerläßlich gewesene Die im Versorgungs-
verfahren vorgenommenen Untersuchungen seien für die Frage der
Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit im Rentenverfahren nicht
zugrunde zu legen, da hier andere Gesichtspunkte Geltung
hätten. Alle von dem Kläger im Laufe des Verfahrens gemachten
Ausführungen lägen neben der Sache und hätten mit der recht-
lichen Beurteilung des hier zu entscheidenden Falles, nämlich
ob die Beklagte mit Recht den Antrag auf Rente abgelehnt habe
oder nicht, nichts zu tun.

Das LSG hat damit seiner Pflicht nicht genügt, gemäß § 105 SGG
den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen.

Dem LSG lagen die Versicherunkarten des Klägers vor, Sie
reichten - wie der Tatbestand des angefochtenen Urteils auch
zeigt - aus, das Versicherungsleben des Klägers und die Tätig-
keiten festzustellen und zu beurteilen, in denen er versiche-
rungspflichtig beschäftigt gewesen ist,

ln der Regel ist der Versicherte verpflichtet, bei der Beweis-
erhebung über seine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit sich von
dem ihm bezeichneten Arzt untersuchen zu lassen, soweit die
vorgesehenen Untersuchungen zumutbar sind, Er braucht sich
schon einer solchen Untersuchung nicht zu unterziehen, wenn
er sich für seine Weigerung auf einen triftigen Grund berufen
kann (vgl. hierzu BSG 20, 166, 168). Hierzu sind in dem an-
gefochtenen Urteil keine Feststellungen getroffen.


- 5 -

Verweigert der Versicherte die ärztliche Untersuchung ohne be-
rechtigten Grund, so darf ohne die für erforderlich gehaltene
Untersuchung nach Lage der im übrigen ausreichend geklärten
Akten nur entschieden werden, wenn er nachweislich die Auf-
forderung zur Untersuchung erhalten hat und ihm die Folgen
einer unbegründeten Weigerung angedroht sind. Es ist jedoch
nicht zulässig, allein wegen der Weigerung des Versicherten,
sich untersuchen zu lassen, in jedem Falle von vornherein auf
jede Beweiserhebung zu verzichten und auch den Versuch zu unter-
lassen, ein Gutachten nach Lage der bereits vorhandenen ärzt-
lichen Untersuchungsbefunde und Gutachten zu erstellen, deren
Beiziehung möglich gewesen wäre, oder ohne die behandelnden
Ärzte des Versicherten bzw. die von ihm selbst angegebenen
Ärzte anzuhören (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversiche-
rung, Bde III so 672 sowie Bd; II so 244 k VII). Das Bundes-
sozialgericht (BSG) hat bereits ausgesprochen, daß das Gericht
seine Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, wenn es, ohne
festzustellen, ob es für die Erstattung eines weiteren Gut-
achtens einer erneuten Untersuchung des Beschädigten bedarf,
allein wegen der Weigerung des Beschädigten, sich erneut unter-
suchen zu lassen, von der Einholung eines Gutachtens über medi-
zinische Fragen absieht (BSG in SozR Nr. 43 zu § 103 SGG).'

In dem vorliegenden Fall hat der Kläger seinem Schreiben vom
29. Dezember 1966 an die BfA eine auszugsweise Abschrift des
Bescheides des Versorgungsamts (VersorgA) Braunschweig vom
13. Dezember 1966 über die von diesem anerkannten Schädi-
gungsfolgen beigefügte Das LSG hätte ohne Beiziehung der
Akten des VersorgA die Sachaufklärung nicht als erschöpft an-
sehen dürfen. Das LSG hätte prüfen müssen, ob sich die Er-
werbsunfähigkeit des Klägers aus den ärztlichen Befunden und
Beurteilungen ergeben konnte, die sich in den Strafakten und
in den Akten des VersorgA befinden, worauf der Kläger sich
berufen hat (Bl 2 und 8 LSG-Akten).

- 6 -

Schließlich hat sich der Kläger zum Beweis für seine Erwerbs-
unfähigkeit — so müssen seine Ausführungen in seiner Klage-
schrift (Bl 5 und 8 LSG-Akten) aufgefaßt werden — auf die
Stellungsnahmen der Ärzte Dr. K und Dr. G II,
beide in Goslar, bezogene Er hat sich bereit erklärt,
Dr. G II von der ärztlichen Schweigepflicht zu ent-
binden. Er hat des weiteren ärztliche Bescheinigungen des
Dr. Guischard (Lungenfacharzt) vom 24. Januar 1967 und des
Dr. K (praktischer Arzt) vom 21. Januar 1967 in Abschrift
vorgelegt (Bl 22 LSG-Akten). In seinem Schriftsatz vom
4. Januar 1968 hat er nochmals erklärt, daß das LSG von

Dr. G II ein Gutachten erhalten könne, wenn ein ent-
sprechender Auftrag erteilt werde (Bl 54 LSG-Akten).

Es ist nicht auszuschließen, daß anhand der in den Akten des
VersorgA und in den Strafakten vorhandenen ärztlichen Befunde
und Gutachten Rückschlüsse zur Feststellung der Erwerbsun-
fähigkeit des Klägers gezogen werden können. Es ist des
weiteren möglich, daß die vom Kläger angegebenen Ärzte für die
Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit ausreichende Beweise hätten
vorbringen können. Das LSG hätte im Rahmen seiner Pflicht,
den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, diese möglichen
Beweise erheben müssen. Der gerügte Mangel einer Verletzung
des § 103 SGG liegt mithin im Verfahren des LSG vor.

Da die Revision schon aus diesem Grunde gemäß § 162 Abs. 1
Nr. 2 SGG statthaft ist, bedarf es keiner weiteren Prüfung,
ob auch die weiteren, von der Revision vorgebrachten Ver-
fahrensrügen durchgreifen.

Die hiernach zulässige Revision ist auch begründet, da nicht
auszuschließen ist, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis ge-
langt wäre, wenn es gesetzmäßig verfahren wären Das ange-
fochtene Urteil ist deshalb aufzuheben. Dem Berufungsgericht
muß zunächst Gelegenheit gegeben werden, die erforderlichen Er-

- 7 -

mittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts durchzuführen.
Hierfür muß die Sache gemäß § 170 Abs. 2 SGG an das LSG zu-
rückverwiesen werden.

Bei seiner das Verfahren abschließenden Entscheidung wird des
LSG auch über die Erstattung von außergerichtlichen Kosten
des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

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BVerfG, 1 BvR 535/07 vom 30.03.2007, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BVR 535/07 -

In dem Verfahren
über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn B...

— Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Matthias Altfeld,
Konstanzer Straße 62, 10707 Berlin —

gegen a) den Beschluss des Landessozialgerichts
Berlin—Brandenburg
vom 22. Januar 2007 — L 18 B 1194/06 AS ER —,

b) den Beschluss des Sozialgerichts Berlin
vom 25. Oktober 2006 — S 101 AS 8862/06 ER —

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs-
gerichts durch den Präsidenten P.
und die Richter S.‚
G.

gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung
der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl 1 S. 1473)
am 30. März 2007 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht
zur Entscheidung angenommen.

- 2 -

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung an-
genommen, weil die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 2 des Bun-
desverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) nicht vorliegen. Die
Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

Der Beschwerdeführer hat die Verfassungsbeschwerde nicht
den gesetzlichen Anforderungen entsprechend (§ 23 Abs. 1
Satz 2, § 92 BVerfGG) begründet. Eine Verletzung von Art. 19
Abs. 4 GG ist nicht hinreichend dargetan. Insbesondere ist
nicht ersichtlich, dass mit dem Abwarten der Hauptsacheent-
ischeidung nicht mehr rückgängig zu machende Nachteile verbun-
den sind. § 22 Abs. 5 Satz 1 und 2 und Abs. 6 Zweites Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) enthält eine Regelung zur Sicherung
der Unterkunft gerade im Fall einer Räumungsklage. Der vor-
rangige Einsatz von geschütztem Vermögen oder nicht anrechen-
barem Einkommen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit kann
nach einer zusprechenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren
ausgeglichen werden.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1
Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

P. S. G.

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BVerfG, 1 BVR 3250/13 und 1 BVR 3251/13 vom 05.12.2013, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

-1 BVR 3250/13 -

-1 BVR 3251/13 -

In den Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerden

des Herrn W...,

1. gegen a) den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg
vom 25. Oktober 2013 - S 19 AS 3294/13 RG —,

b) den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg
vom 16. September 2013 - S 19 AS 2594/13 ER -

u n d Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

u n d Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

- 1 BVR 3250/13 -,

2. gegen a) den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg
vom 25. Oktober 2013 - S 19 AS 3265/13 RG -‚

b) den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg
vom 20. September 2013 - S 19 AS 2665/13 ER —

u n d Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

u n d Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten K.,
den Richter M.
und die Richterin Baer

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekannt-
machung vom 11. August 1993 (BGBI I S. 1473)
am 5. Dezember 2013 einstimmig beschlossen:

Die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wer-
den abgelehnt, weil die Verfassungsbeschwerden keine
hinreichende Aussicht auf Erfolg bieten.

Die rechtzeitig eingelegten Verfassungsbeschwerden
werden nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie
mangels hinreichender Begründung gemäß § 23 Abs. 1
Satz 2, § 92 BVerfGG unzulässig sind; von einer weiteren
Begründung wird insoweit nach § 93d Abs. 1. Satz 3
BVerfGG abgesehen.

Die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
sind gegenstandslos.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

K. M. B.

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BVerfG, 1 BvR 2471/12 vom 27.12.2012
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

-1 BvR 2471/12 -

In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde

der Frau H ...,
gegen das Urteil des Bundessozialgerichts
vom 12. Juli 2012 - B 14 AS 189/11 R -
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines
Rechtsanwalts

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten K.,
den Richter S.
und die Richterin B.
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekannt-
machung vom 11. August 1993 (BGB! I S. 1473)
am 27. Dezember 2012 einstimmig beschlossen:

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und
Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abgelehnt, da die
beabsichtigte Rechtsverfolgung ohne Aussicht auf Erfolg
ist.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung
angenommen, da sie mangels Rechtswegerschöpfung
(§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) unzulässig ist.

- 2-

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BverfGG
abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

K. S. B.

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BVerfG, 1 BvR 2203/12, 1 BvR 2233/12 und 1 BvR 2234/12 vom 12.07.2012, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2203/12 -

- 1 BvR 2233/12 -

- 1 BvR 2234/12 -

In den Verfahren
über die Verfassungsbeschwerden
der Frau H...,

I.

1. unmittelbar gegen das Urteil des Bundessozialgerichts

vom 12. Juli 2012 - B 14 AS 153/11 R -,

2. mittelbar gegen
a) § 20 SGB II n. F.,
b) die neue Regelbedarfsverordnung
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

und Beiordnung eines Rechtsanwalts

- 1 BvR 2203/12 -,

II.
1. unmittelbar gegen
den Beschluss des Bundessozialgerichts

vom 13. September 2012 - B 14 AS 78/12 B -,

2. mittelbar gegen
a) § 20 SGB II,
b) die neue Regelbedarfsverordnung
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

und Beiordnung eines Rechtsanwalts

- 1 BvR 2233/12 -,

- 2 -

III.
gegen
den Beschluss des Bundessozialgerichts

vom 13. September 2012 - B 14 AS 79/12 B -,
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

und Beiordnung eines Rechtsanwalts

- 1 BvR 2234/12 –

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

den Vizepräsidenten K.,
den Richter S.
und die Richterin B.

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekannt-
machung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 20. November 2012
einstimmig beschlossen:

Die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und
Beiordnung eines Rechtsanwalts werden abgelehnt, da
die beabsichtigten Rechtsverfolgungen ohne Aussicht auf
Erfolg sind.

Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entschei-
dung angenommen.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG
abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

K. S. B.

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BVerfG, 1 BVR 1686/93 vom 20.10.1993, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

— 1 BVR 1686/93 —

In dem Verfahren
über

den Antrag

des Herrn

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Ulrich Zimmer,
Südwall 3, Celle -

auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe zur Erhebung einer
Verfassungsbeschwerde

gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs
vom 16. Juli 1993 - III ZR 60/92 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs—
gerichts durch die Richter Henschel,
Seidl‚
Grimm

am 20. Oktober 1993 einstimmig beschlossen:

Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe
wird abgelehnt.

G r ü n d e :

Dem Antragsteller kann keine Prozeßkostenhilfe gewährt wer-
den, weil die beabsichtigte Verfassungsbeschwerde keine hin-
reichende Aussicht auf Erfolg bietet. Eine Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand wegen Versäumung der Monatsfrist gemäß § 93
Abs. 2 Satz 1 BVerfGG kommt nicht in Betracht. Im Falle der
Mittellosigkeit kann Wiedereinsetzung nach Gewährung von Pro-
zeßkostenhilfe nur dann gewährt werden, wenn die mittellose
Partei alles Zumutbare getan hat, um das bestehende Hindernis
alsbald zu beheben. Die Fristversäumung ist daher grundsätz-
lich nur dann unverschuldet‚ wenn der Antragsteller innerhalb
der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG alle für die Ent-
scheidung über das Prozeßkostenhilfegesuch wesentlichen Anga-
ben und Unterlagen verlegt. Dazu gehört auch, daß er ent—
sprechend § 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO wenigstens im Kern deutlich
macht‚ welche verfassungsrechtliche Beanstandung er gegen das
angegriffene Urteil erheben will. Dieser Darlegungspflicht ist
der Antragsteller nicht in zumutbarer Weise nachgekommen. Er
hat sich vielmehr auf die formelhafte Angabe beschränkt, daß
die Verletzung von Grundrechten und sonstigen verfassungs-
rechtlichen Rechten gerügt werden solle‚ und ausdrücklich
erklärt, daß eine weitergehende Begründung des Prozeßkosten-
hilfeantrags nicht beabsichtigt sei.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Henschel Seidl Grimm

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BVerfG, 1 BvR 1601/08 vom 04.02.2009, Bundesverfassungsgericht

Instanz 1: S 14 KR 69/08 ER

Instanz 2: L 5 B 314/08 KR ER

Bundesverfassungsgericht

1 BvR 1601/08

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des

gegen den Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts

vom 3. Juni 2008 – L 5 B 314/08 KR ER -

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

die Richterin H.-D.
und die Richter G.
K.

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11.August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 4. Februar 2009 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

- 2 -

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahme-
gründe im Sinne von § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbe-
schwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, denn sie ist unzulässig.

Die Verfasssungsbeschwerde genügt den Begründungsanforderungen des § 23
Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht.

Der Beschwerdeführer rügt, ihm würden durch die Entscheidung des Landesso-
zialgerichts lebensnotwendige Leistungen vorenthalten bzw. die Nichterstattung
von Fahrkosten führe zu einem Unterschreiten des Existenzminimums. Seinen Ausfüh-
rungen ist jedoch schon nicht zu entnehmen, wie oft er neben der Dialyse-Behandlung zusätzliche
ambulante Behandlungen benötigt, wo diese im Einzelnen stattfinden und
welche Kosten hierdurch entstehen. Ebenso wenig legt der Beschwerdeführer dar,
dass die Nichterstattung dieser Kosten dazu führt, dass das Existenzminimum nicht
mehr gewährleistet ist. Angaben zu seiner konkreten Einkommens- und Vermögens-
situation als auch zu den persönlichen Lebensumständen fehlen ebenso wie Darle-
gungen zu den tatsächlichen finanziellen Belastungen, die durch Fahrten zu am-
bulanten ärztlichen Behandlungen entstehen. Der Beschwerdeführer legt auch nicht
dar, dass er sich wegen der Übernahme von Fahrtkosten an das Sozialamt gewandt
hätte. Zwar wird nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB XII der Bedarf des notwendigen Le-
bensunterhalts mit Ausnahme der Leistungen für Unterkunft und Heizung und der
Sonderbedarfe nach Regelsätzen erbracht, jedoch werden die Bedarfe abweichend
festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf unabweisbar seiner Höhe nach erheblich
vom einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII), diese
Öffnungsklausel erlaubt auch die Übernahme erhöhter Fahrkosten, die über das hin-
ausgehen, was an Fahrtkosten durch die Regelsätze abgegolten sind (vgl.
Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 28 Rn. 13)

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BverfGG
abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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später Instanz 2: L 5 B 748/08 KR ER C

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BVerfg, 1 BvR 1411/91 vom 09.08.1991, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 1411/91 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn

- Bevollmächtigter Rechtsanwalt M.,

gegen den Beschluß des Bundessozialgerichts
vom 9 August 1991 - 2 BU 15/9 -
und Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs-
gerichts durch den Präsidenten H.
und die Richter G.,
S.

am 18 Dezember 1991 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht
zur Entscheidung angenommen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozeß-
kostenhilfe wird abgelehnt.

- 2 -

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sich der
Beschwerdeführer gegen die Ablehnung der Bewilligung von
Prozeßkostenhilfe wendet und soweit er hinsichtlich der Ver-
werfung der Nichtzulassungsbeschwerde die Verletzung des
Art. 11 GG rügt. Im übrigen bietet die Verfassungsbeschwerde
keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 93b Abs. 1 Satz 1
r. 2 BVerfGG ).

1. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verlangt
nach § 92 BVerfGG, daß der Beschwerdeführer innerhalb der
Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG die Möglichkeit einer Grund-
rechtsverletzung hinreichend deutlich darlegt (vgl. BVerfGE
81, 347 [355]). Dies ist hier hinsichtlich der Ablehnung der
Bewilligung von Prozeßkostenhilfe nicht der Fall. Es ist
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Gewährung
von Prozeßkostenhilfe davon abhängig gemacht wird, daß die
beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf
Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfGE 81,
347 [357]). Es ist aufgrund des Vorbringens des Beschwerde-
führers nicht erkennbar, daß das Bundessozialgericht bei der
ihm obliegenden Auslegung und Anwendung des § 114 Satz 1 ZPO
die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten
Rechtsverfolgung und damit den Zweck der Prozeßkostenhilfe,
dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht
zu ermöglichen, deutlich verfehlt haben könnte (vgl. BVerfGE
81, 347 [359]). Es ist dem Beschwerdeführer durch die Ableh-
nung der Bewilligung von Prozeßkostenhilfe auch nicht der
Zugang zu den Gerichten verwehrt worden, denn er hatte mit
dem Prozeßkostenhilfeantrag seine Nichtzulassungsbeschwerde
bereits eingelegt und begründet. Auch soweit der Beschwerde-
führer einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG hinsichtlich
der Ablehnung der Bewilligung von Prozeßkostenhilfe rügt,
fehlt es an einer ausreichenden Begründung der Verfassungsbe-
schwerde.

- 3 -

2. a) Soweit der Beschwerdeführer hinsichtlich der Verwer-
fung der Nichtzulassungsbeschwerde wegen der Nichtgewährung
der nach seiner Ansicht vorrangigen Sozialversicherungslei-
stungen vor den nur subsidiären Sozialhilfeleistungen eine
Verletzung des Art. 11 GG rügt, fehlt es ebenfalls an einer
hinreichenden Darlegung der Möglichkeit einer solchen Grund-
rechtsverletzung. Das Bundessozialgericht hat über den An-
spruch auf Pflegegeld aus der gesetzlichen Unfallversicherung
in der Sache nicht entschieden. Es hat vielmehr festgestellt,
daß der Beschwerdeführer die formalen Voraussetzungen der
§§ 160, 160 a SGG für eine zulässige Nichtzulassungsbeschwer-
de nicht erfüllt hat.

b) Soweit der Beschwerdeführer in der Verwerfung seiner
Nichtzulassungsbeschwerde eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1
GG sowie des "Grundsatzes des sozialen Rechtsstaates (Art. 20
GG )" erblickt, bietet die Verfassungsbeschwerde keine hinrei-
chende Aussicht auf Erfolg.

aa) Gegen den Vertretungszwang nach § 166 SGG bestehen
keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Bundesverfassungs-
gericht hat wiederholt ausgesprochen, daß die Anrufung der
Gerichte von der Erfüllung bestimmter formaler Voraussetzun-
gen abhängig gemacht werden darf, zu denen auch die ordnungs-
gemäße Vertretung durch einen zugelassenen Prozeßbevollmäch-
tigten gehören kann (vgl. BVerfGE 9, 194 [199 f.]; 10, 264
[267 f.]). Auch folgt aus dem Sozialstaatsprinzip bei dem
durch einen Rechtsanwalt vertretenen Beschwerdeführer hin-
sichtlich der Anwendung des § 166 SGG keine gesteigerte Für-
sorgepflicht. Es war von Verfassungs wegen nicht geboten, den
Beschwerdeführer auf die fehlende Erfüllung der formalen
Voraussetzungen für eine zulässige Nichtzulassungsbeschwerde
hinzuweisen, zumal aus Art. 103 Abs. 1 GG keine allgemeine
Frage- und Aufklärungspflicht in bezug auf die Rechtsansicht
des Gerichts folgt (vgl. BVerfGE 74, 1 [5]).

- 4 -

bb) Im übrigen kann das Bundesverfassungsgericht, da das
Bundessozialgericht lediglich anhand der §§ 160, 160 a SGG
über die Nichtzulassung der Revision wegen formaler Begrün-
dungsmängel entschieden hat, den Beschluß des Bundessozialge-
richts nur daraufhin überprüfen, ob das Revisionsgericht bei
der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Zulas-
sung der Revision, die den Fachgerichten obliegt, Verfas-
sungsrecht verletzt hat. Verfassungsrecht ist aber nicht
schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen
Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muß gera-
de in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen. Verfas-
sungsrecht ist nur dann verletzt, wenn Auslegungsfehler
sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere
vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer
materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von eini-
gem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 [92 f.]). Derartige
Fehler im Hinblick auf die vom Beschwerdeführer als verletzt
gerügten Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte enthält
der angegriffene Beschluß nicht.

Mit Art. 19 Abs. 4 GG ist es vereinbar, wenn das Bundesso-
zialgericht seine wesentliche Aufgabe in der Wahrung und
Fortentwicklung des Rechts sieht und daher die Zulassung der
Revision aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde von be-
stimmten formalen Voraussetzungen abhängig macht, wie von
Begründungs-, Darlegungs- und Bezeichnungserfordernissen
innerhalb der Begründungsfrist von zwei Monaten nach Zustel-
lung des Urteils gemäß § 160 a Abs 2 Satz 1 und 3 SGG . Da-
nach ist es nicht zu beanstanden, wenn das Bundessozialge-
richt feststellt, eine Abweichung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 2
SGG habe der Beschwerdeführer nicht schlüssig bezeich-
net, weil er die Entscheidung des Bundessozialgerichts, von
der das Urteil des Berufungsgerichts abgewichen sein solle,
nicht mit Datum und Aktenzeichen genau bezeichnet habe und
auch die Angabe fehle, mit welchem tragenden Rechtssatz der
angefochtenen Entscheidung das Landessozialgericht von wel-

- 5 -

cher genau bezeichneten tragenden rechtlichen Aussage einer
Entscheidung des Bundessozialgerichts abgewichen sein solle.

Es ist nachvollziehbar, daß es das Bundessozialgericht
nicht genügen läßt, wenn der Gegner des Beschwerdeführers im
Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren oder der Beschwerdeführer
selbst erst nach Ablauf der Begründungsfrist dasjenige Ur-
teil, von dem das Berufungsgericht abgewichen sein soll, mit
Datum und Aktenzeichen bezeichnet hat. Weiter ist es nach-
vollziehbar, wenn das Bundessozialgericht den Darlegungen des
Beschwerdeführers in seiner Nichtzulassungsbeschwerdeschrift
nicht die Angabe zu entnehmen vermochte, mit welchem tragen-
den Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung des Berufungs-
gerichts von welcher genau bezeichneten tragenden rechtlichen
Aussage einer Entscheidung des Bundessozialgerichts abgewi-
chen sein soll.

Von Verfassungs wegen ist es ferner nicht zu beanstanden,
wenn das Bundessozialgericht im Hinblick auf die Begründung
der Grundsätzlichkeit der Rechtssache im Sinne des § 160
Abs. 2 Nr. 1 SGG die Erläuterung verlangt, daß und warum in
dem angestrebten Revisionsverfahren eine Rechtssache erheb-
lich sein würde, die über den Einzelfall hinaus allgemein
Bedeutung habe, und wenn es vorliegend in der Begründung der
Nichtzulassungsbeschwerde sowohl die konkrete Formulierung
einer Rechtsfrage als auch die schlüssige Darlegung, warum
das angedeutete Rechtsproblem klärungsbedürftig sei, vermißt.

Schließlich ist es nachvollziehbar, daß das Bundessozialge-
richt davon ausgeht, der Beschwerdeführer habe in seiner Be-
gründung keinen Verfahrensmangel geltend gemacht, auf dem die
angefochtene Entscheidung beruhen könne. Wenn das Bundessozi-
algericht den "Grundsatz der Subsidiarität sozialhilferecht-
licher Leistungen" in durchaus naheliegender Weise als ein
materiell-rechtliches, nicht aber als ein verfahrensrechtli-
ches Problem wertet, so liegt darin auch keine Verletzung des
Art. 103 Abs. 1 GG , denn diese Norm verpflichtet das Gericht
nicht, der Rechtsansicht einer Partei zu folgen (vgl. BVerfGE
64, 1 [12]).

- 6 -

Da das Bundessozialgericht danach in verfassungsrechtlich
nicht zu beanstandender Weise zur Annahme der Unzulässigkeit
der Nichtzulassungsbeschwerde gelangt ist, hat es auch nicht
dadurch gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, daß es aus Grün-
den des formellen Rechts auf weiteres Vorbringen des Be-
schwerdeführers, insbesondere dazu, daß das Berufungsgericht
grundlegend fehlerhaft entschieden habe, nicht eingegangen
ist.

3. Da die Verfassungsbeschwerde teilweise unzulässig ist
und im übrigen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat,
ist der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe abzuleh-
nen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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BVerfG, 1 BvR 1301/86 vom 15.06.1988, Bundesverfassungsgericht
- 1 BvR 1301/86 -

Beschluß des Ersten Senats vom 15. Juni 1988
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau Z. - Bevoll-
mächtigter: Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Philipp, Viktoriastraße 12, Mann-
heim - gegen das Urteil des Bundessozialgerichts vorn 24. September 1986

- 8 RK 8/85 -

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

GRÜNDE:

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Entscheidung
des Bundessozialgerichts, mit der die Revision der Beschwerdefüh-
rerin gegen das Urteil eines Sozialgerichts zurückgewiesen wurde.

Dieses hat die Klage der Beschwerdeführerin gegen ihre gesetzliche
Krankenversicherung auf Unterlassung der Finanzierung von
„rechtswidrigen“ Abtreibungen als unzulässige Popularklage abge-
wiesen.

I.

Das nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Fe-
bruar 1975 (BVerfGE 39, 1 - Fristenregelung) verkündete Fünf-
zehnte Strafrechtsänderungsgesetz vom 18. Mai 1976 (BGBl. I
S. 1213) hat §218a StGB neu gefaßt. Danach ist ein mit Einwilli-
gung der Schwangeren durch einen Arzt vorgenornmener Abbruch
der Schwangerschaft nicht nach §218 StGB strafbar, wenn nach
ärztlichen Erkenntnissen eine medizinische, eine eugenische, eine
ethische oder eine soziale Indikation vorliegt.

Durch § 1 Nr. 2 des Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum
fünften Strafrechtsrefonngesetz (Strafrechtsreform-Ergänzungsge-
setz - StREG) vom 28. August 1975 (BGB1. I S. 2289) wurde in den
zweiten Abschnitt des Zweiten Buches der Reichsversicherungs-
ordnung ein neuer Unterabschnitt ,,IIIa. Sonstige Hilfen" einge-
fügt. Danach haben Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse
oder einer ihnen nach § 507 Abs. 4 RVO gleichgestellten Ersatzkas-
se bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der Schwangerschaft
Anspruch auf Krankenkassenleistungen. Für die Leistungsgewäh-
rung gelten grundsätzlich die für die Krankenhilfe maßgeblichen
Vorschriften. Im einzelnen lauten die Bestimmungen:

§ 200f RVO

Versicherte haben Anspruch auf Leistungen bei einer nicht rechtswid-
rigen Sterilisation und bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der
Schwangerschaft durch einen Arzt. Es werden ärztliche Beratung über
die Erhaltung und den Abbruch der Schwangerschaft, ärztliche Untersu-
chung und Begutachtung zur Feststellung der Voraussetzungen für eine
nicht rechtswidrige Sterilisation oder für einen nicht rechtswidrigen
Schwangerschaftsabbruch, ärztliche Behandlung, Versorgung mit Arz-
nei-, Verband- und Heilmitteln sowie Krankenhauspflege gewährt. An-
spruch auf Krankengeld besteht, wenn Versicherte wegen einer nicht
rechtswidrigen Sterilisation oder wegen eines nicht rechtswidrigen Ab-
bruchs der Schwangerschaft durch einen Arzt arbeitsunfähig werden, es
sei denn, es besteht Anspruch nach § 182 Abs. 1 Nr. 2.
§ 200 g RVO

Die für die Krankenhilfe geltenden Vorschriften gelten für die Lei-
stungsgewährung nach den §§200e und 200f entsprechend, soweit
nichts Abweichendes bestimmt ist. …

Der in §200f Satz 1 RVO verwendete Begriff des „nicht rechts-
widrigen“ Abbruchs der Schwangerschaft wird von der im sozial-
rechtlichen Schrifttum herrschenden Auffassung mit der in §218a
Abs. 1 Satz 1 StGB gebrauchten Formulierung „nicht strafbar“
gleichgesetzt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung,
Bd. I/2, S. 284 k, 285, 286; Peters, Handbuch der Krankenversiche-
rung, Teil II, Band 2, Anm. 4 zu §200f RVO; Schroeder-Printzen
in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Kommentar, 2. Aufl.,
Anm. 3 zu §200f RVO; Aye/Göbelsmann/Müller/Schieckel/
Schroeter, RVO-Gesamtkommentar, Anm. 5 zu §200 f, S. 248).

Dem folgend gewähren die gesetzlichen Krankenkassen ihren Mit-
gliedern bei nach § 218 a StGB nicht strafbaren Schwangerschafts-
abbrüchen die nach den Vorschriften über die Krankenhilfe vorge-
sehenen Leistungen.

II.

1. Nach §54 Abs. 5 SGG kann mit der Klage vor den Sozialge-
richten die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsan-
spruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungs-
akt nicht zu ergehen hatte.

Die Beschwerdeführerin erhob unter Berufung auf diese Vor-
chrift Klage beim Sozialgericht und beantragte:

1. die Beklagte zu verurteilen, solange sie Mitglied der Beklag-
ten ist, Leistungen nach §§ 200 f und 200 g RVO, § 17a Abs. 2
bis 4 der Versicherungsbedingungen der Beklagten an Versi-
cherte oder mitgeschützte Personen ausschließlich für solche
Schwangerschaftsabbrüche zu erbringen, die wegen nach-
weislichen Vorliegens der Indikation nach § 218 a Abs. 1 StGB
nicht rechtswidrig sind, und für jeden Fall der Zuwiderhand-
lung ein Ordnungsgeld anzudrohen, dessen Höhe in das Er-
messen des Gerichts gestellt wird,

2. hilfsweise, die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen,
solange die Klägerin Mitglied der Beklagten ist, für Schwan-
gerschaftsabbrüche Leistungen nach §§ 200f und 200g RVO, 4
§ 17 a Abs. 2 bis 4 der Versicherungsbedingungen der Beklag-
ten an Versicherte oder mitgeschützte Personen zu erbringen,
ohne daß sie

a) die Nichtrechtswidrigkeit,

b) hilfsweise die Nichtstrafbarkeit des Schwangerschaftsab-
bruches in angemessener Weise selbst überprüft hat, sowie für
jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld anzudro-
hen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird.

Das Sozialgericht war anfänglich der Auffassung, die Klage sei
nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig. Das Begehren der Beschwerdefüh-
rerin sei nicht auf die abstrakte Feststellung der Ungültigkeit einer
Norm, sondern darauf gerichtet, die beklagte Krankenkasse zu
verpflichten, konkretes Verwaltungshandeln einzustellen.

Das Gericht setzte das Verfahren aus und legte dem Bundesver-
fassungsgericht die Frage vor, ob die §§ 200 f, 200g RVO insoweit
mit Art. 2 Abs. 1, ferner mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3
Abs. 1 sowie mit Art.4 Abs. 1 GG vereinbar seien, als in diesen
Vorschriften Kassenleistungen für solche Schwangerschaftsabbrü-
che vorgeschrieben seien, die aus anderen Gründen als dem Vorlie-
gen einer lndikation nach § 218 a Abs. 1 StGB rechtmäßig seien.

Das Bundesverfassungsgericht sah die Vorlage als unzulässig an.

Grundsätzlich sei eine auf § 54 Abs. 5 SGG gestützte vorbeugende
Unterlassungsklage eines Mitglieds gegen seine gesetzliche Kran-
kenkasse statthaft. Die von der Beschwerdeführerin erhobene Kla-
ge sei jedoch als Popularklage unzulässig. §54 Abs. 5 SGG eröffne
nicht die Möglichkeit einer abstrakten Normenkontrolle. Hinsicht-
lich der Begründung der Entscheidung im einzelnen wird auf den
Beschluß des Ersten Senats vom 18.April 1984 - 1BvL 43/81 -
(BVerfGE 67, 26) verwiesen.

2. Auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
verfolgte die Beschwerdeführerin ihr Klagebegehren weiter.

Das Sozialgericht wies die Klage ab. Sie sei unzulässig, weil es der
Beschwerdeführerin an der erforderlichen Klagebefugnis fehle.

Diese könne nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-
gerichts zur Klagebefugnis von Zwangsmitgliedern öffentlich-
rechtlicher Verbände begründet werden; denn diese Rechtspre-
chung lasse sich nicht auf Zwangsmitgliedschaften im Bereich des
Sozialversicherungsrechts übertragen. Bei der Erfüllung staatlicher
Aufgaben durch die Träger der Sozialversicherung gehe es nicht um
die Interessenvertretung bestimmter Bevölkerungsgruppen, son-
dern um die Wahrnehmung von Gemeinwohlinteressen. Mitglieder
des Zwangsverbandes hätten keinen Anspruch auf Leistungen an
einen Dritten. Entsprechend gebe es keinen Rechtsanspruch eines
Mitglieds darauf, daß die Leistung gegenüber einem Dritten einge-
stellt werde. Die Kontrolle über die Mittelverwendung obliege den
Selbstverwaltungsorganen und den Aufsichtsbehörden.

Das Bundessozialgericht hat die Sprungrevision der Beschwerde-
führerin zurückgewiesen. Auch für die reine Leistungsklage nach
§54 Abs.5 SGG sei ein Rechtsschutzbedürfnis erforderlich. Die
Beschwerdeführerin sei durch die beanstandeten Leistungen der
Beklagten nicht in ihren eigenen Rechten verletzt, weil diese sich
nicht unmittelbar gegen ihren Rechtskreis richteten.

Auf Art. 2 Abs. 1 GG könne die Beschwerdeführerin ihr Verlan-
gen auf Einstellung der nach ihrer Ansicht rechtswidrigen Verwal-
tungspraxis der Beklagten nicht stützen. Wollte man jedem Mit-
glied wegen seiner versicherungsrechtlichen Zwangsmitgliedschaft
das Recht zugestehen, von ihm mißbilligte Leistungen an andere
Mitglieder gerichtlich überprüfen zu lassen, so würde dies zu einer
gesetzlich nicht vorgesehenen abstrakten Rechtskontrolle führen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Urteil des
Bundessozialgerichts. Die Beschwerdeführerin rügt Verletzung
von Art. 2 Abs. 1, von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1,
von Art.4 Abs. 1 und Art. 19 Abs.4 GG durch die angegriffene
Entscheidung, wobei sie nur Ausführungen zu Art. 2 Abs. 1 und
Art. 19 Abs. 4 GG macht und im übrigen auf den gesamten bisheri-
gen Vortrag, insbesondere auf die Revisionsbegründung nebst
nachfolgenden Schriftsätzen an das Bundessozialgericht verweist.

Sie trägt vor:

Während des ganzen Verfahrens habe sie die Auffassung vertre-
ten, daß §§ 200 f, 200 g RVO mit der Verfassung vereinbar seien, die
Beklagte diese Bestimmungen jedoch durch gesetzesüberschreiten-
des und rechtswidriges Verwaltungshandeln mißachte und sie da-
durch in ihren Rechten als Zwangsmitglied verletze. Nur hilfsweise
habe sie sich auf die Verfassungswidrigkeit der §§ 200 f, 200 g RVO
berufen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
18. April 1984 (BVerfGE 67, 27) beziehe sich daher nicht auf ihren
Antrag, die Beklagte des Ausgangsverfahrens möge sich auf die
Wahrnehmung der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben be-
schränken.

Sie habe ausschließlich vorgetragen und nachgewiesen, daß die
Beklagte das Tatbestandsmerkmal „nicht rechtswidrig“ in zehntau-
senden von Fällen vernachlässigt und auch mit ihren Beiträgen
rechtswidrige Schwangerschaftsabbrüche finanziert habe. Das
Bundessozialgericht habe ihren Anspruch nicht berücksichtigt, daß
die Beklagte nur die ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben erfüllen
dürfe. Dies habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Entschei-
dung als selbstverständlich vorausgesetzt. Gegenstand der Verfas-
sungsbeschwerde sei mithin keine Normenkontrolle, sondern die
Frage, ob ihr als Mitglied einer Zwangskörperschaft gegen allgemei-
nes gesetzwidriges Verwaltungshandeln des Vorstands der Rechts-
weg offenstehe, weil sie behaupte, in ihren eigenen Rechten ver-
letzt zu sein. Diese Rechtsfrage sei im übrigen weit über den Bereich
der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus von grundsätzlicher
verfassungsrechtlicher Bedeutung.

Die Krankenkassen seien unter Erweiterung ihres Arbeitsgebiets
zu „Abtreibungskassen“ geworden. Diese Ausdehnung des Aufga-
benbereichs einer Zwangskörperschaft stehe im Verhältnis zu den
Pflichtrnitgliedern einer Neugründung gleich. Für das Bundesver-
fassungsgericht sei nie zweifelhaft gewesen, daß der Bürger unter
Berufung auf Art.2 Abs. 1 GG seine Inpflichtnahrne durch eine
neue oder erweiterte Zwangskörperschaft mit Beitragsverpflich-
tung nachprüfen lassen könne. Aus der bisherigen Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts sei nicht zu schließen, daß der
Bürger sich selbst dann nicht auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen könne,
wenn die Ausweitung der Tätigkeit des Zwangsverbandes nicht
vom Gesetzgeber angeordnet worden sei. Sie habe daher nach
Art. 2 Abs. 1 GG das Recht, eine Nachprüfung des Verwaltungs-
handelns der Beklagten zu verlangen, sonst müßten sich die Mit-
glieder einer Zwangskörperschaft über ihre Beitragsleistungen an
rechtswidrigen oder sogar kriminellen Handlungen beteiligen, oh-
ne daß ihnen ein gerichtliches Verfahren zur Nachprüfung solcher
Übergriffe eröffnet sei. Das beitragszahlende Mitglied einer
Zwangskörperschaft stehe zu dieser in einem wesentlich engeren
Verhältnis als der Steuerzahler zum Staat, da die Zusammenfas-
sung von Bürgern zu einer Zwangskörperschaft nach ständiger
Rechtsprechung jeweils gesonderter und nachprüfbarer Legitima-
tion bedürfe.

Danach sei die Frage, ob sie durch die beanstandeten Leistun-
gen der Beklagten „in ihren eigenen Rechten“ verletzt sei, bei
der Begründetheit der Klage zu überprüfen. Das Bundessozialge-
richt verkenne, wie tief die Beschwerdeführerin sich durch die
Inanspruchnahme ihrer Person für Tötungshandlungen in ihren
Rechten betroffen fühle. Wenn es aus dem Hinweis des Bundes-
verfassungsgerichts, § 54 Abs. 5 SGG eröffne nicht die Möglich-
keit einer abstrakten Normenkontrolle, folgere, das einzelne Mit-
glied habe keine Möglichkeit, die rechtswidrige Ausgabenver-
wendung im Klagewege zu verhindern, stelle es die Fälle einer
zwar gesetzmäßigen, aber verfassungswidrigen Mittelverwen-
dung einerseits und einer schlechthin gesetzwidrigen Mittelver-
wendung durch den eigenmächtig handelnden Vorstand anderer-
seits gleich. Es sei unverständlich, wenn das Bundessozialgericht
feststelle, die Beschwerdeführerin habe nicht berücksichtigt, daß
das Bundesverwaltungsgericht Mitgliedern öffentlich-rechtlicher
Zwangsverbände ein Abwehrrecht nur gegen die Wahrnehmung
,,nicht legitimer Aufgaben" eingeräumt habe; gerade dies habe
sie vorgetragen. Offenbar sei das Bundessozialgericht der Auffas-
sung, die allgemein für Zwangskörperschaften bestehenden
Grundsätze sollten für Krankenkassen nicht gelten; eine solche
Differenzierung zwischen verschiedenen Zwangskörperschaften
sei jedoch sachlich nicht vertretbar.

Es gehe ihr nicht um einzelne Fehlentscheidungen, sondern um
die prinzipielle, eigenmächtige Erweiterung des Tätigkeitsbereichs
der Zwangskörperschaft durch Nichtbeachtung oder Falschausle-
gung von Rechtsvorschriften, welche in die Rechtssphäre der Mit-
glieder eingreife. Die erforderliche Abgrenzung dieser Fallgestal-
tungen habe das Bundessozialgericht nicht vorgenommen und den
klaren Vortrag der Beschwerdeführerin überhaupt nicht gewürdigt.

Der Hinweis des Gerichts, daß die Rechtskontrolle über eine rechts-
widrige Ausgabenverwendung allein den Selbstverwaltungsorga-
nen und Aufsichtsbehörden der Versicherungsträger obliege, sei
eine bloße Leerformel. In Wirklichkeit finde im Bereich des Lebens-
schutzes überhaupt keine Überwachung der Krankenkassen mehr
statt. Dies ergebe sich aus einem Schreiben des Bundesministers für
Arbeit und Sozialordnung, wonach dieser keine Befugnis habe,
Krankenkassen in dem von der Beschwerdeführerin gewünschten
Sinne anzuweisen. Im übrigen lehne die Bundesregierung generell
jede Überprüfung der gegenwärtigen Rechtspraxis der Kran-
kenkassen ab, wie sich aus der Beantwortung einer entsprechenden
parlamentarischen Anfrage ergebe.

Durch die Revisionsentscheidung des Bundessozialgerichts wer-
de ihr schließlich der Rechtsweg in verfassungswidriger Weise ab-
geschnitten (Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG).

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit unzulässig, als die Ver-
letzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 und von
Art. 4 Abs. 1 GG gerügt wird. Nimmt die Verfassungsbeschwerde-
schrift auf Ausführungen in der Revisionsbegründung und anderen
Schriftsätzen Bezug, ist den Formerfordernissen des § 92 BverfGG
nur genügt, wenn die Schriftsätze der Verfassungsbeschwerde als
Anlagen beigefügt werden (vgl. BVerfGE 47, 182 [187]). Das ist
hier nicht geschehen.

Im übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.

I.

1. Den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommt
wie denen anderer Gerichte Rechtskraftwirkung zu. Dabei bezieht
sich die materielle Rechtskraft allein auf die Entscheidungsformel,
nicht aber auf die in den Entscheidungsgründen enthaltenen Urteils-
elemente, wenngleich die Entscheidungsgründe zur Ermittlung des
Sinnes der Entscheidungsformel herangezogen werden können. Sie
bindet in einem späteren Verfahren das Gericht nur dann, wenn es
sich um denselben Streitgegenstand zwischen denselben Parteien
handelt (vgl. BVerfGE 4, 31 [38f.]).

Danach entfaltet der Beschluß vom 18. April 1984 (BVerfGE 67,
26) keine Rechtskraftwirkung im Hinblick auf die vorliegende Ver-
fassungsbeschwerde; denn der Streitgegenstand des Vorlageverfah-
rens ist nicht identisch mit dem Streitgegenstand der vorliegenden
Verfassungsbeschwerde. Das Vorlageverfahren betraf die Verfas-
sungsmäßigkeit der §§ 200 f, 200 g RVO; Streitgegenstand des Ver-
fassungsbeschwerdeverfahrens ist hingegen die behauptete Grund-
rechtsverletzung der Beschwerdeführerin durch das angegriffene
Urteil des Bundessozialgerichts. Die Beschwerdeführerin war auch
nicht „Beteiligte“ des Vorlageverfahrens. Im Verfahren der konkre-
ten Normenkontrolle haben die Beteiligten des Ausgangsverfahrens
zwar das Recht, sich zu äußern (§ 82 Abs. 3 BVerfGG); sie werden
dadurch aber nicht im engeren Sinne Beteiligte dieses Verfahrens
(vgl. BVerfGE. 42, 90 [91]; Ulsamer in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/
Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 82 Rdnr. 17 m. w. N.),

2. Eine Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG kommt-
abgesehen davon, daß diese nicht für das Bundesverfassungsgericht
selbst besteht (vgl. BVerfGE 4, 31 [38 f.]; 20, 56 [87]) - schon deshalb
nicht in Betracht, weil der die Vorlage verwerfende Beschluß keine
Sach-, sondern lediglich eine Prozeßentscheidung darstellt (vgl.
Maunz in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, a.a.O., §31,
Rdnr. 18). Die Bindungswirkung erstreckt sich nicht auf die zu
lnzidentfragen entwickelten Rechtsansichten, die das Bundesverfas-
sungsgericht zur Abweisung eines Antrages aus prozessualen Grün-
den bestimmt haben.

II.

§ 92 BVerfGG verlangt, daß in der Begründung der Beschwerde
das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlas-
sung des Organs oder der Behörde, durch die die Beschwerdeführe-
rin sich verletzt fühlt, bezeichnet werden. Zur Zulässigkeit einer
Verfassungsbeschwerde ist es danach erforderlich, daß sich aus dem
Vortrag der Beschwerdeführerin mit hinreichender Deutlichkeit
die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergibt (Vgl. BverfGE
65, 227 [232 f.]).

Die Beschwerdeführerin hat ausgeführt, das Urteil des Bundesso-
zialgerichts, mit dem die Entscheidung des Sozialgerichts über die
Unzulässigkeit ihrer Klage bestätigt wurde, verletze sie in ihren
Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG, weil sie als
Zwangsmitglied der Beklagten einen Anspruch auf gesetzmäßige
Verwendung ihrer Beiträge habe, für den ihr der Klageweg eröffnet
werden müsse. Damit ist den Anforderungen des §92 BverfGG
genügt.

C.

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die Beschwerde-
führerin hat keinen Anspruch aus Art. 2 Abs. 1 oder Art. 19 Abs. 4
GG, daß ihr Klagebegehren durch die Gerichte der Sozialgerichts-
barkeit materiell beschieden wird.

I.

Die Frage der verfassungsrechtlichen Schranken einer Zwangs-
rnitgliedschaft in einem öffentlich-rechtlichen Verband hat das Bun-
desverfassungsgericht am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG geprüft
und entschieden, daß eine solche Zwangsmitgliedschaft nur im
Rahmen der verfassungsmäßigen Crdnung möglich ist. Danach darf
der Staat öffentlich-rechtliche Verbände nur schaffen, um legitime
öffentliche Aufgaben wahrnehmen zu lassen (vgl. BVerfGE 10, 89
[102]; 10, 354 [363]; 38, 281 [299]). Diese Rechtsprechung bezieht
sich ausschließlich auf die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen
für die Errichtung von öffentlichen Verbänden mit Zwangsmitglied-
schaft und betrifft nicht die Einwirkungsmöglichkeit des Mitglieds
eines verfassungsmäßig errichteten Zwangsverbandes auf die Si-
cherung der legitimen Aufgabenerfüllung.

Die Beschwerdeführerin macht in diesem Zusammenhang gel-
tend, daß die Krankenkassen nach Einführung der §§200f, 200g
RVO ihr Arbeitsgebiet in einer Weise erweitert hätten, die einer
Neugründung gleichkomme. Mit dieser Argumentation will sie aus
der oben angegebenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts ableiten, daß das Sozialgericht über den gesetzlichen Umfang
der sozialversicherungsrechtlichen Leistungen bei Schwanger-
schaftsabbrüchen zu entscheiden hat. Dem kann nicht gefolgt wer-
den. Durch die Übertragung zusätzlicher Aufgabenbereiche auf
einen Zwangsverband wird die Verfassungsmäßigkeit seiner Er-
richtung und seines Bestandes nicht berührt, wenn es - wie hier -
bei der Erfüllung der ursprünglichen, verfassungsrechtlich unbe-
denklichen Aufgaben verbleibt und die neuen Aufgaben den Cha-
rakter des Zwangsverbands nicht wesentlich verändern.

II.

Allerdings können die Mitglieder öffentlich-rechtlicher Zwangs-
Verbände nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
von dem Verband die Einhaltung derjenigen Grenzen verlangen,
die seiner Tätigkeit durch die gesetzlich festgelegte Aufgabenstel-
lung gezogen sind. Das ergebe sich insbesondere aus Art. 2 Abs. 1
GG, der dem einzelnen Mitglied ein Abwehrrecht gegen solche
Eingriffe des Verbandes einräume, die sich nicht im Wirkungskreis
legitimer öffentlicher Aufgaben hielten oder bei deren Wahrneh-
mung nicht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprochen werde
(vgl. BVerwGE 59, 231).

Diese unter anderem für die Tätigkeit der verfaßten Studenten-
schaft entwickelte Rechtsprechung kann aber nicht ohne weiteres
auf alle anderen öffentlich-rechtlichen Zwangsverbände übertra-
gen werden. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Verbürgung
einer solchen Klagemöglichkeit des Mitglieds gegen den Zwangs
verband läßt sich nicht einheitlich beantworten. Wenn die Tätigkeit
des Verbandes über die Beitragspflicht hinaus in eigene Grundrech-
te des Mitglieds eingreift, liegt es nahe, eine solche Klagemöglich-
keit von Verfassungs wegen anzunehmen (vgl. BVerwG, a.a.O.).

Im vorliegenden Falle wird die Beschwerdeführerin dagegen ver-
fassungsrechtlich nur in ihrem Vermögen als Beitragspflichtige be-
troffen. Aus den Grundrechten folgt kein Anspruch auf generelle
Unterlassung einer bestimmten Verwendung öffentlicher Mittel
(vgl. BVerfGE 67, 26 [37]).

III.

Da sich eine Klagebefugnis der Beschwerdeführerin nicht aus der
Verfassung ergibt, ist hier die Auslegung und Anwendung des § 54
Abs. 5 SGG allein Sache der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit und
ist der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen.

(gez.) Herzog Niemeyer Henschel
Seidl Grimm Söllner
Dieterich

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Freitag, 8. Mai 2015
BVerfG, 1 BvR 1411/91 vom 09.08.1991, Bundesverfassungsgericht
382 E 86, 382,1 Nr. 17

Nr. 17

1. Droht einem Beschwerdeführer, der sich unmittelbar gegen ein Ge-
setz wendet, bei der Verweisung auf den Rechtsweg in der Hauptsache ein
schwerer Nachteil, kann er nach dem Grundsatz der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde gehalten sein, vor der Anrufung des Bundesver-
fassungsgerichts wenigstens den Rechtsweg im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes zu erschöpfen.

2. Hält ein Gericht eine für seine Entscheidung maßgebliche Gesetzes-
norm für verfassungswidrig, so ist es durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht
gehindert, vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren,
wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint
und die Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen wird.

Beschluß des Ersten Senats vom 24. Juni 1992 gemäß 524 BVerfGG

- 1 BvR 1028/91 -

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. des Herrn A... und

weiterer 98 Beschwerdeführer — Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Willi A.

Handorn, Klaus Wagner und Partner, Talstraße 27, Homburg/Saar — gegen

das Gesetz vom 23. September 1990 zu dem Vertrag vom 31. August 1990

zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokrati-
schen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungs-
vertragsgesetz — und der Vereinbarung vom 18. September 1990 (BGBl. II
S. 885), soweit darin den Regelungen des Vertrages, wonach Kiese und
Kiessande im Beitrittsgebiet als bergfreie Bodenschätze im Sinne des 53
Abs. 3 BBergG eingestuft werden, zugestimmt worden ist.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL:

Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.

GRÜNDE:

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Regelung des
Einigungsvertrages, daß Kiese und Kiessande im Beitrittsgebiet als
bergfreie Bodenschätze behandelt werden und damit — im Unter-
schied zu der Rechtslage, die nach dem Bundesberggesetz im alten
Bundesgebiet galt und weiterhin gilt — nicht im Eigentum des
Grundstückseigentümers stehen.

24. 6. 92 383

1. Das Bundesberggesetz — BBergG —— vom 13.August 1980
(BGBl.I S. 1310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.Februar
1990 (BGBl.I S.215), unterscheidet zwischen grundeigenen und
bergfreien Bodenschätzen. Grundeigene Bodenschätze stehen im
Eigentum des Grundeigentümers; auf bergfreie Bodenschätze er-
streckt sich das Eigentum an einem Grundstück nicht (53 Abs.2
BBergG). Sofern Bodenschätze weder bergfrei (5 3 Abs. 3 BBergG)
noch grundeigen (5 3 Abs. 4 BBergG) sind, stehen sie als sonstige
Grundeigentümerbodenschätze ebenfalls im Eigentum des Grund-
eigentümers. Jedoch findet das Bundesberggesetz‚ das auch Vor-
schriften über das Aufsuchen, Gewinnen und Aufbereiten grundei-
gener Bodenschätze enthält, darauf keine Anwendung.

Nach der im alten Bundesgebiet bestehenden Rechtslage gehören
Kiese und Kiessande zu den grundeigenen Bodenschätzen, soweit
sie untertägig aufgesucht oder gewonnen werden (5 3 Abs. 4 Nr. 2
BBergG), und, soweit dies nicht der Fall ist, zu den sonstigen Grund-
eigentümerbodenschätzen.

2. In der Deutschen Demokratischen Republik bestimmte 53
des Berggesetzes vom 12. Mai 1969 (GBl. I S. 29):

Mineralische Rohstoffe, deren Nutzung von volkswirtschaftlicher Be-
deutung ist, sind Bodenschätze und - unabhängig Vorn Grundeigentum -
Volkseigentum.

In der Verordnung über die Verleihung von Bergwerkseigentum
vom 15. August 1990 (GBl. I S. 1071) wurden als Bodenschätze im
Sinne von 5 3 des Berggesetzes die in der Anlage zu dieser Verord-
nung aufgeführten mineralischen Rohstoffe bestimmt. Nach
Nr. 9.23 der Anlage fielen darunter:

Kiese und Kiessande zur Herstellung von Betonzuschlagstoffen (Kies-
anteil größer 2mm: mehr als 10% geologische Vorratsmenge: größer
1,0 Mio t), einschließlich darin enthaltener Quarzkiese zur Herstellung
von Ferro-‚ Chemie- und Filterkies.

Durch 51 Abs. 1 dieser Verordnung wurde der Ministerrat oder
eine von ihm bestimmte Stelle ermächtigt, der Treuhandanstalt auf
Antrag für ein bestimmtes Feld und für bestimmte unter 53 des
384 E 86, 382, I Nr. 17
Berggesetzes fallende Bodenschätze Bergwerkseigentum zu verlei-
hen mit der Befugnis, es gegen Entgelt weiter zu übertragen.

3. Gemäß Art.8 des Einigungsvertrages und dessen Anlage I
Kapitel V Sachgebiet D Abschnitt III Nr. 1 (BGBl.II S. 1004f.) ist
das Bundesberggesetz im Beitrittsgebiet mit folgenden Maßgaben
in Kraft getreten:

a) Mineralische Rohstoffe im Sinne des 53 des Berggesetzes der
Deutschen Demokratischen Republik vom 12.Mai 1969 (GBl.I Nr.5
S. 29) und der zu dessen Durchführung erlassenen Vorschriften sind
bergfreie Bodenschätze im Sinne des 53 Abs. 3.

d) (1) Gewinnungsrechte an mineralischen Rohstoffen im Sinne des
5 3 des Berggesetzes der Deutschen Demokratischen Republik kann der
zur Ausübung Berechtigte innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach
dem Tage des Wirksamwerdens des Beitritts bei der für die Zulassung
von Betriebsplänen zuständigen Behörde zur Bestätigung anmelden. . ..

Die Bestätigung ist unter den in Absatz 2 dieser Regelung ge-
nannten Voraussetzungen zu erteilen. Ein bestätigtes Gewinnungs-
recht gilt, wenn das Gewinnungsrecht dem Antragsteller aufgrund
der Verordnung vom 15.August 1990 als Bergwerkseigentum
übertragen worden war, als Bergwerkseigentum im Sinne von
5151 BBergG (Absatz 4 Nr.2 i.V.m. Absatz 2 Nr. 1.2 der Rege-
lung).

II.

Mit der am 3.Juli 1991 erhobenen Verfassungsbeschwerde, der
sich weitere Beschwerdeführer am 20. August 1991 angeschlossen
haben, wenden sich die Beschwerdeführer gegen die genannte Re-
gelung des Einigungsvertrages‚ soweit danach Kiese und Kiessande
als bergfreie Bodenschätze im Sinne von 53 Abs. 3 BBergG einge-
stuft worden sind. Sie rügen eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1,
Art. 14 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 2 GG und tragen vor:

Sie seien Eigentümer oder Miteigentümer von Kiesgrundstücken,
die sich innerhalb zweier der insgesamt 1300 auf dem Gebiet der
ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik vorhandenen
Kieslagerstätten befänden. Durch die angegriffene Regelung sei
ihnen das Gewinnungsrecht am Kies auf ihren Grundstücken entzo-
gen. Die Treuhandanstalt habe von der Möglichkeit gemäß 51 der
Verordnung vom 15. August 1990 Gebrauch gemacht und sich an
sämtlichen Kies- und Kiessandgrundsstücken in den neuen Bundes-
ländern das Bergwerkseigentum verleihen lassen. Inzwischen habe
die Treuhandanstalt sämtliche Kiesbetriebe nach einzelnen Be-
triebsstätten ausgeschrieben und sei jetzt dabei, die Betriebsstätten
zur Ausbeutung zu vergeben. Einige Vergaben seien bereits erfolgt.

Sie seien durch die gesetzliche Regelung selbst, gegenwärtig und
unmittelbar betroffen. Außer der Verfassungsbeschwerde hätten
sie keine Möglichkeit, sich gegen die Verletzung ihrer Grundrechte
zu wehren. Die vorliegende Verfassungsbeschwerde sei auch von
großer allgemeiner Bedeutung. Die Ungewißheit über die rechtli-
che Zulässigkeit der Vergabe des Bergwerkseigentums durch die
Treuhandanstalt an Dritte stelle ein bedeutsames Hemmnis für den
wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern dar. Insge-
samt seien etwa 65 O00 Grundstückseigentümer betroffen. Im Falle
der Fortgeltung der jetzigen Regelung entstünde ihnen durch die
Vorenthaltung des Eigentums am Kies ein schwerer und unabwend-
barer Nachteil.

Für die ungleiche Behandlung der Grundstückseigentümer im
Osten und im Westen Deutschlands sei ein sachlicher Grund nicht
ersichtlich. Die Gründe, die nach dem Bundesberggesetz für die
Bergfreiheit bestimmter Bodenschätze in Betracht kämen (Siche-
rung der Rohstoffversorgung, Abwehr von Gefahren beim Abbau
der Bodenschätze), träfen auf den Abbau von Kies nicht zu.

Des weiteren sei Art. 14 Abs. 1 GG verletzt. Bei der Ausgestal-
tung des Eigentums sei der Gesetzgeber an die Tradition des Berg-
rechts gebunden. Er dürfe danach nur die volkswirtschaftlich be-
sonders wichtigen Bodenschätze vom Verfügungsrecht des Grund-
eigentümers ausschließen. Die angegriffene Regelung sei grob sach-
widrig und verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

386 E 86, 382,1 Nr. 17

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

I.

Die angegriffene Regelung kann in Verbindung mit dem Eini-
gungsvertragsgesetz Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde
sein (vgl. BVerfGE 84, 90 [113]). Die Beschwerdeführer haben
auch hinreichend dargelegt, daß sie von der Regelung selbst, gegen-
wärtig und unmittelbar betroffen sind. Insbesondere bewirkt die
angegriffene Regelung allein — ohne Hinzutreten eines weiteren
hoheitlichen Aktes (vgl. BVerfGE 79, 174 [187f.]) —, daß sich das
Grundstückseigentum nicht auf den in einem Grundstück liegenden
Kies erstreckt. Ob der Sachvortrag, mit dem die Beschwerdeführer
hre Betroffenheit schlüssig dargelegt haben, tatsächlich zutrifft,
wäre eine Frage der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
(vgl. BVerfGE 84, 90 [117]).

II. i

Der Zulässigkeit steht jedoch der Grundsatz der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde entgegen. Die Beschwerdeführer können
zwar vor den Fachgerichten nicht unmittelbar gegen die angegriffe-
ne Regelung Rechtsschutz erlangen. Sie können aber die Fachge-
richte zur Sicherung und Durchsetzung der Rechte in Anspruch
nehmen, die sie aus der Verfassungswidrigkeit der Regelung herlei-
ten. Zur Herbeiführung einer Verklärung der tatsächlichen und ein-
fachrechtlichen Lage sind sie gehalten, zunächst — zumindest vor-
läufigen — Rechtsschutz vor den Fachgerichten zu suchen.

1. Der in 5 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende
Grundsatz der Subsidiarität gewährleistet unter anderem, daß dem
Bundesverfassungsgericht in der Regel nicht nur die abstrakte
Rechtsfrage und der Sachvortrag des Beschwerdeführers unterbrei-
tet werden, sondern auch die Beurteilung der Sach- und_ Rechtslage
durch ein für diese Materie zuständiges Gericht (vgl. BVerfGE 69,
122 [125]; 74, 69 [74f.]). Der Verklärung durch die Fachgerichte
kommt inbesondere dort Bedeutung zu, wo die Beurteilung der mit
der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen die Prüfung tatsäch-
licher oder einfachrechtlicher Fragen Voraussetzt, für die das Ver-
fahren vor den Fachgerichten besser geeignet ist. Der Subsidiari-
tätsgrundsatz stellt sicher, daß dem Bundesverfassungsgericht in
solchen Fällen infolge der fachgerichtlichen Vorprüfung der Be-
schwerdepunkte ein bereits eingehend geprüftes Tatsachenmaterial
vorliegt und ihm auch die Fallanschauung und die Rechtsauffassung
der Fachgerichte vermittelt werden.

Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der mit der Verfas-
sungsbeschwerde erhobenen Rügen bedarf es hier der Klärung
sowohl tatsächlicher als auch einfachrechtlicher Fragen. So müßte
zunächst das Eigentum der Beschwerdeführer an den betroffenen
Grundstücken festgestellt werden. Des weiteren müßte geklärt
werden, ob das Kiesvorkommen an den Grundstücken, die im
Eigentum der Beschwerdeführer stehen, unter die angegriffene ge-
setzliche Regelung fällt. Schließlich könnte für die verfassungs-
rechtliche Beurteilung auch von Bedeutung sein, wie die Kiesaus-
beutung in der Deutschen Demokratischen Republik praktisch ge-
handhabt wurde, insbesondere auch, ob und in welchem Umfang
die Eigentümer in der Lage waren, in ihren Grundstücken lagern-
den Kies zu verwerten.

Solange die Treuhandanstalt das ihr verliehene — jedenfalls dem
Rechtsschein nach bestehende — Bergwerkseigentum noch nicht auf
Dritte übertragen hat, können die Beschwerdeführer vor den Fach-
gerichten geltend machen, daß die Verleihung des Bergwerkseigen-
tums auf einer verfassungswidrigen Norm beruhe und daß die Treu-
handanstalt deshalb keine Rechte daraus herleiten könne. Sofern
eine Weiterübertragung auf Dritte erfolgt ist, können sich die Be-
schwerdeführer gegen einen Kiesabbau auf ihren Grundstücken im
Zivilrechtsweg zur Wehr setzen. Diese Verfahren ermöglichen eine
Klärung der tatsächlichen und einfachrechtlichen Fragen. Sie bieten
auch nicht von vornherein so wenig Aussicht auf Erfolg, daß sie den
Beschwerdeführern unzumutbar wären. Insbesondere kann nicht
von vornherein davon ausgegangen werden, daß die Fachgerichte
im Falle der Übertragung des Bergwerkseigentums auf private Drit-
te - bei Annahme der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen
Regelung - jedenfalls die Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs
des Bergwerkseigentums durch die Vertragspartner der Treuhand-
anstalt bejahen würden.

2. Die Voraussetzungen für eine Entscheidung vor Erschöpfung
des Rechtswegs nach der - im Rahmen des Subsidiaritätsgrundsat-
zes sinngemäß anwendbaren - Vorschrift des 590 Abs. 2 Satz 2
BVerfGG sind nicht erfüllt.

a) Es kann dahingestellt bleiben, ob der Verfassungsbeschwerde
allgemeine Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift zukommt. Selbst
wenn diese unterstellt wird, würde sie nicht für sich allein eine
Vorabentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht gebieten.

Sie wäre vielmehr nur ein Moment bei der Abwägung für und wider
eine sofortige Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts
(vgl. BVerfGE 71, 305 [349] m.w.N.).

Bei dieser Abwägung wäre insbesondere auch zu bedenken, daß
eine Vorabentscheidung in der Regel dann nicht in Betracht kommt,
wenn entscheidungserhebliche Tatsachen noch nicht aufgeklärt
sind (vgl. BVerfGE 8, 222 [227] ; 13, 284 [289]). Gegen eine Vor-
abentscheidung kann ferner sprechen, daß die einfachrechtliche
Lage nicht hinreichend geklärt ist (vgl. BVerfG, Beschluß vom
25. März 1992 — 1 BvR 1859/91 —, NJW 1992, S. 1676 [1677])1. Das
ergibt sich aus dem Sinn des Subsidiaritätsgrundsatzes. Dieser dient
auch einer sachgerechten Aufgabenverteilung zwischen dem Bun-
desverfassungsgericht und den Fachgerichten (vgl. BVerfGE 55,
244 [247]; 77, 381 [401] m.w.N.). Danach obliegt es vorrangig den
Fachgerichten, einfachrechtliche Vorschriften auszulegen und die
zur Anwendung der Vorschriften erforderlichen Ermittlungen so-
wie die Würdigung des Sachverhalts vorzunehmen. Das Interesse
an der fachgerichtlichen Verklärung wiegt hier so schwer, daß das
allgemeine Interesse an einer sofortigen Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts zurücktreten muß.

b) Eine Vorabentscheidung ist auch nicht wegen eines den Be-
schwerdeführern drohenden schweren und unabwendbaren Nach-
teils geboten.

Die Verweisung auf den Rechtsweg könnte sich insofern für die
1 Nr. 2 S. 15, 22f.

24. 6. 92 389

Beschwerdeführer nachteilig auswirken, als nicht auszuschließen
ist, daß während des fachgerichtlichen Verfahrens, das möglicher-
weise längere Zeit in Anspruch nimmt, das Kiesvorkommen auf
ihren Grundstücken ausgebeutet wird. Es ist nicht sicher abzuse-
hen, daß sie nach der einfachrechtlichen Lage dafür einen Ausgleich
erlangen könnten, wenn die angegriffene Regelung für verfassungs-
widrig erklärt würde. Ebenso ist nicht vorherzusehen, 0b und mit
welchem Inhalt der Gesetzgeber, falls die Regelung für verfassungs-
widrig erklärt wird, nachträglich einen Ausgleich schaffen würde.

Die Beschwerdeführer können jedoch im fachgerichtlichen Ver-
fahren gegen die Inanspruchnahme ihrer Grundstücke für den Kies-
abbau vorläufigen Rechtsschutz beantragen. An der Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes wären die Fachgerichte für den Fall,
daß sie die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erachten,
nicht dadurch gehindert, daß sie über die Frage der Verfassungswi-
drigkeit nicht selbst entscheiden könnten, sondern insoweit die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1
GG einholen müßten. Das dem Bundesverfassungsgericht vorbe-
haltene Verwerfungsmonopol hat zwar zur Folge, daß ein Gericht
Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrig-
keit eines formellen Gesetzes — jedenfalls im Hauptsacheverfah-
ren— erst nach deren Feststellung durch das Bundesverfassungsge-
richt ziehen darf (vgl. BVerfGE 79, 256 [266]). Die Fachgerichte
sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der
im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vor-
läufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umstän-
den des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten
erscheint und die Hautsacheentscheidung dadurch nicht vorwegge—
nommen wird. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes würde
den Eintritt von Nachteilen während der Durchführung des Haupt-
sacheverfahrens verhindern. Selbst wenn den Beschwerdeführern
vorläufiger Rechtsschutz versagt werden sollte, wäre dieses Verfah-
ren jedenfalls bereits zur Verklärung der offenen tatsächlichen und
einfachrechtlichen Fragen geeignet.

Auch insoweit überwiegt bei der zu treffenden Abwägung das

390 E 86, 390, II N11 13

Interesse an der fachgerichtlichen Verklärung das Interesse der
Beschwerdeführer an einer sofortigen Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts jedenfalls so lange, als die Beschwerdeführer
noch nicht einmal vorläufigen Rechtsschutz im fachgerichtlichen
Verfahren begehrt haben. Ob darüber hinaus, wenn das Begehren
auf vorläufigen Rechtsschutz erfolglos bleiben sollte, auch noch der
Rechtsweg in der Hauptsache erschöpft werden muß, hängt von
dem Ergebnis des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes und
der bis dahin im übrigen eingetretenen weiteren Entwicklung ab.

(gez.) Herzog Henschel Seidl
Grimm Söllner Dieterich
Kühling Seibert

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BSG, 1/3 RK 13/90 vom 28.06.1990, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: 1/3 RK 13/90

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Allgemeine Ortskrankenkasse München,

München 2, Maistraße 43 - 47,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 26.
Februar 1992 durch den Präsidenten Prof. Dr. R., die Richterin Dr. W. und
den Richter K. sowie die ehrenamtliche Richterin B. und den
ehrenamtlichen Richter B. für Recht erkannt:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28.
Juni 1990 wird zurückgewiesen.

- 2 -

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren
nicht zu erstatten.

- 3 -

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten über die Weitergewährung von Krankengeld für die Zeit vom
12. November 1985 bis 20. März 1986.

Der in Jugoslawien geborene Kläger war seit 1968 in der Bundesrepublik als Arbeiter
beschäftigt und bezog zuletzt als Arbeitsloser Leistungen vom Arbeitsamt. Mit dessen
Zustimmung begab er sich für die Zeit vom 20. August 1985 bis 17. September 1985 auf
Heimaturlaub. Dort wurde er am 11. September 1985 wegen zahlreicher Erkrankungen
zunächst drei Wochen arbeitsunfähig krank geschrieben. Der jugoslawische
Versicherungsträger teilte dies der Beklagten, bei der der Kläger aufgrund des
Leistungsbezuges krankenversichert war, auf dem hierfür vorgesehenen Formblatt mit.

Später gingen weitere Meldungen über Arbeitsunfähigkeitszeiten bei der Beklagten ein,
wobei noch zusätzliche Erkrankungen genannt wurden.

Nachdem der Vertrauensärztliche Dienst unter Berücksichtigung der beigezogenen
Unterlagen von einer Arbeitsunfähigkeit von zwei Monaten ausgegangen war, bewilligte
die Beklagte für die Zeit nach Beendigung der Leistungserbringung durch das Arbeitsamt
Krankengeld bis zum 11. November 1985. Gleichzeitig erbat sie bei einem eventuellen
Fortbestehen von Arbeitsunfähigkeit um die Übersendung neuer ärztlicher Befunde. Weil
nach Auffassung des Vertrauensärztlichen Dienstes aus den vom Kläger übersandten
neuen ärztlichen Unterlagen auf eine Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit nicht geschlossen
werden könne, lehnte die Beklagte die Gewährung von Krankengeld über den
11. November 1985 hinaus ab (Bescheid vom 18. Februar 1986).

Obwohl der jugoslawische Versicherungsträger inzwischen Arbeitsunfähigkeit bis
einschließlich 20. März 1986 bestätigt und gemeldet hatte, sah die Beklagte den
Widerspruch nicht als begründet an, da die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit nicht
nachgewiesen sei (Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 1986).

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) München abgewiesen,
nachdem es erfolglos versucht hatte, weitere Krankenunterlagen aus Jugoslawien zu
erhalten (Urteil vom 26. Oktober 1988). Die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG)
zurückgewiesen (Urteil vom 28. Juni 1990). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Dem
Kläger stehe Krankengeld für den streitigen Zeitraum nicht zu, weil das Bestehen von
Arbeitsunfähigkeit über den 11. November 1985 hinaus nicht nachgewiesen sei. Der
Versicherte sei bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit arbeitsuchend gemeldet und damit
weitgehend auf andere Tätigkeiten verweisbar gewesen. Es fehle jeder Nachweis
darüber, daß die behaupteten Krankheiten sich derart langfristig auf seine Arbeitsfähigkeit

- 4 -

ausgewirkt haben könnten und daß keine ihm zumutbare Arbeit möglich gewesen wäre.

Die Beklagte müsse entgegen der Ansicht des Klägers die Arbeitsunfähigkeitsmeldung
des jugoslawischen Versicherungsträgers nicht ungeprüft übernehmen. Eine solche
Rechtsfolge lasse sich aus dem deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommen
nicht entnehmen. Der Kläger könne auch keine Rechte aus den europäischen Verträgen
und den aus ihnen hervorgegangenen EG-Verordnungen Nr 1408/71 und 574/72 sowie
der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des
Bundessozialgerichts (BSG) herleiten. Diese Regelungen seien mit dem
deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommen nicht vergleichbar. Der
Grundsatz, daß die Beklagte als leistender Versicherungsträger entsprechend den
Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) über die Krankengeldgewährung zu
entscheiden habe, werde auch nicht durch das dem Kläger ausgehändigte Merkblatt, in
dem Art 4 des Zusatzabkommens zum deutsch-jugoslawischen
Sozialversicherungsabkommen wiedergegeben sei, aufgehoben. Hiermit habe sich die
Beklagte nicht verpflichtet, ihre Entscheidungskompetenz gesetzwidrig auf den jugoslawi-
schen Versicherungsträger zu verlagern. Zwar könne es für den Versicherten
unbefriedigend sein, wenn das Krankengeld wegen unterschiedlicher Auffassungen von
der Arbeitsunfähigkeit zwischen den jugoslawischen Ärzten bzw Krankenver-
sicherungsgemeinschaften einerseits und den deutschen Krankenkassen andererseits
verweigert werde, obwohl er alles getan habe, was ihm das Abkommen vorschreibe und
er wenig Einfluß auf die Aussagekraft der Bescheinigungen und die durchgeführten
Untersuchungen habe. Dies könne aber nicht dazu führen, die Beklagte zu verpflichten,
ungeprüft gesetzlich geforderte Voraussetzungen zu unterstellen, zumal sie selbst
keinerlei Einfluß auf die von ihr nicht zu vertretenden Mängel bei der Anwendung des
Abkommens habe.

Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 30
Abs 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -(SGB I), 182 Abs 1 Nr 2, Abs 3 und 183 RVO
sowie des Art 29 iVm Art 4 des deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommens.

Das LSG habe übersehen, daß, unabhängig davon, wie nach innerstaatlichem Recht das
Bestehen von Arbeitsunfähigkeit festgestellt werde, Ausnahmen durch das Recht der
europäischen Gemeinschaften oder durch zwischenstaatliche Abkommen bestimmt
werden könnten. Der Entscheidungskompetenz der Beklagten über die Arbeitsunfähigkeit
stünden Art 29 iVm Art 4 des Abkommens und die übrigen Vereinbarungen mit
Jugoslawien entgegen. Hiernach leisteten Träger, Verbände von Trägern, Behörden und
Gerichte der Vertragsstaaten einander bei der Durchführung der in Art 2 Abs 1
bezeichneten Rechtsvorschriften und des Abkommens gegenseitige Hilfe. Die Amtshilfe
erstrecke sich ausdrücklich auch auf ärztliche Kontrolluntersuchungen. Ferner bestimme
Art 3 der Durchführungsvereinbarung zum Abkommen, daß die Pflicht des Versicherten,
dem zuständigen Träger das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit mitzuteilen, nur gegenüber
dem Träger des Aufenthaltsortes bestehe. Entsprechend werde der Versicherte von

- 5 -

seiner Krankenkasse durch Merkblätter informiert. Das gesamte Regelwerk des
Abkommens mache deutlich, daß die Mitteilung über das Bestehen und die Überwachung
der Arbeitsunfähigkeit ausschließlich bei dem örtlich zuständigen jugoslawischen
Krankenversicherungsträger liege. Da das Abkommen keinen Vorbehalt gegen die
Feststellung der jugoslawischen Kontrollärzte enthalte, stehe den deutschen
Krankenkassen keine eigene Feststellungs- und Kontrollbefugnis hinsichtlich der
Arbeitsunfähigkeit zu. Für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und deren Kontrolle solle
nach dem Abkommen und den Zusatzvereinbarungen das Recht des Aufenthaltsstaates
maßgebend sein. Das sei der eindeutige Wille der vertragschließenden Staaten gewesen.
Falls bei dem deutschen Versicherungsträger berechtigte Zweifel an der Richtigkeit des
Ergebnisses von Kontrolluntersuchungen bestehen sollten, müsse er dieselben über den
zuständigen jugoslawischen Versicherungsträger ausräumen lassen und gegebenenfalls
auf seine Kosten eine stationäre Beobachtung in einem jugoslawischen Krankenhaus
beantragen. Er, der Kläger, habe alle seine Mitwirkungspflichten erfüllt und mit der
Übersendung der Mitteilung über das Bestehen oder Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit
durch den jugoslawischen Träger zugleich den ihm obliegenden Nachweis der Arbeits-
unfähigkeit geführt.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Juni 1990 und des
Sozialgerichts München vom 26. Oktober 1988 aufzuheben und die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 18. Februar 1986 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 1986 zu verurteilen, ihm Krankengeld über
den 11. November 1985 hinaus bis einschließlich 20. März 1986 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Krankengeld über den
11. November 1985 hinaus.

Nach § 182 Abs 1 Nr 2 RVO, der mit Wirkung ab 1. Januar 1989 durch Art 5 Nr 2 des
Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I, S 2477)
aufgehoben wurde, hier jedoch noch anwendbar ist, wird Krankengeld gewährt, wenn die
Krankheit den Versicherten arbeitsunfähig macht. Das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit
muß gemäß § 182 Abs 3 RVO von einem Arzt festgestellt werden, wobei es unerheblich
ist, aus welchem Anlaß und zu welchem Zweck diese Feststellung getroffen wird
(BSGE 41, 201, 203 = SozR 2200 § 182 Nr 12). Die Feststellung kann auch durch einen

- 6 -

ausländischen Arzt erfolgen. Dem während eines Urlaubsaufenthaltes im Ausland
erkrankten Versicherten steht - sofern ein Sozialversicherungsabkommen
entsprechendes regelt - deshalb auch Krankengeld für die Zeit des Auslandsaufenthaltes
zu, in der er nachweislich arbeitsunfähig ist. Bestand kein Sozialversicherungsabkommen
mit dem Aufenthaltsstaat, war Krankengeld in der Zeit der Geltung des § 182 RVO
trotzdem bei Eintritt von Arbeitsunfähigkeit zu gewähren (BSGE 31, 100, 101 f = SozR
Nr 39 zu § 182 RVO). Ab 1. Januar 1989 gilt demgegenüber § 16 Abs 1 Nr 1
Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V). Hiernach ruht der
Anspruch auf Leistungen, solange sich der Versicherte außerhalb des Geltungsbereiches
dieses Gesetzes aufhält, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist. Solche Ausnahmen
sind Regelungen im zwischen- bzw überstaatlichen Recht, insbesondere also in
Sozialversicherungsabkommen. Ansonsten kann Krankengeld während eines
Auslandsaufenthaltes nicht mehr gewährt werden (BT-Drucks 11/2237, S 165).

Entgegen der Ansicht des Klägers ist die Beklagte an die Feststellung der
Arbeitsunfähigkeit durch einen jugoslawischen Arzt oder an die Meldung des
jugoslawischen Versicherungsträgers nicht gebunden. Eine solche Bindung läßt sich
insbesondere nicht aus dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit vom
12. Oktober 1968 (BGBl II 1969, S 1438) idF des Änderungsabkommens vom
30. September 1974 (BGBl II 1975, S 390) - zukünftig Abkommen genannt - und der
Durchführungsvereinbarung zum Abkommen entnehmen.
Art 4 Abs 1 Satz 1 des Abkommens sieht vor, daß, soweit das Abkommen nichts anderes
bestimmt, die Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates, nach denen die Entstehung von
Ansprüchen auf Leistungen oder Gewährung von Leistungen oder die Zahlung von
Geldleistungen vom Inlandsaufenthalt abhängig ist, nicht für die Staatsangehörigen
gelten, die sich im Gebiet des anderen Vertragsstaates aufhalten. Diese Regelung enthält
den Grundsatz der uneingeschränkten Leistungsgewährung in dem anderen Vertrags-
staat (Denkschrift der Bundesregierung zum Abkommen, BT-Drucks V/4124).

Krankengeld ist nach dem Abkommen also grundsätzlich auch dann zu zahlen, wenn die
Arbeitsunfähigkeit in Jugoslawien eintritt. Weitere Regelungen, insbesondere hinsichtlich
der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, beinhaltet Art 4 Abs 1 Satz 1 des Abkommens
nicht. Sozialversicherungsabkommen enthalten - anders als bei den Sachleistungen, die
im allgemeinen nach dem Recht des Aufenthaltsstaates gewährt werden (vgl Art 15 Abs 2
des Abkommens und Plöger/Wortmann, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit
ausländischen Staaten, Bd I, Allgemeiner Teil, S 296; Baumeister in Gesamtkommentar
zur Sozialversicherung, Bd X, Stichwort Jugoslawien, Art 15 Anm 2; Neumann-Duesberg,
DOK 1985, S 302, 309) - regelmäßig keinen Eingriff in das innerstaatliche Recht
hinsichtlich der Voraussetzungen für den Anspruch auf Krankengeld (Begriff der
Arbeitsunfähigkeit) und bezüglich der Höhe der Geldleistungen. Es bleiben vielmehr die

- 7 -

für den zuständigen Träger nach innerstaatlichem Recht geltenden Vorschriften
maßgebend (Plöger/Wortmann, aaO, Bd I, Allgemeiner Teil, S 395). Diese allgemeine
Regelung gilt auch für das deutsch-jugoslawische Sozialversicherungsabkommen (vgl
dazu Art 16 des Abkommens). Hiernach werden auf Ersuchen der deutschen
Krankenkassen Geldleistungen vom jugoslawischen Sozialversicherungsträger
ausgezahlt, woraus sich gleichzeitig ergibt, daß die Prüfung der
Anspruchsvoraussetzungen und der Höhe und Dauer der auszuzahlenden Geldleistungen
Aufgabe der deutschen Krankenkassen bleibt (Baumeister, aaO, Bd X, Stichwort Jugosla-
wien, Art 16 Anm 1). Aus Art 4 Abs 1 Satz 1 des Abkommens läßt sich also eine Bindung
des deutschen Versicherungsträgers an die Feststellung der jugoslawischen Ärzte oder
Krankenversicherungsgemeinschaften nicht entnehmen.

Gleiches gilt für Art 15 Abs 2 des Abkommens, denn er enthält lediglich die Regelung,
daß die Sachleistungen - von gewissen Ausnahmen abgesehen - nach den für den Träger
des Aufenthaltsortes maßgebenden Rechtsvorschriften gewährt werden. Für Geldlei-
stungen gilt diese Vorschrift damit nicht.

Gemäß Art 29 Abs 1 Satz 1 des Abkommens leisten die Träger, Verbände von Trägern,
Behörden und Gerichte der Vertragsstaaten einander bei Durchführung der vom
Abkommen umfaßten Rechtsvorschriften und dieses Abkommens gegenseitige Hilfe, als
wendeten sie die für sie geltenden Rechtsvorschriften an. Art 29 Abs 1 Satz 1 gilt, wie
Abs 2 dieser Vorschrift regelt, auch für ärztliche Untersuchungen. Nach der Denkschrift
der Bundesregierung enthalten die Art 29 bis 38 des Abkommens die auch sonst üblichen
Regelungen für das Zusammenwirken der in den beiden Staaten mit der Durchführung
des Abkommens betrauten Stellen. In Art 29 sind also Vorschriften über die Rechts- und
Amtshilfe enthalten. Die deutschen Krankenkassen können sich daher jugoslawischer
Ärzte für Untersuchungen und zu Kontrollzwecken bedienen, indem sie sich im Wege der
Amtshilfe an die zuständige Krankenversicherungsgemeinschaft wenden. Die
Formulierung "als wendeten sie die für sie geltenden Rechtsvorschriften an" umschreibt
lediglich Art und Umfang der Amts- und Rechtshilfe. Deutsche Sozialversicherungsträger
haben bei der Erbringung der Amtshilfe daher die Regelungen der §§ 3 ff
Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X), aber auch § 35 SGB I iVm §§ 67 ff
SGB X über die Offenbarung von Daten, die unter das Sozialgeheimnis fallen, zu
beachten (Baumeister, aaO, Bd X, Stichwort Jugoslawien, Art 29 Anm 1; Koch/Hartmann,
Die Rentenversicherung im Sozialgesetzbuch unter besonderer Berücksichtigung der
Angestelltenversicherung - zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht -Bd I, Allgemei-
ner Teil, Anm 9.3.). Ärztliche Untersuchungen müssen unter Berücksichtigung der §§ 62,
65 SGB I durchgeführt werden. Umgekehrt haben die jugoslawischen
Versicherungsträger bei Untersuchungen in ihrem Staat die für sie geltenden Verfah-
rensvorschriften anzuwenden.

- 8 -

Eine weitere - über den dargestellten Inhalt hinausgehende - Regelung, insbesondere
über die Begründung materiell-rechtlicher Leistungsansprüche oder die Bindung
deutscher Sozialversicherungsträger an die im Rahmen der Amtshilfe getroffenen
Feststellungen, kann aus Art 29 des Abkommens nicht entnommen werden. Der Wortlaut,
dem bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge im allgemeinen eine größere
Bedeutung beizumessen ist als bei der Auslegung innerstaatlicher Gesetze (BSGE 36,
125, 126 = SozR Nr 16 zu § 1303 RVO; BSGE 39, 284, 287 = SozR 2200 § 1303 Nr 3;
BSGE 55, 131, 134 = SozR 6555 Art 26 Nr 1; Gobbers, Gestaltungsgrundsätze des
zwischenstaatlichen und überstaatlichen Sozialversicherungsrechts, 1980, S 10 mwN),
läßt die vom Kläger behauptete Bindung an die in Jugoslawien getroffenen Feststellungen
nicht erkennen. Er ist nicht unklar, mißverständlich oder gar mehrdeutig; die
wortlautmäßige Auslegung führt auch nicht zu unvernünftigen, mit dem Ziel und Zweck
der Bestimmung und des Vertrages unvereinbaren Ergebnissen, so daß eine andere
Auslegung erforderlich wäre. Auch läßt der in der Denkschrift zum Abkommen
manifestierte Wille der Vertragspartner keine andere Auslegung zu.

Nach Art 3 der Durchführungsvereinbarung zum Abkommen, auf den sich der Kläger
weiter beruft, besteht die Pflicht des Versicherten, dem zuständigen Träger das Vorliegen
der Arbeitsunfähigkeit mitzuteilen, bei Anwendung des Art 4 Abs 1 des Abkommens nur
gegenüber dem Träger des Aufenthaltsortes. Tritt bei einem bei einer deutschen
Krankenkasse Versicherten in Jugoslawien Arbeitsunfähigkeit ein, so enthebt ihn diese
Bestimmung lediglich der Verpflichtung, das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit dieser
Krankenkasse bzw beim Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses gemäß § 3 Abs 2
Lohnfortzahlungsgesetz (LFZG) dem Arbeitgeber und der Krankenkasse zu melden, um
ein Ruhen des Krankengeldanspruches nach § 216 Abs 3 RVO (ab 1. Januar 1989 § 49
Abs 1 Nr 5 SGB V) oder des Lohnfortzahlungsanspruches nach § 5 Nr 1 LFZG zu
verhindern. Es genügt, wenn er die jugoslawische Krankenversicherungsgemeinschaft
vom Bestehen der Arbeitsunfähigkeit unterrichtet; diese leitet die Mitteilung mittels des
vorgesehenen Vordruckes Ju 4 an die deutsche Krankenkasse weiter, die wiederum
gegebenenfalls den Arbeitgeber informiert. Hierüber werden die Versicherten in dem
Merkblatt Ju 93 unterrichtet. Weitere Regelungen sind in Art 3 der
Durchführungsvereinbarung nicht enthalten, insbesondere läßt sich aus dieser Regelung
keine Bindung an die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch jugoslawische Ärzte oder
jugoslawische Versicherungsträger entnehmen (vgl auch BSG SozR 2200 § 369 b Nr 1
und BSG USK 83 160 zum deutsch-spanischen Sozialversicherungsabkommen).

Schließlich sind die Entscheidung des 8. Senats des BSG vom 10. September 1987 (BSG
SozR 6055 Art 18 Nr 2) und das ihr zugrundeliegende Urteil des EuGH vom 12. März
1987 (SozR 6055 Art 18 Nr 1) nicht einschlägig. Die dort angenommene Bindung der
deutschen Krankenkassen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des
Wohnortes getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der

- 9 -

Arbeitsunfähfigkeit betrifft nur Staaten der Europäischen Gemeinschaft, zu denen
Jugoslawien nicht gehört. Art 18 der EWG-VO Nr 574/72 hat zudem einen völlig anderen
Wortlaut als die Vorschriften im hier anwendbaren Abkommen und enthält auch inhaltlich
ganz unterschiedliche Regelungen.

Wird somit der Grundsatz, daß krankenversicherungsrechtliche Geldleistungen vom
deutschen Versicherungsträger nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zu
gewähren sind, durch das Abkommen nicht berührt, sind das Vorliegen von
Arbeitsunfähigkeit und der Anspruch auf Krankengeld nach § 182 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 3
RVO zu prüfen. Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit ist ein Rechtsbegriff, dessen
Voraussetzungen die Krankenkasse anhand ärztlich erhobener Befunde festzustellen hat.

Das Attest mit der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit hat lediglich die
Bedeutung einer ärztlichen Stellungnahme, die die Grundlage für den über den
Krankengeldbezug zu erteilenden Verwaltungsakt der Krankenkasse bildet (vgl BSGE 54,
62, 65 = SozR 2200 § 182 Nr 84; BSG SozR 2200 § 216 Nr 8; Höfler in Kasseler
Kommentar zur Sozialversicherung, § 46 RdNr 7; Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale
Krankenversicherung, § 182 Anm, 4.1; Krauskopf, Soziale
Krankenversicherung - SGB V -, § 44 RdNr 15; Peters, Handbuch der
Krankenversicherung, § 182 Anm 13b). Aus den Bestimmungen der §§ 182 Abs 3 und
369b RVO (nun § 46 Satz 1 Nr 2 und § 275 SGB V) folgt, daß die Krankenkasse die
ärztliche Feststellung über das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit nur überprüft (BSG SozR
2200 § 216 Nr 8), während sie die sonstigen Leistungsvoraussetzungen (zB
Mitgliedschaft mit Krankengeldanspruch, Erschöpfung des Leistungsanspruches
innerhalb der Blockfrist) selbständig ermittelt und dann über die Krankengeldgewährung
entscheidet. Den Bescheinigungen ausländischer Ärzte kommt dabei nicht von vornherein
ein geringerer Beweiswert zu als denen deutscher Ärzte (BSGE 31, 100, 102 = SozR
Nr 39 zu § 182 RVO; BAGE 48, 115, 119; BAG EzA § 3 LFZG Nr 11; LSG
Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1984, 361, 362). Da der Begriff der Arbeitsunfähigkeit den
deutschen Ärzten vertraut ist (vgl jetzt die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien vom
3. September 1991, BKK 1991, S 707 = WzS 1991, S 326), genügt es in der Praxis
regelmäßig,
wenn sie Arbeitsunfähigkeit bescheinigen (BSGE 41, 201, 203 = SozR 2200 § 182 Nr 12).
Kenntnisse über den Begriff der Arbeitsunfähigkeit iS der deutschen Krankenversicherung
und die versicherungsrechtliche Bedeutung dieser Feststellung sind ausländischen Ärzten
dagegen normalerweise fremd (BSGE 31, 100, 102 = SozR Nr 39 zu § 182 RVO). Zur
Kontrolle kann die Krankenkasse daher bei Zweifeln über das Vorliegen von
Arbeitsunfähigkeit, insbesondere wenn die aus dem Ausland mitgeteilten Diagnosen und
Befunde nicht jede Erwerbstätigkeit ausschließen und - wie hier - für arbeitslose Arbeiter
eine weite Verweisbarkeit in Betracht kommt (BSG SozR 4100 § 105b Nr 4), oder wenn
die genannten Diagnosen Zweifel an der Dauer der Arbeitsunfähigkeit weken, den
Medizinischen Dienst heranziehen. Eine Überprüfung durch den Vertrauensärztlichen bzw

- 10 -

Medizinischen Dienst ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil ein ausländischer Arzt
die Arbeitsunfähigkeit festgestellt hat. § 369b RVO enthält, ebenso wie § 275 SGB V,
keine Einschränkung dahingehend, daß nur die Feststellungen inländischer Ärzte
überprüft werden könnten. Einen Ermessensfehler bei der Entscheidung über die
Erforderlichkeit der Untersuchung (BSG SozR 2200 § 369b Nr 1) hat das
Berufungsgericht nicht festgestellt.

Schließlich hat das LSG nicht den Grundsatz der objektiven Beweislast verletzt. Er regelt,
wen die Folgen treffen, wenn das Gericht bestimmte Tatsachen nicht feststellen kann. Es
gilt der Grundsatz, daß die Folgen der objektiven Beweislosigkeit oder des
Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von dem Beteiligten zu tragen ist, der aus dieser
Tatsache ein Recht herleiten will (BSGE 30, 121, 123 = SozR Nr 83 zu § 128 SGG;
Meyer-Ladewig, Komm zum SGG, 4. Aufl, 1991, § 103 RdNr 19 mwN). Die Regeln über
die objektive Beweislast können nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erst
angewendet werden, wenn alle verfügbaren Erkenntnisquellen ausgeschöpft sind (BSG
SozR 2200 § 317 Nr 2; BSG SozR 1500 § 128 Nr 18). Sie entheben den Tatrichter nicht
seiner insbesondere durch § 103 und § 128 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
begründeten Pflicht zur eingehenden Erforschung des Sachverhalts und zur sorgfältigen
Würdigung der erhobenen Beweise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände
des Einzelfalles. Die Frage der Beweislastverteilung stellt sich erst dann, wenn es nach
Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhaltes nicht gelungen ist,
die bestehende Ungewißheit über eine ungeklärte Tatsache zu beseitigen (BSGE 30, 121,
123 = SozR Nr 83 zu § 128 SGG; BSG SozR 1500 § 128 Nr 18). Trotz seines engen
Zusammenhangs mit dem Verfahrensrecht gehört der Grundsatz der objektiven
Beweislast zum materiellen Recht (BSG SozR 1500 § 161 Nr 26; Meyer-Ladewig, aaO,
§ 103 RdNr 19; BVerwGE 45, 131, 132; BGH NJW 1983, 2032, 2033; NJW 1985, 1774,
1775; Kopp, Komm zum VWGO, 8. Aufl 1989, § 108 RdNr 12; aA Peters/Sauters/Wolff,
Komm zum SGG, § 103 Anm 4 S II/74 - 14 -; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 9. Aufl 1987,
S 274). Seine richtige Anwendung ist deshalb vom Senat auch grundsätzlich ohne
entsprechende Rüge durch den Kläger zu prüfen.

Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, daß die medizinischen Grundlagen für die
Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit über den 11. November 1985 hinaus nicht mehr
aufklärbar sind. Hierbei handelt es sich um eine Tatsachenfeststellung, an die das Revi-
sionsgericht nach § 163 SGG gebunden ist, wenn die Beteiligten - wie im vorliegenden
Falle - dagegen keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben haben. Daß
die Vorinstanz nach Auffassung des erkennenden Senats nicht alle Möglichkeiten der
Aufklärung genutzt hat, läßt die Bindung nicht entfallen. Das Revisionsgericht wäre nur
dann nicht nach § 163 SGG gebunden, wenn die tatrichterliche Feststellung der nicht
weiteren Aufklärbarkeit mit anderen Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil im
Widerspruch stünde (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nr 139). Das ist hier aber nicht der

- 11 -

Fall. Deshalb ist es nicht zu beanstanden, daß das LSG den Grundsatz der objektiven
Beweislast angewendet hat und davon ausgegangen ist, daß der Kläger die Folgen der
Nichtfeststellbarkeit der von ihm behaupteten Arbeitsunfähigkeit zu tragen hat.

Nach alledem war die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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BSG, 13 BJ 271/96 vom 13.05.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Az: 13 BJ 271/96

Kläger und Beschwerdeführer,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Bahnversicherungsanstalt, Bezirksleitung Rosenheim,
Klepperstraße 1a, 83026 Rosenheim,

Beklagte und Beschwerdegegnerin,

beigeladen:

Freistaat Bayern,

vertreten durch die Bezirksfinanzdirektion Regensburg,
Bahnhofstraße 7, 93047 Regensburg.

Der 13. Senat des Bundessozialgerichts hat am 13. Mai 1997 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. G. sowie die Richter Dr. L.
und M.

beschlossen:

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayeri-
schen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1996 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für das Beschwerdeverfahren
nicht zu erstatten.

Gründe:

- 2 -

Im Ausgangsverfahren ist die Rückgängigmachung einer Beitragserstattung, hilfsweise
die Nachentrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen, ggf im Wege einer Nachversi-
cherung, streitig.

Der am 20. März 1940 geborene Kläger war bei der Deutschen Bundesbahn zunächst
vom 1. September 1954 bis 20. November 1957 als versicherungspflichtiger Jungwerker
und anschließend bis zum 31. Juli 1961 als versicherungsfreier Betriebsaufseher-Anwär-
ter tätig. Auf seinen Antrag wurden ihm mit Bescheid der Beklagten vom 22. Dezember
1959 die in der Zeit vom 1. September 1954 bis 20. November 1957 entrichteten Arbeit-
nehmeranteile der Beiträge zur Rentenversicherung erstattet. Zum 1. August 1961 wech-
selte der Kläger in eine versicherungsfreie Tätigkeit bei der Finanzverwaltung über, wo er
1991 als Steuerhauptsekretär in den Ruhestand versetzt wurde. Da seine Zeit bei der
Deutschen Bundesbahn nicht als ruhegehaltsfähige Dienstzeit angerechnet wurde, er-
folgte für die Zeit vom 1. Dezember 1957 bis 31. Juli 1961 eine Nachversicherung. Mit
Bescheid vom 23. November 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1993
lehnte die Beklagte sowohl eine Rückgängigmachung der 1959 erfolgten Beitragserstat-
tung als auch eine Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit von Septem-
ber 1954 bis November 1957 ab. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteile des
Sozialgerichts Regensburg vom 11. Oktober 1994 und des Bayerischen Landes-
sozialgerichts vom 21. Mai 1996).

Das LSG hat seine Entscheidung im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:

Eine Verpflichtung der Beklagten zur Rückgängigmachung der Beitragserstattung vom
22. Dezember 1959 bestehe nicht. Der Erstattungsbescheid sei wirksam und bestands-
kräftig geworden. Zwar habe der Kläger als nach damaligem Recht Minderjähriger einen
Antrag auf Beitragserstattung nicht wirksam stellen können, auch habe das Fehlen eines
wirksamen Antrages auf Beitragserstattung die Nichtigkeit des Erstattungsbescheides zur
Folge, hier sei jedoch § 108 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) entsprechend anzu-
wenden. Das bedeute, daß ein Zustand schwebender Unwirksamkeit bestanden habe.

Nach Eintritt der Volljährigkeit des Klägers, nach damaligem Recht am 20. März 1961, sei
seine Genehmigung an die Stelle der fehlenden Genehmigung seines gesetzlichen Ver-
treters getreten (vgl § 108 Abs 3 BGB). Eine solche Genehmigung könne auch konkludent
anzunehmen sein, wenn der volljährig Gewordene den Vertrag fortsetze bzw - wie hier -
die Beitragserstattung nicht beanstande. Dies habe von seiten der Beklagten als Geneh-
migung aufgefaßt werden müssen. Der Beitragserstattungsbescheid vom 22. Dezember
1959 sei also spätestens mit Volljährigkeit des Klägers im März 1961 wirksam geworden.

Der Bescheid sei auch nicht rechtswidrig gewesen. Mit der Aufnahme des Klägers in die
Bundesbahn-Anwärterliste ab 1. Dezember 1957 sei die Versicherungspflicht zur gesetz-
lichen Rentenversicherung entfallen, ohne daß der Kläger ein Recht zur freiwilligen Wei-

- 3 -

terversicherung gehabt habe. Im übrigen ließe sich die seinerzeitige Beitragserstattung
auch dann nicht rückgängig machen, wenn deren gesetzliche Voraussetzungen nicht vor-
gelegen hätten.

Konzediere man trotz der hoheitlichen Abwicklung einer Beitragserstattung eine gewisse
Ähnlichkeit mit öffentlich-rechtlichen Verträgen, so habe hier ein Irrtum über die Ge-
schäftsgrundlage in Gestalt der außerhalb der Beitragserstattung liegenden rechtlichen
Gegebenheiten seitens der Beteiligten nicht vorgelegen. Vielmehr habe der Kläger damit
rechnen können, bei Fortführung seines Anwärterverhältnisses Versorgung von der Deut-
schen Bundesbahn unter Einbeziehung auch der Zeit seit dem 1. Dezember 1957 zu er-
halten. Die Erwartung des Fortbestehens dieser Perspektive könne aber nicht als Ge-
schäftsgrundlage einer Beitragserstattung angesehen werden, deren Fortfall einen An-
spruch auf Rückgängigmachung begründe.

Es finde sich auch keine Rechtsgrundlage für eine Nachversicherung. § 8 des Sechsten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) sei weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar,
da der Kläger von September 1954 bis November 1957 versicherungspflichtig beschäftigt
gewesen sei.

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG macht
der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Dazu trägt er ua vor:

Zwar werde vom LSG anerkannt, daß er als damaliger Minderjähriger keinen wirksamen
Antrag auf Beitragserstattung habe stellen können, jedoch werde in rechtsfehlerhafter
Weise § 108 BGB entsprechend angewendet. Er habe nachträglich als Volljähriger die
Tragweite seines Beitragserstattungsantrages nicht erkennen und damit diesen auch
nicht konkludent iS von § 108 Abs 3 BGB genehmigen können, da er damals die Konse-
quenzen nicht habe übersehen können. Die Annahme einer Genehmigung der Beitrags-
rückerstattung nach § 108 Abs 3 BGB würde den Minderjährigenschutz ins Gegenteil ver-
kehren. Wegen der besonderen grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache schon in
diesem Punkt sei die Revision zuzulassen.

Ferner liege die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache auch darin, wie seine
"Zwitterstellung" im damaligen Beschäftigungszeitraum vom 1. Dezember 1957 bis
31. Juli 1961 rechtlich zu bewerten sei. Eine einwandfreie Versicherungsfreiheit ab
1. Dezember 1957 sei nicht ohne weiteres gegeben, zumal er zum Ablauf des 31. Juli
1961 ohne Anwartschaft auf Versorgung aus dieser Beschäftigung ausgeschieden sein.

Im übrigen sei die vom LSG zitierte Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom
9. Dezember 1981 für diesen konkreten Sonderfall nicht einschlägig. Die klärungsbedürf-
tige Rechtsfrage sei auch nicht in dem weiter angeführten Urteil des BSG vom 11. Juli
1972 entschieden worden. Diese beziehe sich nicht auf den hier streitbefangenen Fall,
dessen Brisanz und Entscheidungswichtigkeit sich erst im Rahmen seiner Versetzung in

- 4 -

den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit zum 1. Oktober 1991 herauskristallisiert und ma-
nifestiert habe. Zwar sei nun die Zeit vom 1. Dezember 1957 bis 31. Juli 1961 nachversi-
chert worden, nicht jedoch der davorliegende Zeitraum vom 1. September 1954 bis zum
30. November 1957. Daraus ergebe sich die besondere Rechtsproblematik für ihn und
damit die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

Aufgrund dieser Konstellation sei seiner Auffassung nach § 8 Abs 2 SGB VI analog anzu-
wenden. Grundlage für den damaligen Antrag auf Beitragsrückerstattung sei zunächst die
falsche Beratung durch die damaligen Dienstvorgesetzten, ferner seine Unmündigkeit und
die Ungeklärtheit seiner Stellung für den Zeitraum vom 1. Dezember 1957 bis 31. Juli
1961 gewesen. Aufgrund dieser ungeklärten Situation hätte eine Beitragsrückerstattung
auch nicht vorgenommen werden dürfen. Zumindest habe ein Irrtum über die Geschäfts-
grundlage der Beitragsrückerstattung zum damaligen Zeitpunkt vorgelegen, der nicht zu
seinen Lasten gehen dürfe.

Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den sich aus
§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ergebenden

Anforderungen.

Die Revision kann nur aus den in § 160 Abs 2 SGG genannten Gründen - grundsätzliche
Bedeutung, Abweichung, Verfahrensmangel - zugelassen werden. In der Beschwerdebe-
gründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt und die Ent-
scheidung, von der das Urteil des LSG abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet
werden (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Daran fehlt es hier.

Um die vom Kläger allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache
(vgl § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) darzulegen, ist es zunächst erforderlich, die nach Ansicht des
Beschwerdeführers grundsätzliche Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, daß
sie allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitze (vgl BSG SozR
1500 § 160a Nrn 11, 39). Ferner ist darzutun, daß die Rechtsfrage klärungsbedürftig sei.

Das ist zum einen nicht der Fall, wenn die Antwort von vornherein praktisch außer Zweifel
steht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nrn 4, 11). Zum anderen ist auch eine Rechtsfrage, die
das BSG bereits entschieden hat, nicht mehr klärungsbedürftig und kann somit keine
grundsätzliche Bedeutung mehr haben, es sei denn, die Beantwortung der Frage ist aus
besonderen Gründen klärungsbedürftig geblieben oder erneut geworden; das muß sub-
stantiiert vorgetragen werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nrn 13, 65). Schließlich ist
darzulegen, daß die Rechtsfrage in dem einer Zulassung folgenden Revisionsverfahren
entscheidungserheblich und damit auch klärungsfähig sei (vgl BSG SozR 1500 § 160a
Nr 54).

- 5 -

Diesen Begründungserfordernissen hat der Kläger nicht in vollem Umfang Genüge getan.

Es ist bereits zweifelhaft, ob er eine von ihm als grundsätzlich erachtete Rechtsfrage
deutlich genug gestellt hat, jedenfalls fehlt es an hinreichenden Ausführungen zur Klä-
rungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der von ihm angesprochenen Punkte.

Soweit es die Anwendung des § 108 Abs 3 BGB betrifft, hat es der Kläger zur Darlegung
eines höchstrichterlichen Klärungsbedarfes gänzlich unterlassen, sich mit der dazu ergan-
genen Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes auseinanderzusetzen. Als
höchstrichterlich geklärt muß nämlich eine Rechtsfrage auch dann angesehen werden,
wenn sie zwar vom BSG noch nicht ausdrücklich entschieden worden ist, zur Auslegung
der anzuwendenden Vorschrift aber schon höchstrichterliche Entscheidungen ergangen
sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung dieser Frage geben (vgl BSG SozR
3-1500 § 160 Nr 8; ebenso Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, Rz 117
mwN). Dementsprechend hätte der Kläger in seiner Beschwerdebegründung auf die
Rechtsprechung aller obersten Bundesgerichte zu § 108 Abs 3 BGB eingehen müssen.

Dabei hätte sich folgende Rechtslage ergeben: Zunächst hat das BSG die § 106 ff BGB
bereits im Zusammenhang mit dem Antrag eines nicht voll geschäftsfähigen Versicherten
auf Beitragserstattung nach § 1303 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entspre-
chend angewandt (vgl BSG SozR Nr 3 zu § 1613 RVO). Ferner ist eine Genehmigung
nach § 108 Abs 3 BGB - wie insbesondere der Bundesgerichtshof (BGH) bereits ent-
schieden hat - zwar auch durch schlüssiges Verhalten möglich, sie setzt dann jedoch vor-
aus, daß sich der volljährig Gewordene der schwebenden Unwirksamkeit des Rechtsge-
schäfts bewußt gewesen ist oder mindestens mit ihr gerechnet hat (vgl BGHZ 53, 174,
178; BGH LN Nr 4 zu § 108 BGB; ebenso Bundesarbeitsgericht, NJW 1964, 1641, 1643).

Unter diesen Umständen hätte der Kläger möglicherweise eine Abweichung des LSG von
der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung geltend machen können (vgl § 160
Abs 2 Nr 2 SGG), eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache lag hingegen fern.

Soweit der Kläger die Frage seiner Versicherungsfreiheit als Anwärter bei der Deutschen
Bundesbahn für grundsätzlich bedeutsam hält, kann dahingestellt bleiben, ob er ihre Klä-
rungsbedürftigkeit hinreichend dargetan hat, jedenfalls wäre diese Frage nur entschei-
dungserheblich und damit klärungsfähig, wenn der Beitragserstattungsbescheid bei Ver-
neinung einer Versicherungsfreiheit des Klägers in der Zeit ab Dezember 1957 und damit
bei Fehlen der Voraussetzungen des § 1303 RVO, von der Beklagten zurückgenommen
werden müßte. Da das LSG eine Rückgängigmachung der Beitragserstattung auch für
diesen Fall unter Bezugnahme auf Entscheidungen des BSG abgelehnt hat, hätte der
Kläger für diese tragende Begründung ebenfalls einen Zulassungsgrund iS von § 160
Abs 2 SGG ordnungsgemäß geltend machen müssen. Auch insoweit läßt die Beschwer-
debegründung jedoch die gebotene Auseinandersetzung mit der einschlägigen Recht-
sprechung des BSG vermissen. Die bloße Behauptung, die Entscheidungen des BSG

- 6 -

vom 11. Juli 1972 (BSG SozR Nr 16 zu § 1232 RVO) und 9. Dezember 1981 (BSG SozR
2200 § 1303 Nr 23) seien im konkreten Fall nicht einschlägig, reicht insoweit nicht aus,
um einen weiterhin bestehenden Klärungsbedarf zu begründen, zumal das BSG-Urteil
vom 9. Dezember 1981 durch spätere Entscheidungen bestätigt worden ist (vgl BSG
SozR 2200 § 1744 Nr 17; SozR 2200 § 1303 Nr 26; SozR 1300 § 45 Nr 7). Auch hinsicht-
lich der anderen in diesem Zusammenhang vom Kläger hervorgehobenen
Gesichtspunkte wird nicht deutlich, warum sie einer Heranziehung
dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung entgegenstehen sollen.

Schließlich stellen auch die Ausführungen des Klägers zur analogen Anwendung des § 8
Abs 2 SGB VI und zum "Irrtum über die Geschäftsgrundlage" keine hinreichende Be-
schwerdebegründung dar; sie entbehren insbesondere einer näheren Darlegung der Klä-
rungsbedürftigkeit damit zusammenhängender Rechtsfragen.

Da somit Zulassungsgründe nicht hinreichend dargelegt worden sind, ist die Beschwerde
als unzulässig zu verwerfen. Dem Kläger bleibt die Möglichkeit, das von ihm bean-
spruchte Recht auf Rückabwicklung der im Jahre 1959 erfolgten Beitragserstattung in ei-
nem Verfahren nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) erneut geltend
zu machen.

Die Verwerfung der Beschwerde des Klägers kann in entsprechender Anwendung des
§ 169 Satz 3 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter erfolgen (vgl BSG SozR
1500 § 160a Nrn 1, 5; BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 30).

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

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BSG, 13 BJ 207/92 vom 21.01.1993, Bundessozialgericht
BSG SozR 3-1500 § 160 Nr. 8

BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Az.: 13 BJ 207/92

Klägerin und Beschwerdegegnerin,

Prozeßbevollmächtigte

gegen

Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken,
Bayreuth 2, Wittelsbacherring 11,

Beklagte und Beschwerdeführerin.

Der 13. Senat des Bundessozialgerichts hat am 21. Januar 1993 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. G. und die Richter Dr. W.
und Dr. L. sowie den ehrenamtlichen Richter
Freiherr von B. und die ehrenamtliche Richterin
G.

beschlossen:

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil
des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2. Juni 1992 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Beschwerde-
verfahren zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

lm Ausgangsverfahren ist die Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs auf
die wiederaufgelebte Witwenrente der Klägerin streitig.

Die 1940 geborene Klägerin bezog nach dem Tode ihres ersten Ehemannes bis zu
ihrer Wiederheirat Witwenrente von der Beklagten. Die zweite Ehe wurde geschie-
den, nachdem sich die Klägerin einem anderen Mann zugewandt hatte und aus
der ehelichen Wohnung ausgezogen war. Im Scheidungsverfahren verzichteten die
Klägerin und ihr zweiter Ehemann wechselseitig auf nachehelichen Unterhalt.

Auf die der Klägerin gewährte, wiederaufgelebte Witwenrente rechnete die Be-
klagte mit Bescheid vom 7. August 1989 einen Unterhaltsanspruch der Klägerin
gegen den zweiten Ehemann an. Der nach erfolglosem Widerspruch (Wider-
spruchsbescheid der Beklagten vom 21. Februar 1990) erhobenen Klage gab das
Sozialgericht (SG) Nürnberg statt. Durch Urteil vom 30. April 1991 verpflichtete
es die Beklagte, die Witwenrente ohne Anrechnung von Unterhaltsansprüchen zu
gewähren. Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg. Nach dem Urteil des
Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 2. Juni 1992 läßt sich ein anrechen-
barer Unterhaltsanspruch der Klägerin, der hier nach § 1579 Nr 6 des Bürgerli-
chen Gesetzbuches (BGB) wegen ihres ehewidrigen Verhaltens ausgeschlossen
sei, auch nicht im Hinblick darauf unterstellen, daß die Klägerin ihn durch eigenes
Verschulden verwirkt habe. Es gebe nach Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes
1972 (RRG 1972) im Gesetz keinen Anknüpfungspunkt mehr für die Herstellung
eines Zusammenhanges zwischen ehelichem oder nachehelichem Fehlverhalten in
der zweiten Ehe und dem Anspruch auf wiederaufgelebte Witwenrente.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Beklagte im wesentlichen eine
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Die entscheidungserhebliche
Frage, ob ein wegen groben ehelichen Fehlverhaltens vor der Scheidung verwirk-
ter Unterhaltsanspruch gegen den zweiten Ehemann auf die wiederaufgelebte Wit-
wenrente nach dem ersten Ehemann angerechnet werden kann, sei klärungsbe-
dürftig.

- 3 -

II

Die Beschwerde der Beklagten ist nicht begründet.

Die Revision kann nur aus den in § 160 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)
genannten Gründen - grundsätzliche Bedeutung, Abweichung, Verfahrensman-
gel - zugelassen werden. Die Beklagte beruft sich sowohl auf eine grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache als auch auf eine Abweichung von einer Entscheidung
des Bundessozialgerichts (BSG). Damit kann sie keinen Erfolg haben.

Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist eine Rechtssa-
che, wenn sie eine Rechtsfrage grundsätzlicher Art aufwirft, die klärungsbedürftigist. Die Frage darf sich nicht unmittelbar und ohne weiteres aus dem Gesetz be-
antworten lassen oder bereits von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ent-
schieden sein (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 4). Diese Voraussetzung erfüllt die
von der Beklagten herausgestellte Frage nicht. Das BSG hat diese Frage zwar
noch nicht ausdrücklich entschieden, es sind jedoch zur Auslegung vergleichbarer
Regelungen schon höchstrichterliche Entscheidungen ergangen, die ausreichende
Anhaltspunkte zu ihrer Beantwortung geben (vgl allgemein Kummer, Die Nichtzu-
Iassungsbeschwerde, 1990, RdNr 117). Dabei ist mit dem Bundesverfassungs-
ericht (BVerfG) davon auszugehen, daß die Wiederauflebensregelung im Sozial-
versicherungsrecht mit den entsprechenden Bestimmungen im Beamten- und
Kriegsopferversorgungsrecht vergleichbar ist, weil hier das gleiche familienpoliti-
sche Problem vom Gesetzgeber übereinstimmend gelöst worden ist (vgl
BVerfGE 38, 187, 203 ff, 205). Mithin kann die zu den anderen Rechtsgebieten
vorliegende höchstrichterliche Rechtsprechung auch für die Beurteilung der An-
rechnung von (fiktiven) Unterhaltsansprüchen im Rahmen des § 1291 Abs 2
Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) herangezogen werden. Insofern ist
zu beachten, daß nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
(BVerwG) vom 25. Januar 1961 (BVerwGE 11, 350) das Witwengeld der wieder-
verheirateten Beamtenwitwe nach der Scheidung der zweiten Ehe auch dann wie-
derauflebt, wenn die Ehegatten eigens zu diesem Zweck die Scheidung betrieben
haben. In solch einem Fall dürfen selbst tatsächliche Zuwendungen des geschiede-
nen zweiten Ehemannes, auf die kein Anspruch besteht, nicht den in der Wieder-
auflebensregelung behandelten Unterhaltsansprüchen gleichgestellt und wie diese
auf das Witwengeld angerechnet werden (vgl BVerwGE 11, 350, 354). Dieser

- 4 -

Rechtsprechung hat sich das BSG bereits für den Bereich der Kriegsopferversor-
gung angeschlossen. In seinem Urteil vom 2. Oktober 1975 hat es ausgeführt,
daß der Anspruch auf Witwenversorgung seit Inkrafttreten des RRG 1972 umso
sicherer, ungefährdeter und vollständiger - nämlich ohne Anrechnung etwaiger
Unterhaltsansprüche - wiederauflebt, wenn die Ehe aus dem Alleinverschulden der
Frau geschieden worden ist (vgl BSGE 40, 260, 262 = SozR 3100 § 44 Nr 5
Seite 14). Da keine Gesichtspunkte ersichtlich sind, warum diese Beurteilung nicht
auch in der gesetzlichen Rentenversicherung Geltung beanspruchen kann, ist
insofern keine weitere höchstrichterliche Klärung erforderlich.

Auch die gerügte Abweichung des LSG von dem Urteil des BSG vom 25. Mai
1971 (BSG SozR Nr 31 zu § 1291 RVO) liegt nicht vor (vgl § 160 Abs 2 Nr 2
SGG). Denn die letztgenannte Entscheidung ist zu der alten, durch das RRG 1972
geänderten Fassung des § 1291 RVO ergangen. Zwar ist der Wortlaut der An-
rechnungsbestimmung selbst gleichgeblieben, jedoch wird deren Auslegung durch
den Wegfall der Verschuldensklausel in der Wiederauflebensregelung entscheidend
beeinflußt (vgl BSGE 40, 260, 264 = SozR 3100 § 44 Nr 5 Seite 16).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193
SGG.

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BSG, 12/11 BA 116/75 vom 02.03.1976, Bundessozialgericht
SozR 1500 § 160 Nr 17

Bundessozialgericht

12/11 BA 116/75

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Kläger und Beschwerdeführer

gegen

Bundesversicherungsanstalt für Angestellte,

Berlin 57, Ruhrstreße 2,

Beklagte und Beschwerdegegnerin„

Der 12. Senat des Bundessczielgerichts hat am 2. März
1976 durch den Vorsitzenden Richter Dr. H.
und die Richter Dr. F. und
O. beschlossen:

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin
vom 16 Juli 1975 wird als unzulässig verworfen.

Anßergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens
haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers_ist als unzu-
lässig zu verwerfen (§ 169 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Da der Kläger seine Nichtzulassungsbeschwerde allein auf
den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der
Rechtssache (§ 160 Abs.2 Nr. 1 SGG) stützt, hätte er in
der Beschwerdebegründung hinreichend die grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache darlegen müssen (§ 160 a Abs. 2
Satz 3 SGG. Das ist nicht geschehen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat es, wie bereits die
Beklagte und das Sozialgericht (SG), abgelehnt, dem Kläger
auf dessen Antrag gemäß Art. 2 § 49 a Abs. 2 des Ange
stelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes zu gestatten,
freiwillige Beiträge (§ 40 des Angestelltenversicherungs-
gesetzes -AVG-) für die Zeiten vom 1. Januar 1956 an bis
31. Dezember 1973 nachzuentrichten. Die Voraussetzungen
der Nachentrichtung hat das LSG damit verneint, der
Kläger habe weder seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik
Deutschland, da er seit Jahrzehnten in den Vereinigten
Staaten von Amerika lebe, noch sei er Deutscher i.S. des
Art. 116 Abs. 4 des Grundgesetzes, da er seit 1944 ameri-
kanischer Staatsbürger sei. Die Nachentrichtung sei auch
nicht auf Grund der in Art. IV Abs. 2 des Freundschafts-,
Handels- und Schiffahrtsvertrages zwischen der Bundes-
republik Deutschland und den Vereinigten Staaten von
Amerika vom 29. Oktober 4954 verfügten Inländerbehand-
lung gerechtfertigt„ Nach dem eindeutigen Wortlaut und
dem Sinn dieser Vorschrift erstrecke sich diese Inländer-
behandlung nur auf Leistungen. Die in Abs. 4 des Art. IV
genannten "anderen Vorteile" seien in Abs. 2 ausdrücklich

- 3 -

nicht erwähnt. Der Bundesminister für Arbeit (BMA) habe in
seinem Erlaß vom 10 Oktober 1956 (abgedruckt in: Deutsche
Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, XVI
USA, Art. IV des Freundschaftsvertrags, An. 1) in diesem
Zusammenhang darauf hingewiesen, daß die Vorschriften über
die freiwillige Versicherung (§ 21 AVG damaliger Fassung)‘
durch den Vertrag nicht berührt würden, weil Art, IV die
Gleichbehandlung nur in bezug auf die innerstaatlichen Vor-
schriften vorschreibe, die Leistungen aus der Sozialversi-
cherung oder der Arbeitslosenversicherung vorsehen. Das
Recht auf Selbstversicherung stelle jedoch keine Leistung·
dar.

Der Kläger möchte der Sache deshalb grundsätzliche Bedeutung
beimessen, weil das Bundessozialgericht bisher über die
Auslegung des Art. IV Ab. 2 des Freundschaftsvertrages im
Hinblick auf das Recht der Selbstversicherung noch nicht
entschieden habe, eine solche Entscheidung aber für eine
Unzahl gleichgelagerter Fälle bedeutsam sei. Der Vertrags-
text des Art. IV Abs. 2 des Vertrages sei nicht so eindeu-
tig, daß sich bereits von vornherein die Rechtsfrage nicht
stelle. Wie er näher ausführt, hält er die Inländerbehand-
lung auch bei der Anwendung des Rechts zur Selbstversiche-
rung für zulässig.

Diese Ausführungen des Klägers entsprechen nicht den Anfor-
derungen an die dem Beschwerdeführer obliegende Pflicht,
die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache darzulegen
(§ 460 a Abs. 2 Satz 5 SGG). Eine Rechtsfrage hat u.a. nur
dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie klärungsbedürftig
ist. Dies ist aber regelmäßig dann zu verneinen, wenn
- wie hier - die Beantwortung der Rechtsfrage so gut wie
unbestritten ist (Weyreuther, Revisionszulassung und Nicht-
zulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten
Bundesgerichte, NJW-Schriften 14, RdNr. 65 mit weiteren Hin-

- 4 -

weisen auf die höchstrichterliche Rechtsprechung). Der Kläger
hätte daher, um die Ausnahme darzutun, im einzelnen darlegen
müssen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen
Gründen die Beantwortung der Rechtsfrage umstritten und inwie-
fern sie im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig ist. Zu
einer solchen Darlegung mußte sich der Kläger im vorliegenden
Fall schon deshalb gedrängt fühlen, weil sich das LSG in seiner -
Begründung noch ausdrücklich auf den gegen die Auffassung des ·
Klägers sprechenden, den Inhalt des Vertrages klarstellenden
Erlaß des BMA vom 10. Oktober 1956 gestützt hat. Auf den Er-
laß ist der Kläger aber überhaupt nicht eingegangen. Das·wäre
jedoch erforderlich gewesen. Bei der Auslegung von Sozial-
versicherungsabkommen - hier des Freundschaftsvertrages - ist
nämlich die Auffassung des beim Zustandekommen eines solchen
Abkommens beteiligten Fachministers wegen dessen Kenntnis der
Zusammenhänge und der mit dem Abkommen verbundenen Verstellun-
gen beider Vertragsteile von nicht geringer Bedeutung.

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des
§ 195 SGG.

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Dienstag, 5. Mai 2015
BVerwG 11 VR 3.97 vom 21.03.1997, Bundesverwaltungsgericht
BVerwG 11 VR 3.97

In der Verwaltungsstreitsache
hat der 11. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. März 1997
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. D. und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht Prof. Dr. B. und Dr. R.

beschlossen:

Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen
Anordnung wird abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens tragen die
Antragsteller zu 1 als Gesamtschuldner und
der Antragsteller zu 2 jeweils zur Hälfte.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 8 000 DM festgesetzt.- 2 -

G r ü n d e :

I.

Die Antragsteller sind Eigentümer von bebauten Grundstücken
entlang des Bundesschienenweges Uelzen - Stendal, der nach dem
Bundesschienenwegeausbaugesetz als Ausbaustrecke
(Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Schiene Nr. 8) auszubauen
ist. Diese Strecke stellte bis 1945 die kürzeste Verbindung
zwischen dem mitteldeutschen Raum und den Nordseehäfen dar und
wurde zweigleisig betrieben. Im Juli 1945 wurde der
Eisenbahnbetrieb zwischen den Grenzbahnhöfen von Sachsen-
Anhalt und Niedersachsen eingestellt. In den folgenden Jahren
wurden die Gleisanlagen in Grenznähe vollständig abgebaut und
im weiteren Streckenabschnitt zwischen Wieren und Uelzen
eingleisig zurückgebaut.

Zur Realisierung der Ausbaustrecke hat die Deutsche Bahn AG
die auf die Elektrifizierung beschränkte Planfeststellung
beantragt. Für die den Streckenabschnitt Stederdorf - Uelzen
betreffenden Planfeststellungsabschnitte 25 und 26 wird
derzeit das Planfeststellungsverfahren durchgeführt. Im
Planfeststellungsabschnitt 25 hat die Auslegung der
Planfeststellungsunterlagen bereits stattgefunden. Die
Einwendungsfrist ist abgelaufen. Die Antragsteller haben
Einwendungen erhoben. Die den Planfeststellungsabschnitt 26
betreffenden Planfeststellungsunterlagen liegen derzeit
öffentlich aus. Es ist beabsichtigt, die Einwendungen zu
beiden Planfeststellungsabschnitten in einem gemeinsamen
Termin zu erörtern.


Die Antragsteller haben am 11. Februar 1997 um vorläufigen
Rechtsschutz nachgesucht. Sie befürchten, daß ihre Grundstücke
durch den Ausbau erheblich an Wert verlieren, weil trotz der
zu erwartenden Lärmbelästigung keine Lärmschutzmaßnahmen

- 3 -

vorgesehen seien. Sie vertreten die Auffassung, daß es sich
bei der Ausbaumaßnahme um eine wesentliche Änderung eines
Schienenweges handele, weil die Bahnstrecke in den Jahren
1984/1985 in eine eingleisige Strecke zurückgestuft worden
sei. Deswegen sei die Einhaltung der Immissionsgrenzwerte im
Sinne der 16. Bundesimmissionsschutzverordnung durch
Lärmschutzmaßnahmen sicherzustellen. Darüber hinaus seien
Kreuzungsbauten im Sinne des Eisenbahnkreuzungsgesetzes
vorzusehen. Die Deutsche Bahn AG wolle sich diesen
Konsequenzen aber entziehen, indem sie - ebenso wie die
Antragsgegnerin - die Rückstufung der Strecke bestreite, die
Einsicht in die entsprechenden Unterlagen verweigere, diese
Unterlagen trotz zeitweiligen Vorlageverlangens der
Anhörungsbehörde zurückhalte und nicht den ausgelegten
Planunterlagen beifüge. Ohne Offenlegung dieser Akten dürfe
das Planfeststellungsverfahren nicht weiterbetrieben werden.
Andernfalls würden die Rechte der Antragsteller verletzt,
insbesondere ihr Recht auf Eigentum und Gesundheit. Das
Akteneinsichtsrecht der Antragsteller ergebe sich aus § 29
VwVfG, aus §§ 4 und 5 UIG sowie unmittelbar aus Art. 103 Abs.
1 GG. Dieses Recht müsse im Wege der beantragten einstweiligen
Anordnung bereits jetzt gewährt werden. Andernfalls sei eine
ordnungsgemäße Wahrnehmung ihrer Rechte im
Planfeststellungsverfahren nicht möglich. Darüber hinaus
liefen sie Gefahr, im späteren gerichtlichen Verfahren mit
ihren Einwendungen präkludiert zu sein. Effektiver
Rechtsschutz sei nicht gewährleistet, da möglichen
Planungsalternativen, die sich aus der vollständigen Kenntnis
aller Planungsunterlagen ergeben könnten, im Rahmen einer bloß
nachträglichen Rechtskontrolle kein maßgebliches Gewicht mehr
zukomme. § 44 a VwGO stehe dem Antrag nicht entgegen.


Die Antragsteller beantragen,

der Antragsgegnerin aufzugeben, den Antragstellern
Akteneinsicht in die eigenen Rückstufungsakten für die
Bahnlinie Wieren-Uelzen von zweigleisigem Verkehr auf
dauernd eingleisigen Verkehr gemäß Erlaß vom 22. Februar
1984 zu Aktenzeichen E 15/32.38.02/428 Bb 83 zu
gewähren,

hilfsweise,

- 4 -

der Antragsgegnerin aufzugeben, die Rückstufungsakten für die
Bahnlinie Wieren-Uelzen von zweigleisigem Verkehr auf dauernd
eingleisigen Verkehr gemäß Erlaß vom 22. Februar 1984 zu
Aktenzeichen E 15/32.38.02/428 Bb 83 der Bezirksregierung
Lüneburg im Anhörungsverfahren zur Planfeststellung betreffend
VDE Nr. 3, Bahnlinie Uelzen-Stendal vorzulegen.

Die Antragsgegnerin beantragt,


den Antrag abzulehnen.

Sie hält den Antrag wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses für
unzulässig, weil den Antragstellern der Inhalt der Akten, in
die Einsicht begehrt werde, bereits bekannt sei. Wenn seitens
der Antragsgegnerin davon die Rede gewesen sei, die fragliche
Strecke sei entwidmet worden, so habe es sich um eine
unverbindliche Einschätzung der Rechtslage gehandelt, die
später im Blick auf die Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts wieder revidiert worden sei.
Jedenfalls sei der Antrag unbegründet. Ein Anspruch auf
Einsicht in die Akten der Antragsgegnerin bzw. auf Vorlage der
Akten an die Anhörungsbehörde stehe der Antragsgegnerin -
insbesondere nach § 29 VwVfG - nicht zu.

- 5 -


II.

1. Das Bundesverwaltungsgericht ist gemäß § 5 Abs. 1 VerkPBG
berufen, über den Antrag der Antragsteller auf Erlaß einer
einstweiligen Anordnung zu entscheiden. Der Gesetzeszweck
dieser Vorschrift verlangt ihre weite Auslegung dahin, daß sie
alle Verwaltungsstreitverfahren erfaßt, die einen
unmittelbaren Bezug zu konkreten Planfeststellungsverfahren
oder Plangenehmigungsverfahren für Vorhaben nach § 1 VerkPBG
haben (BVerwG, Beschluß vom 22. November 1995 - BVerwG 11 VR
42.95 - Buchholz 407.3 § 5 VerkPBG Nr. 5). Ein solcher
unmittelbarer Bezug zu den Planfeststellungsverfahren in den
Planfeststellungsabschnitten 25 und 26 der Ausbaustrecke
Uelzen - Stendal (Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Schiene Nr.
8) ist noch zu bejahen. Er ergibt sich daraus, daß die
streitbefangenen Akten diesen Streckenabschnitt betreffen und
die Antragsteller - wie vor allem aus ihrem Hilfsantrag
hervorgeht - den Akteninhalt zum Gegenstand des
Planfeststellungsverfahrens machen wollen. Auch die
Anhörungsbehörde des Planfeststellungsverfahrens hat zeitweise
die Beiziehung der Akten für erforderlich gehalten.


2. Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung bleibt
ohne Erfolg. Die Voraussetzungen des § 123 Abs. 1 VwGO liegen
nicht vor. Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund nicht
glaubhaft gemacht.


Mit ihrem Antrag auf Akteneinsicht begehren die Antragsteller
keine vorläufige Maßnahme, sondern die Vorwegnahme der
Hauptsache. Ein solches Rechtsschutzziel widerspricht
grundsätzlich der Funktion des vorläufigen Rechtsschutzes
(BVerwG, Beschluß vom 14. Dezember 1989 - BVerwG 2 ER 301.89 -
Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 15). Etwas anderes muß im Hinblick
auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG)
allerdings gelten, wenn ohne vorläufigen Rechtsschutz schwere
und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden,
zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der- 6 -
Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfGE 46, 166 <179>;
79, 69 <74>).


Solche Nachteile drohen den Antragstellern nicht. Sie machen
geltend, ohne Kenntnis des Akteninhalts an der ordnungsgemäßen
Wahrnehmung ihrer Rechte im Planfeststellungsverfahren
gehindert zu werden, weil sie mit späteren Einwendungen
ausgeschlossen werden könnten und eine Alternativplanung nicht
rechtzeitig erarbeitet werden könnte; ein einmal ergangener
Planfeststellungsbeschluß schaffe vollendete Tatsachen, die
durch nachträglichen Rechtsschutz erfahrungsgemäß nicht mehr
beseitigt würden. Das trifft jedoch nicht zu. Die
Antragsteller sind auch ohne Zuerkennung des beantragten
vorläufigen Rechtsschutzes nicht gehindert, ihre Einwendungen
in den die Planfeststellungsabschnitte 25 und 26 betreffenden
Planfestellungsverfahren in einer den Anforderungen des § 20
AEG entsprechenden Weise vorzubringen. Das belegen bereits
ihre Ausführungen in der Antragsschrift im vorliegenden
Verfahren. Die Planfeststellungsbehörde kann hieraus ohne
weiteres entnehmen, daß sie Lärmschutzmaßnahmen zur Sicherung
des Immissionsgrenzwertes des § 2 der 16. BImSchV für
erforderlich halten, weil nach ihrer Ansicht die
planfestzustellende Maßnahme die Voraussetzungen einer
wesentlichen Änderung von Schienenwegen im Sinne des § 1 Abs.
1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der 16. BImSchV erfüllt. Die damit von
den Antragstellern aufgeworfene Rechtsfrage könnte weder im
vorliegenden Eilverfahren noch durch die begehrte
Akteneinsicht verbindlich entschieden werden. Dies könnte
erforderlichenfalls erst in einem gegen den
Planfeststellungsbeschluß gerichteten verwaltungsgerichtlichen
Verfahren geschehen. Es ist nicht erkennbar, daß diese
Rechtsschutzmöglichkeit im Hinblick auf das im
Planfeststellungsverfahren verfolgte Begehren der
Antragsteller nicht mehr zeitgerecht oder inhaltlich,
insbesondere im Hinblick auf die Kontrolle von
Verfahrensfehlern, Planrechtfertigung oder Abwägungsmängeln,
unzureichend wäre. Soweit die Antragsteller faktische
Nachteile durch einen auf die nachträgliche Kontrolle der
Sachentscheidung beschränkten Rechtsschutz rügen, wenden sie

- 7 -

sich in Wahrheit gegen die Entscheidungen des Gesetzgebers zu
Art und Umfang des gerichtlichen Rechtsschutzes gegenüber
Planfeststellungsverfahren im allgemeinen und gegenüber
solchen auf der Grundlage des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes im besonderen,
deren Verfassungsmäßigkeit sie allerdings selbst nicht in
Frage stellen. Es kann aber nicht Aufgabe des vorliegenden
Eilverfahrens sein, diese gesetzgeberischen Entscheidungen der
Sache nach wieder aufzuheben oder zu umgehen. Art. 19 Abs. 4
GG gebietet dies jedenfalls nicht. Die Antragsteller haben
auch keinen weitergehenden Anspruch darauf, ihre
Rechtsposition noch vor Erlaß des Planfeststellungsbeschlusses
gerichtlich bestätigt zu erhalten oder die
Planfeststellungsbehörde noch während des laufenden
Planfeststellungsverfahrens zur Übernahme der Rechtsauffassung
der Antragsteller gerichtlich zu zwingen. Schon von daher sind
im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG bedeutsame rechtliche oder
tatsächliche Nachteile der Antragsteller in dem
Planfeststellungsverfahren durch die Ablehnung des beantragten
Erlasses einer einstweiligen Anordnung nicht erkennbar. Das
gilt nicht zuletzt deshalb, weil die Antragsteller davon
ausgehen, daß bereits durch die unstreitig gegebene dauernde
Betriebseinstellung eine "Entwidmung" des zweiten Gleises
stattgefunden habe, so daß dessen Wiederinbetriebnahme
Lärmschutzmaßnahmen im Sinne der 16. BImSchV erforderlich
mache. Mithin kommt es nach der Rechtsauffassung der
Antragsteller für die Frage, ob sie Einwendungen gegen
das Vorhaben bzw. gegebenenfalls Klage gegen den
Planfeststellungsbeschluß erheben werden, auf das
Vorhandensein und den Inhalt der begehrten Unterlagen nicht
an.

- 8 -

3. Auch hinsichtlich des Hilfsantrages haben die Antragsteller
einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Das ergibt sich
aus den unter 2 wiedergegebenen Erwägungen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 159
VwGO in Verbindung mit § 100 Abs. 1 ZPO, die Festsetzung des
Streitwerts auf § 13 Abs. 1 Satz 2, § 20 Abs. 3 GKG in
Verbindung mit § 5 ZPO.

Dr. D. Prof. Dr. B. Dr. R.

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BSG 11 RAr 89/94 vom 30.11.1994, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT


Beschluß

in dem Rechtsstreit

Az: 11 RAr 89/94

Kläger, Antragsteller
und Revisionsführer,
Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Bundesanstalt für Arbeit,
Nürnberg, Regensburger Straße 104
Beklagte, Antragsgegnerin
und Revisionsbeklagte.

Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat am 30. November 1994 durch den
Vorsitzenden Richter S. , die Richterin Dr. W. - S. und
den Richter Lüdtke
beschlossen:

Der Antrag des Klägers, ihm für die Revision gegen das Urteil des Hessischen Landes-
sozialgerichts vom 17. Dezember 1993 Prozeßkostenhilfe zu gewähren und Rechtsanwalt
Dr. B. beizuordnen, wird abgelehnt.

- 2 -


Gründe:


Die Revision betrifft einen Anspruch auf Überlassung von Ablichtungen aus den den
Kläger betreffenden Verwaltungsakten der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA).
Der Kläger war bis 1980 als Diplom-Ingenieur und Filialleiter beschäftigt. Seit Mai 1980
begehrt er von der BA die Vermittlung in eine Stellung als Generalmanager. Seither ist es
zu einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten zwischen den Beteiligten gekommen. Der
Kläger argwöhnt, zu einer entsprechenden Vermittlung sei es wegen der fachlich unzu-
reichenden und gegen ihn persönlich voreingenommenen Vermittlungstätigkeit des
Bediensteten Gerd L beim Büro für Führungskräfte der Wirtschaft der BA nicht ge-
kommen. Den auch mit der Revision verfolgten Antrag, "dem Kläger Ablichtungen sämt-
licher Bewertungen, Beschreibungen, Charakterisierungen und ähnlicher Aktenvermerke
zu überlassen, die Herr L in dem Zeitraum von Dezember 1980 bis Dezember
1991 über ihn abgegeben bzw gefertigt hat", hat die BA abgelehnt (Bescheid vom
19. März 1987; Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 1988). Die dagegen gerichtete Klage
hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 3. Dezember 1991 abgewiesen. Zur
Begründung ist ausgeführt, die BA habe den Kläger auf die Akteneinsicht verweisen
dürfen. Nach § 25 Abs 5 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) sei die BA
lediglich verpflichtet, dem Kläger im Rahmen der Akteneinsicht Ablichtungen von durch
ihn genau (mit Blattzahl oder Datum) bezeichneten Aktenteilen zu erteilen. Die gegen
dieses Urteil gerichtete Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) als unzulässig
verworfen.


Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Anliegen weiter.

II

Die zur Durchführung der Revision nachgesuchte Prozeßkostenhilfe und Beiordnung
seines Prozeßbevollmächtigten steht dem Kläger nicht zu, denn seine Rechtsverfolgung
hat nicht hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 73a Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ;
§ 114 Satz 1 Zivilprozeßordnung .


1. Entscheidend für die Beurteilung der Erfolgsaussicht ist nicht das voraussichtliche
Ergebnis des Revisionsverfahrens, sondern eine Aussicht auf Erfolg in der Sache selbst.
Dies ergibt sich aus Wortlaut und Zweck der §§ 114 Satz 1, 119 Satz 2 ZPO, auf die
§ 73a Abs 1 SGG Bezug nimmt. Die Prozeßkostenhilfe soll wirtschaftlich unbemittelten
Prozeßbeteiligten annähernd gleichen Zugang zu den Gerichten gewähren wie denjeni-


- 3 -

gen, die die dafür erforderlichen Kosten selbst aufbringen können. Die Gleichstellung ist
nur soweit geboten, als ein wirtschaftlich denkender, die Prozeßaussichten vernünftig ab-
wägender Prozeßbeteiligter das verfahrensrechtliche Kostenrisiko in Kauf nehmen würde
(BVerfGE 81, 347, 356 ff = NJW 1991,413 f; BGH NJW 1994,1160 f mwN). Aus alledem
folgt für den hier zu beurteilenden Sachverhalt, daß die Zulassung der Revision durch den
Senat noch nicht die hinreichende Aussicht auf Erfolg für den vom Kläger geltend ge-
machten Anspruch begründet. Der Senat hat die Revision allein deswegen zugelassen,
weil der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde eine Abweichung des LSG von
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in einer den Zugang zum Berufungs-
rechtszug betreffenden Frage bezeichnet hat. Bei dieser Verfahrenslage besteht aber die
Möglichkeit, daß der Kläger mit der Klage keinen Erfolg haben wird, weil der Senat auf-
grund des festgestellten Sachverhalts eine abschließende Entscheidung zum Nachteil des
Klägers fällt oder das LSG im Falle der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache im
Ergebnis gleichsinnig entscheiden wird. Ein solches Ergebnis ist im vorliegenden Falle
absehbar, weil sich für den geltend gemachten Anspruch eine rechtliche Grundlage nicht
wird feststellen lassen.


2. Das Begehren des Klägers, ihm Ablichtungen aus den Verwaltungsakten zu über-
lassen, die die BA nach abstrakten Vorgaben des Klägers konkretisiert, unterliegt durch-
greifenden materiell-rechtlichen Bedenken. Der Kläger wird voraussichtlich keinen Erfolg
haben, weil für sein Anliegen, ihm nach abstrakten Merkmalen abzugrenzende Aktenteile
abgelichtet zur Verfügung zu stellen, eine gesetzliche Grundlage nicht ersichtlich ist.

In Betracht zu ziehen ist hierfür allein § 25 Abs 5 SGB X. Nach dieser Vorschrift können
die Beteiligten Auszüge oder Abschriften selbst fertigen oder sich Ablichtungen durch die
Behörde erteilen lassen, soweit die Akteneinsicht zu gestatten ist. Wortlaut, systemati-
scher Zusammenhang und Zweck der Vorschrift stützen den geltend gemachten An-
spruch nicht. Sie begründet zwar einen Anspruch auf die Erteilung von Ablichtungen, die
die Behörde herstellt, soweit der Anspruch auf Akteneinsicht reicht. In diesen Grenzen
besteht der Anspruch auf Erteilung von Ablichtungen alternativ zu der eigenen Anfertigung
von Aktenauszügen oder Abschriften. Er ergänzt den Anspruch auf Akteneinsicht, indem
er dem Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit einräumt, das Ergebnis der Akteneinsicht
zur weiteren Verwendung zu fixieren. Ist der Anspruch auf Erteilung von Abschriften aber
darauf gerichtet, das Ergebnis eigener Akteneinsicht durch den Verfahrensbeteiligten
festzuhalten, setzt er die Akteneinsicht, die die BA dem Kläger angeboten hat, und die
genaue Bezeichnung der Aktenteile durch den Verfahrensbeteiligten voraus, die abge-
lichtet werden sollen. In ihrem Schriftsatz an das SG vom 31. August 1988 hat die BA er-
klärt, daß sie auch bereit sei, einem in solcher Weise bezeichneten Antrag gegen
Kostenerstattung zu entsprechen. Den erörterten Anforderungen genügt der Antrag des
Klägers nicht, denn er gibt der BA nur abstrakt generelle Merkmale für Aktenteile vor, von
denen er Ablichtungen beansprucht. Dies führt dazu, daß die Akteneinsicht nicht vom


- 4 -

Kläger vorgenommen wird, sondern der BA die Aktendurchsicht und die Prüfung des
Akteninhalts nach den vom Kläger vorgegebenen Merkmalen zugemutet wird. Einen An-
spruch auf eine derartige Leistung der BA begründet aber § 25 Abs 5 SGB X nicht. Zwar
ist die Akteneinsicht im Verfahren der Sozialleistungsträger nicht begrenzt, "soweit durch
sie die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben der Behörde beeinträchtigt würde" (vgl
§ 29 Abs 2 Verwaltungsverfahrensgesetz . Eine entsprechende Regelung des
Regierungsentwurfs zum SGB X wurde gestrichen, um "eine notwendige Anpassung an
die speziellen Bedürfnisse der Sozialleistungsverwaltung" vorzunehmen (Hauck/Haines,
Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren und Schutz der Sozialdaten -
Kommentar, § 25 RdNr 4). Daraus läßt sich aber eine Auslegung des § 25 Abs 5 SGB X
im Sinne der Revision nicht herleiten. Abgesehen von den erörterten Grenzen des An-
spruchs auf Erteilung von Ablichtungen enthielte ein dem Antrag des Klägers entspre-
chendes Vorgehen die Gefahr weiterer Streitigkeiten zwischen den Beteiligten. Dies gilt
um so mehr, als der Kläger ohnehin argwöhnt, ihm würden von der BA Aktenteile vorent-
halten. Im übrigen gibt der Rechtsstreit Anlaß zu dem Hinweis, daß auch das Recht, Ab-
lichtungen von Aktenbestandteilen zu verlangen, seinem Umfang nach durch die allge-
meinen Grundsätze zulässiger Rechtsausübung (§§ 226, 242 BGB) begrenzt wird.


3. Da dem Kläger ein Anspruch auf Ablichtungen in der beantragten Form nicht zusteht
und die Beklagte ihm Akteneinsicht einräumt, kommt es für die Entscheidung nicht darauf
an, ob der Kläger ein Recht auf Akteneinsicht nach § 25 Abs 1 SGB X hat, das Voraus-
setzung für den Anspruch auf Erteilung von Ablichtungen nach § 25 Abs 5 SGB X ist.
Auch gegenüber einem Anspruch des Klägers auf Akteneinsicht bestehen hier allerdings
Bedenken.


Der Gesetzgeber hat den Grundsatz der Aktenöffentlichkeit für Verfahrensbeteiligte nicht
unumschränkt eingeführt. Grundsätzlich besteht ein Recht auf Akteneinsicht für Verfah-
rensbeteiligte - unter weiteren noch zu erörternden Voraussetzungen und Einschränkun-
gen - nur für Beteiligte während eines Verwaltungsverfahrens. Begriff und Dauer des
Verwaltungsverfahrens sind dabei nach überwiegender Ansicht §§ 8, 18 SGB X zu ent-
nehmen. Unter Verwaltungsverfahren ist nach § 8 SGB X nur eine Behördentätigkeit zu
verstehen, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlaß
eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluß eines öffentlich-rechtlichen Vertrages
gerichtet ist. Aus dieser Begrenzung ist der Schluß gezogen worden, die Vorschriften des
2. Abschnittes (§§ 8 bis 30 SGB X) seien nicht auf eine Verwaltungstätigkeit zu beziehen,
die - hier nicht einschlägig - auf den Erlaß von autonomen Rechtssätzen oder allgemeinen
Verwaltungsvorschriften oder - wie hier - das schlichte Verwaltungshandeln gerichtet ist
(Hauck/Haines aaO § 8 RdNr 11; Kommentar zum Recht der gesetzlichen Rentenver-
sicherung - Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren , § 8 SGB X RdNr 5 - Stand Juli 1989 -; Krause/von Mutius/Schnapp/Siewert,
Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren, 1991, § 8


- 5 -

RdNr 10). Die auf die Arbeitsvermittlung des Klägers gerichtete Tätigkeit der BA ist aber
nicht auf Erlaß eines Verwaltungsaktes oder Abschluß eines öffentlich-rechtlichen Vertra-
ges gerichtet, sondern schlichtes Verwaltungshandeln (Gagei, AFG, § 13 RdNr 20), so
daß für diesen Tätigkeitsbereich ein Recht des Klägers auf Akteneinsicht nach § 25 Abs 1
8GB X nicht begründet ist. Diesen Rechtszustand hat allerdings schon die Begründung
des Regierungsentwurfs zu dem insoweit übereinstimmenden § 29 Abs 1 VwVfG (= § 25
des Entwurfs) für unbefriedigend gehalten (BT-Drucks 7/910 S 52). Ob gegenüber der
Absicht des Gesetzgebers, die Akteneinsicht zu begrenzen, eine erweiternde Auslegung
in Betracht kommt, ist hier nicht zu entscheiden. Die Begrenzung des Anspruchs auf
Akteneinsicht kann einer "Justifizierung" des schlichten Verwaltungshandelns im Bereich
der 8ach- und Dienstleistungen entgegenwirken und damit der Effizienz der Verwaltung
dienen (so Hauck/Haines aaO § 8 RdNr 11). Die praktischen Folgen der gesetzlichen
Regelung lassen sich aber dadurch mildern, daß sie nicht als abschließende Regelung
verstanden wird, so daß es im pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltung steht, darüber
zu befinden, ob sie auch im Bereich des schlichten Verwaltungshandelns Akteneinsicht
gewährt (BT-Drucks aaO; BVerwGE 61, 15, 22). Dem hat die BA entsprochen, indem sie
dem Kläger die Möglichkeit eröffnet hat, Akteneinsicht zu nehmen. Der Kläger hat jedoch
von der ihm gebotenen Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, so daß er nicht in der
Lage war, die für Ablichtungen in Betracht kommenden Aktenteile zu bezeichnen.


Problematisch ist im zu beurteilenden Falle auch, ob die Akteneinsicht dem Kläger Kennt-
nis zur Geltendmachung oder Verteidigung seiner rechtlichen Interessen verschaffen soll,
wie es § 25 Abs 18GB X für das Recht auf Akteneinsicht erforderlich macht. Die
behaupteten Zweifel an der Qualifikation und Neutralität eines Bediensteten der BA dürf-
ten allein nicht ausreichen, um ein rechtliches Interesse iS des § 25 Abs 18GB X zu
begründen. Der Begriff des rechtlichen Interesses ist enger als derjenige des berechtigten
Interesses. Ein rechtliches Interesse ist nur gegeben, wenn die Akteneinsicht darauf ge-
richtet ist, tatsächliche Unsicherheiten über ein Rechtsverhältnis zu klären, ein rechtlich
relevantes Verhalten nach dem Ergebnis der Einsichtnahme zu regeln oder eine ge-
sicherte Grundlage für die Verfolgung eines Anspruchs zu erhalten (vgl BT-Drucks 7/910
8 53). Es ist nicht ersichtlich, inwiefern die Kenntnis von früheren Äußerungen eines
Bediensteten der BA für das rechtliche Interesse des Klägers an einer Arbeitsvermittlung
von Bedeutung sein soll. Denkbar wäre allerdings, daß die Akteneinsicht tatsächliche
Grundlagen für vermeintliche Schadensersatzansprüche gegen die BA oder einen ihrer
Bediensteten zutage fördern soll. Die BA hat dem Kläger Akteneinsicht und damit die
Möglichkeit eröffnet, seine Interessen wahrzunehmen. Damit ist auch dem Gedanken des
rechtlichen Gehörs Rechnung getragen (Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/
Wiesner/von Wulffen, SGB X, 2. Aufl 1990, § 25 Anm 2).


Zweifelhaft ist schließlich, ob sich ein Recht auf Akteneinsicht nach § 25 Abs 18GB X auf
sämtliche vom Kläger allgemein umschriebenen Aktenbestandteile erstrecken könnte.


- 6 -


Nach Satz 2 der Vorschrift erstreckt sich die Akteneinsicht nicht auf Arbeiten zur unmittel-
baren Vorbereitung einer Entscheidung. Darunter dürfte wegen des sachlichen Zusam-
menhangs der Regelung nur ein Verwaltungsakt oder eine Erklärung zu einem öffentlich-
rechtlichen Vertrag zu verstehen sein. Darum geht es bei der Arbeitsvermittlung - wie
ausgeführt - nicht. Im Rahmen einer Ermessensentscheidung der BA über die Bewilligung
von Akteneinsicht wäre aber der Rechtsgedanke des § 25 Abs 1 Satz 2 SGB X als eine
dem Zweck der Ermächtigung entsprechende Ermessenserwägung (§ 39 Abs 1 SGB I)
geeignet, die Akteneinsicht sinnvoll zu begrenzen. Die Beschränkung der Akteneinsicht
nach § 25 Abs 1 Satz 2 SGB X soll nämlich dazu dienen, nicht abschließend durchge-
arbeitete Entwürfe als Interna zu behandeln. Damit sollen letztlich unergiebige
Streitigkeiten vermieden werden. Bereits im Regierungsentwurf zum VwVfG wird auf die
"totale Aktentransparenz" als Gefahr für die Qualität des Verwaltungshandelns
hingewiesen (vgl BT-Drucks 7/910 S 53).


4. Da dem Kläger Prozeßkostenhilfe schon deshalb nicht zusteht, weil ein Anspruch auf
Erteilung von Ablichtungen nach § 25 Abs 5 SGB X nur bei genauer Bezeichnung der in
Betracht kommenden Aktenbestandteile in Betracht kommt, hat der Senat nicht zu prüfen,
ob die beabsichtigte Rechtsverfolgung mutwillig erscheint. Dies ist der Fall, wenn Rechte
von einer wirtschaftlich denkenden Partei nicht in dieser Weise verfolgt würden. Da der
Kläger von dem Angebot der BA, Akteneinsicht zu nehmen und genau bezeichnete Ab-
lichtungen zu verlangen, nicht Gebrauch gemacht hat, kann der Eindruck entstehen, ihm
komme es weniger auf die Kenntnis der Akten als vielmehr darauf an, seinen Willen
gegenüber der BA durchzusetzen. Ein solcher Standpunkt enthielte den die Bewilligung
von Prozeßkostenhilfe ausschließenden Mutwillen iS des § 114 Satz 1 ZPO.

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BSG 11 RAr 71/91 vom 10.12.1991, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: 11 RAr 71/91

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Bundesanstalt für Arbeit,

Nürnberg, Regensburger Straße 104,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am

10. Dezember 1992 durch die Richterin Dr. W.
- als Vorsitzende -, die Richter L. und Prof. Dr. B. sowie die ehrenamtlichen
Richter H. und E. für Recht erkannt

:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom

19. Juli 1991 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Klage als unzulässig

abgewiesen wird.

- 2 -

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu
erstatten.

- 3 -

Gründe:

I

Die Revision betrifft die uneingeschränkte Einsicht in die schriftlichen Vermitt-
lungsvorgänge der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) bei der beklagten
Bundesanstalt (BA).

Der seit 1980 arbeitslose Kläger beantragte 1982 die Vermittlung durch das Büro für
Führungskräfte der Wirtschaft (BFW) bei der ZAV. In der Folgezeit kam es zu zahlreichen
Prozessen, wobei der Kläger unzureichende bzw unzulässige Vermittlungsbemühungen
von Beamten der ZAV rügte. Am 27. Mai 1983 erhob er Klage vor dem Sozialgericht (SG)
Frankfurt/Main - S-1/Ar-404/83 - und verlangte von der BA Auskunft darüber, mit welchen
Unternehmen und mit welchem Vermittlungsziel die Beklagte am 24. Juni 1981,
24. Februar 1982, 1. März 1982 und 10. Mai 1982 über ihn gesprochen habe. Dieses
Verfahren endete im September 1992 mit einem angenommenen Anerkenntnis, mit
welchem die BA sich verpflichtete, das Auskunftsverlangen des Klägers im
Widerspruchsverfahren sachlich zu bescheiden.

Während des Verfahrens vor dem SG Frankfurt/Main - S-1/Ar-404/83 - beantragte der
Kläger Einsicht in die ihn ab 1. Juni 1980 betreffenden Vermittlungsakten der BA. Diese
kam dem Anliegen des Klägers weitgehend nach, beschränkte aber die Akteneinsicht,
indem sie dem Kläger auf der Bewerberangebotskarte (B/Ank) Feld J und in Band II auf
Blatt 72 zur Geheimhaltung personenbezogener Daten Dritter die dort enthaltenen
Firmennamen vorenthielt.

Mit der am 4. Oktober 1983 erhobenen Klage machte der Kläger die uneingeschränkte
Akteneinsicht geltend. Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil SG Frankfurt/Main
vom 2. Dezember 1988; Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Juli
1991). Das LSG bewertete ein Schreiben der BA an den Kläger vom 23. September 1983
und den Schriftsatz vom 15. März 1984 als uneingeschränkte Akteneinsicht ablehnende

Verwaltungsakte und die Klageerwiderung vom 8. November 1983 als
Widerspruchsbescheid, verneinte jedoch einen Anspruch auf Akteneinsicht.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, die bloße Weigerung
von zwei unbekannt gebliebenen Unternehmen, ihre Namen zu verlautbaren, reiche zur
Beschränkung der Akteneinsicht nicht aus. Vielmehr komme es auf deren berechtigte
Interessen an. Die Offenbarung personenbezogener Daten sei zur Erfüllung sozialer
Aufgaben zulässig. Zu diesen gehörten auch die Pflichtaufgaben der BA. Der
Arbeitsuchende müsse die Möglichkeit haben nachzuprüfen, ob die BA den
Vermittlungsaufgaben im gesetzlichen Rahmen nachgekommen sei. Die Beschränkung

- 4 -

der Akteneinsicht dürfe nicht dazu dienen, vom Kläger wiederholt angekündigte
Amtshaftungsansprüche zunichte zu machen. Hinter diesem Interesse des Klägers hätten
die mit nicht näher konkretisierten "grundsätzlichen Erwägungen" begründeten Interessen
der Unternehmen zurückzutreten. Im übrigen seien die Unternehmen notwendig
beizuladen, weil es auf eine Abwägung der Interessen des Klägers und der Unternehmen
ankomme. Ihre Namen würden damit im Verfahren ohnehin offenbar.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Juli 1991 und das Urteil
des Sozialgerichts Frankfurt vom 2. Dezember 1988 sowie die Bescheide der
Beklagten vom 23. September 1983, 8. November 1983 und 15. März 1984 zu
ändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger unbeschränkte, vollständige
Akteneinsicht in die über ihn geführten Verwaltungsakten, insbesondere Band II
Blatt 72 und Bewerberkarteifeld J einschließlich der eingetragenen Firmennamen
zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

II

Im Einverständnis mit den Beteiligten hat der Senat ohne mündliche Verhandlung durch
Urteil entschieden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ).

Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg, denn das Urteil des LSG beruht nicht auf
einer ihn beschwerenden Gesetzesverletzung (§ 170 Abs 1 SGG). Die auf vollständige
Akteneinsicht gerichtete Klage ist unzulässig.

Nach § 44a Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) können Rechtsbehelfe gegen
behördliche Verfahrenshandlungen nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung
zulässigen Rechtsbehelfen geltend gemacht werden. Der Rechtsgedanke dieser
unmittelbar nur im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten geltenden Norm ist auch im
sozialgerichtlichen Verfahren zu beachten. Es handelt sich nämlich um einen
Rechtsgedanken des allgemeinen Verfahrensrechts, das Verwaltungsverfahren nicht
durch die isolierte Anfechtung von einzelnen Verfahrenshandlungen zu verzögern oder zu
erschweren. Das Bundessozialgericht (BSG) hat deshalb § 44a Satz 1 VwGO wiederholt
herangezogen, zumal in § 172 Abs 2 SGG in vergleichbarem Zusammenhang der gleiche

- 5 -

Rechtsgedanke zum Ausdruck gekommen ist (BSG SozR 1500 § 144 Nr 39; BSG SozR
3-1500 § 144 Nr 3 mwN). Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an.

Die Entscheidung der BA über die Begrenzung der Akteneinsicht ist eine behördliche
Verfahrenshandlung in dem auf Auskunftserteilung gerichteten Verwaltungsverfahren. Die
BA hat über den geltend gemachten Auskunftsanspruch - wie in dem Verfahren vor dem
SG Frankfurt/Main - S-1/Ar-404/83 - von ihr anerkannt - eine rechtsmittelfähige
Entscheidung zu treffen. Auskunftsanspruch und Akteneinsicht sind auf den gleichen
Gegenstand - die Namen von zwei Unternehmen - gerichtet. Auch wenn es sich um
prozeßrechtlich zu unterscheidende Streitgegenstände handelt, stimmt der Klagegrund
beider Verfahren überein. Unabhängig von der Regelung des § 44a Satz 1 VwGO ist
deshalb ein Rechtsschutzbedürfnis für eine gesonderte Anfechtbarkeit der Entscheidung
über die Beschränkung der Akteneinsicht nicht ersichtlich.

Eine Verletzung des Rechts des Klägers auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art 19 Abs 4
Grundgesetz ) ist bei dieser Sach- und Rechtslage nicht zu befürchten (vgl dazu:
BVerfG SozR 3-1300 § 25 Nr 1 = NJW 1991, 415). Der Rechtsschutz des Klägers wäre
wirkungsvoller durchzuführen gewesen, wenn er nicht durch die Gleichzeitigkeit
verschiedener Verfahren mit dem gleichen Ziel behindert worden wäre (vgl auch: BSG
SozR 15OO § 144 Nr 39).

Die Revision des Klägers kann nach alledem keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

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BSG 11 RAr 61/97 vom 17.12.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Verkündet am

17. Dezember 1997

Urteil
in dem Rechtsstreit

Az: 11 RAr 61/97

Klägerin und Revisionsklägerin,
Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Bundesanstalt für Arbeit,
Regensburger Straße 104, 90478 Nürnberg,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung
vom 17. Dezember 1997 durch den Vorsitzenden Richter S. , die Richterin
Dr. W. und den Richter L. sowie die ehrenamtlichen
Richter D. und B. für Recht erkannt:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom
21. März 1997 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entschei-
dung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

- 2 -

Gründe:

I

Der Rechtsstreit betrifft die Erstattung von Arbeitslosengeld (Alg), welches die beklagte
Bundesanstalt (BA) dem früheren Arbeitnehmer der Klägerin Kurt J. (J) in der Zeit vom
23. September 1994 bis 30. Juni 1995 gezahlt hat.

Die Klägerin schloß im Rahmen eines Sozialplans mit ihrem am 27. April 1935 geborenen
Arbeitnehmer J einen Aufhebungsvertrag vom 30. Dezember 1993, mit welchem das Ar-
beitsverhältnis - nach den Feststellungen des LSG - gegen Zahlung einer Abfindung von
4.000,00 DM zum 30. Juni 1994 beendet wurde. J war seit dem 26. März 1965 - zuletzt
als Meister - bei der Klägerin beschäftigt. Er meldete sich am 7. Juni 1994 arbeitslos und
beantragte Alg. Die BA bewilligte die Leistung von einer Sperrzeit vom 1. Juli bis
22. September 1994 ausgehend ab 23. September 1994 in Höhe von 625,20 DM wö-
chentlich. J hatte die Möglichkeit in Anspruch genommen, das Alg unter erleichterten
Voraussetzungen zu beziehen. Seit dem 1. Juli 1995 erhält er Altersrente wegen Arbeits-
losigkeit.

Mit einem vorgedruckten Schreiben eröffnete die BA der Klägerin im Januar 1995, sie be-
absichtige die Erstattung des an J gezahlten Alg von der Klägerin zu verlangen und er-
läuterte die Befreiungstatbestände des § 128 Abs 1 Satz 2 Arbeitsförderungsgesetz
(AFG). Die Klägerin erhob in einem Schreiben vom 14. Februar 1995 Einwände gegen die
Erstattung, die sich insbesondere auf die Sachaufklärung von anderweitigen sozialrechtli-
chen Ansprüchen des J, die Möglichkeit einer betriebsbedingten Kündigung
(Umsatzrückgang) und verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Erstattungsregelung
bezogen.

Mit Bescheid vom 21. Februar 1995 stellte die BA fest, daß die Klägerin verpflichtet sei,
das ihrem früheren Arbeitnehmer J ab 23. September 1994 gezahlte Alg für längstens
624 Tage zu erstatten. Die Klägerin erhob Widerspruch und nahm im gleichen Monat
Einsicht in die Leistungsakten der BA. Am 5. April 1995 errechnete die BA die von der
Klägerin zu erstattenden Leistungen an J für die Zeit vom 23. September 1994 bis
28. Februar 1995 und gab der Klägerin für diesen Zeitraum mit Bescheid vom 6. April
1995 ohne weitere Erläuterung folgende Erstattungsbeträge zur Zahlung auf: Alg
14.046,20 DM (für 136 Leistungstage), Beiträge zur Krankenversicherung 3.522,96 DM,
Beiträge zur Rentenversicherung 3.766,55 DM, gesamter Erstattungsbetrag
21.335,71 DM.

Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 1995 wies die BA den Rechtsbehelf zurück. Zur
Begründung ist ausgeführt, aus den "vorliegenden Unterlagen" und dem Vorbringen der

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Widerspruchsführerin ergäben sich keine Anhaltspunkte für Ansprüche auf anderweitige
Sozialleistungen iS der §§ 128 Abs 1 Satz 2 AFG. Zur Befreiung nach § 128 Abs 1 Satz 2
Nr 4 AFG reiche die bloße Möglichkeit einer betriebsbedingten Kündigung mit sozialer
Auslauffrist nicht aus. Ein Aufhebungsvertrag sei nicht geeignet, diesen Befrei-
ungstatbestand zu erfüllen. Die von der Klägerin vorgetragenen betriebsbedingten Gründe
reichten für eine Kündigung aus wichtigem Grund bei ordnungsgemäßer Sozialauswahl
nicht aus. Dieses Verständnis des Gesetzes sei verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden.

Für den Leistungszeitraum 1. März bis 30. Juni 1995 gab die BA der Klägerin mit Schrei-
ben vom 8. November 1995 Gelegenheit, sich zu einem Erstattungsbetrag von
17.351,57 DM zu äußern, nachdem sie J nochmals zu seinem Gesundheitszustand und
anderweitigen sozialrechtlichen Ansprüchen befragt hatte. Unter dem 6. Dezember 1995
erließ die BA einen weiteren Erstattungsbescheid für die Zeit vom 1. März bis 30. Juni
1995, wobei sie den Erstattungsbetrag von 17.351,57 DM mit 10.748,70 DM Alg für 105
Leistungstage, Beiträge zur Krankenversicherung 2.274,09 DM und Beiträge zur Renten-
versicherung 4.328,78 DM bezifferte. Den der Rechtsbehelfsbelehrung entsprechenden
Widerspruch der Klägerin wies die BA mit Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 1996
zurück, wobei sie sich zur Begründung auf den Bescheid vom 21. Februar 1995 und den
Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 1995 berief.

Die gegen die Bescheide vom 21. Februar und 6. April 1995 idF des Widerspruchsbe-
scheids vom 8. Mai 1995 gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil
vom 27. November 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen gerichtete
Berufung zurückgewiesen und die gegen den Bescheid vom 6. Dezember 1995 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 1996 gerichtete Klage abgewiesen.
Das LSG ist davon ausgegangen, der Erstattungsbescheid vom 6. Dezember 1995 idF
des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 1996 sei entsprechend § 96 Sozialge-
richtsgesetz (SGG) kraft Klage Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Sämtli-
che Bescheide seien rechtlich nicht zu beanstanden. Sie beruhten auf § 128 AFG in der
ab 1. Januar 1993 geltenden Fassung, die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht unter-
liege. Die BA sei ohne Verletzung der amtlichen Sachaufklärungspflicht davon ausgegan-
gen, im Leistungszeitraum habe J eine andere Sozialleistung, die den Bezug von Alg aus-
schließe, nicht zugestanden. Für gesundheitliche Einschränkungen des J, die zu Sozial-
leistungen führen könnten, hätten keinerlei Anhaltspunkte bestanden. Befreiungstatbe-
stände, die bei sozial gerechtfertigter Kündigung (§ 128 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG) oder der
Möglichkeit zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist
oder mit sozialer Auslauffrist (§ 128 Abs 1 Satz 2 Nr 5 AFG) vorlägen, seien nicht gege-
ben. Das Interesse der Klägerin an einer "ausgewogenen Altersstruktur" des Betriebes,
rechtfertige eine entsprechende Anwendung der erwähnten Befreiungstatbestände auch
nicht unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Da J gesundheitlich in der Lage ge-

- 4 -

wesen sei, seine Arbeit fortzusetzen, treffe die Klägerin als Arbeitgeber die die Erstat-
tungspflicht begründende Verantwortung für die Arbeitslosigkeit. Die Klägerin habe auch
nicht nachgewiesen, daß die Erstattung eine unzumutbare Belastung iS des § 128 Abs 2
Nr 2 AFG darstelle, weil sie den Fortbestand des Unternehmens oder die nach dem Per-
sonalabbau verbleibenden Arbeitsplätze gefährde. Immerhin sei sie in der Lage gewesen,
den im Rahmen des Sozialplans ausscheidenden Mitarbeitern Abfindungen zu zahlen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des Art 12
Grundgesetz (GG), des § 128 Abs 1 Satz 2 Nrn 4 und 5 sowie Abs 2 Nr 2 AFG und der
amtlichen Sachaufklärungspflicht. Das Berufungsurteil mit seinem Verständnis des § 128
AFG sei mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit nicht zu vereinbaren. Da das Arbeitsver-
hältnis durch Aufhebungsvertrag geendet habe, hätten beide Arbeitsvertragsparteien von
ihrer Vertragsfreiheit Gebrauch gemacht, so daß die Auflösung des Arbeitsverhältnisses
nicht allein im Verantwortungsbereich der Klägerin liege. Bedenken gegenüber der Er-
stattungspflicht ergäben sich auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit,
denn die gegen Frühverrentungen gerichtete Regelung habe ihren Zweck - wie die Praxis
zeige - nicht erreicht. Trotz langjähriger Beitragsentrichtung seien die Vertragsparteien ei-
nerseits durch die Erstattungspflicht andererseits durch die gleichfalls verfassungswidrige
fiktive Kündigungsfrist des § 117 Abs 2 Satz 4 AFG gehindert, das freiwillig eingegangene
Arbeitsverhältnis zu lösen. Dies führe zu einer unzumutbaren wirtschaftlichen Doppelbe-
lastung. Dieser Gesichtspunkt sei in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG) zu § 128 AFG aF unberücksichtigt geblieben. Zu einer verfassungsrechtlich be-
denklichen Risikoverteilung komme es auch durch die Regelung des § 105c AFG. Der mit
der Erstattungspflicht verbundene Eingriff in die Berufsausübung sei nur dann verfas-
sungsgemäß, wenn er in einem vernünftigen Verhältnis zu dem gegebenen Anlaß und
dem ihm verfolgten Zweck stehe. Die Auslegung des § 128 AFG müsse deshalb unbillige
Härten vermeiden. Dem diene eine weite Auslegung der Befreiungstatbestände, insbe-
sondere müßten Aufhebungsverträge Kündigungen iS des § 128 Abs 1 Satz 2 Nrn 4 und
5 AFG gleichgesetzt werden. Da der Arbeitgeber keinerlei Möglichkeiten habe, die Vor-
aussetzungen anderer Sozialleistungen zu prüfen, erstrecke sich die amtliche Sachauf-
klärungspflicht darauf, alle vernünftigerweise zu Gebote stehenden und rechtlich zulässi-
gen Möglichkeiten der Aufklärung - auch zugunsten des Arbeitgebers - auszuschöpfen.
Deshalb müsse der Arbeitslose mindestens einmal pro Quartal vorgeladen und über an-
dere Sozialleistungen und über seinen Gesundheitszustand befragt werden. Im übrigen
seien Nachfragen beim Krankenversicherungsträger und beim Rentenversicherungsträ-
ger anzustellen, zumal statistisch etwa 30 bis 50 vH der über 55 Jahre alten Arbeitnehmer
in ihrer gesundheitlichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt seien, so daß nicht selten eine
verdeckte Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit vorliege. Gegenüber den Ausführungen des
LSG zur unzumutbaren Belastung iS des § 128 Abs 2 Nr 2 AFG sei darauf hinzuweisen,
daß die Erstattungsforderung der BA die an J gezahlte Abfindung bei weitem übersteige.

- 5 -

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. März 1997 und des Sozi-
algerichts Darmstadt vom 27. November 1995, sowie die Bescheide der Beklagten
vom 21. Februar 1995 und 6. April 1995 idF des Widerspruchsbescheids vom
8. Mai 1995 sowie vom 6. Dezember 1995 idF des Widerspruchsbescheids vom
22. Januar 1996 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend, insbesondere entspreche die Auslegung
des § 128 AFG durch das LSG den Vorgaben des BVerfG.

II

Die Revision der Klägerin ist iS der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Die
Entscheidung des LSG verletzt § 128 Abs 1 Satz 1 AFG. Für eine abschließende Ent-
scheidung des Bundessozialgerichts (BSG) reichen die tatsächlichen Feststellungen des
LSG nicht aus.

1. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß der Erstattungsbescheid vom 6. April
1995 gemäß § 86 SGG Gegenstand des gegen den "Grundlagenbescheid" vom
21. Februar 1995 eingeleiteten Widerspruchsverfahrens und der Erstattungsbescheid
vom 6. Dezember 1995 idF des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 1996 gemäß
§§ 96 Abs 1, 153 Abs 1 SGG Gegenstand des Gerichtsverfahrens geworden sind (vgl
hierzu BSG SozR 3-4100 § 128a Nrn 3 und 7 mwN). Durch die beiden Erstattungsbe-
scheide ist der "Grundlagenbescheid" überholt. Mit ihnen hat die BA die für Erstattungen
im vorliegenden Fall in Betracht kommenden Leistungszeiträume vom 23. September
1994 bis 30. Juni 1995 erschöpft. Seit dem 1. Juli 1995 bezieht J Altersrente. Dem
Grundlagenbescheid kommt damit eigenständige Bedeutung über die Erstattungsbe-
scheide hinaus nicht zu. Die Frage, ob die Beklagte entsprechend der im DBl-Runderlaß
11/93 vom 3. Februar 1993 Rz 7.4 Abs 3 vorgesehenen Verfahrensweise zu
"Grundentscheidungen" über die Erstattungspflicht berechtigt ist (vgl dazu das zur Veröf-
fentlichung vorgesehene Urteil des Senats vom 17. Dezember 1997 - 11 RAr 103/96 -),
bedarf daher hier keiner Erörterung. Zu entscheiden ist allein, ob die BA die Klägerin zu
Recht gemäß § 128 AFG zur Erstattung der 38.687,28 DM herangezogen hat.
2. Die angefochtene Heranziehung ist nicht wegen Verletzung der gebotenen Anhörung
rechtswidrig. Die BA hat der Klägerin Gelegenheit gegeben, sich zu den für die Erstat-

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tungspflicht erheblichen Tatsachen zu äußern (§ 24 Abs 1 Sozialgesetzbuch
- Verwaltungsverfahren - ).

Zwar ist der Anhörungspflicht nicht schon mit dem "Anhörungsschreiben" genügt, das
dem Grundlagenbescheid vorausgegangen ist. Die Anhörungspflicht bezieht sich auf
sämtliche für die Erstattung entscheidungserheblichen Tatsachen, auch diejenigen, die
die Erstattungsforderung der Höhe nach betreffen. Aus diesem Grunde hat auch den je-
weiligen Erstattungsbescheiden eine Anhörung vorauszugehen (vgl dazu das schon er-
wähnte Urteil des Senats vom 17. Dezember 1997 - 11 RAr 103/96 -). Vor dem Erstat-
tungsbescheid vom 6. April 1995 hat die BA der Klägerin jedenfalls nicht durch ein Anhö-
rungsschreiben Gelegenheit gegeben, sich zu entscheidungserheblichen Tatsachen zu
äußern. Das Rechenwerk für die mit dem Erstattungsbescheid vom 6. April 1995 geltend
gemachte Erstattungsforderung für die Zeit vom 23. September 1994 bis 28. Februar
1995 hat die BA am 5. April 1995 erstellt. Es kann damit noch nicht in der Verwaltungs-
akte enthalten gewesen sein, als die Klägerin im März 1995 Akteneinsicht genommen hat.
Ob zu diesem Zeitpunkt bereits Zahlungsnachweise der Verwaltungsakte vorgeheftet
waren, aus denen die Klägerin entscheidungserhebliche Tatsachen hätte entnehmen
können, steht nicht fest. Allerdings führt der Erstattungsbescheid selbst das im Leistungs-
zeitraum an 136 Leistungstagen erbrachte Alg, sowie die zur Kranken- und Rentenversi-
cherung aufgewendeten Beiträge auf. In der Rechtsprechung ist anerkannt, daß die An-
hörung im Widerspruchsverfahren auch durch den Inhalt des angefochtenen Bescheids iS
des § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X nachgeholt werden kann. Voraussetzung hierfür ist, daß der
Verwaltungsakt diejenigen Tatsachen enthält, die nach § 24 Abs 1 SGB X Gegenstand
der Anhörung sind (BSG SozR 1300 § 24 Nr 7; BSGE 69, 247, 253 f = SozR 3-1300 X 24
Nr 4 mwN). Der Erstattungsbescheid vom 6. April 1995 enthält zwar nur die
Erstattungsforderung, nicht das Rechenwerk, welches ihr zugrunde liegt. Der Einwand der
Klägerin in ihrem Schreiben vom 28. November 1995, sie könne "mangels Berechnungs-
grundlage die Höhe der Forderung nicht nachvollziehen", liegt daher nahe. Sie begründet
hier jedoch nicht die Rechtswidrigkeit des Erstattungsbescheids. Der Inhalt des Bescheids
vermittelte der Klägerin hinreichende Kenntnisse, um sich zur Ausschöpfung ihres Rechts
auf rechtliches Gehör noch weitere Tatsachenkenntnis zu verschaffen (BSG SozR 1300
§ 24 Nrn 4 und 6 mwN). Die Übersendung des Rechenwerks erscheint hier auch deshalb
nicht geboten, weil die BA bei der Feststellung des Alg sowie der Beiträge zur Kranken-
und Rentenversicherung und damit dem Erstattungsbetrag wesentlich von dem
Arbeitsentgelt des J ausgegangen ist, das gerade auf tatsächlichen Angaben der Klägerin
in der Arbeitsbescheinigung beruht (§ 24 Abs 2 Nr 3 SGB X). Auch wenn das Arbeitsent-
gelt nicht notwendig mit dem Bemessungsentgelt identisch ist, war die Klägerin im Zu-
sammenhang mit dem Anhörungsschreiben sowie der Mitteilung des Erstattungszeit-
raums hinreichend über Tatsachen unterrichtet, die eine Überraschungsentscheidung
ausschlossen und der Klägerin eine Entscheidung darüber ermöglichten, ob sie Anlaß
sah, an die BA heranzutreten, um ihre Erstattungsentscheidung zu beeinflussen. Aus den

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gleichen Gründen genügt das dem Erstattungsbescheid vom 6. Dezember 1995 vor-
ausgegangene Anhörungsschreiben vom 8. November 1995 noch den Anforderungen der
Anhörungspflicht.

3. Zutreffend ist das LSG zu dem Ergebnis gekommen, daß die Klägerin der BA das in
der Zeit vom 23. September 1994 bis 30. Juni 1995 gezahlte Alg einschließlich der auf
diese Leistung entfallenden Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung
(§ 128 Abs 4 AFG) zu erstatten hat.

3.1 Nach § 128 Abs 1 Satz 1 AFG erstattet der Arbeitgeber, bei dem der Arbeitslose in-
nerhalb der letzten vier Jahre vor dem Tag der Arbeitslosigkeit, durch den nach § 104
Abs 2 AFG die Rahmenfrist bestimmt wird, mindestens 720 Kalendertage in einer die Bei-
tragspflicht begründenden Beschäftigung gestanden hat, der BA vierteljährlich das Alg für
die Zeit nach Vollendung des 58. Lebensjahres des Arbeitslosen, längstens für 624 Tage.
Diese Voraussetzungen sind nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die nicht
mit Revisionsrügen angegriffen und damit für das BSG bindend sind (§ 163 SGG), erfüllt.

Die Klägerin hat J durchgehend seit 1965 und damit innerhalb der letzten vier Jahre vor
Eintritt der Arbeitslosigkeit am 1. Juli 1994 mindestens 720 Kalendertage beitragspflichtig
beschäftigt. Während des Bezuges von Alg ab 23. September 1994 hatte der 1935 ge-
borene J das 58. Lebensjahr und bei Eintritt der Arbeitslosigkeit das 56. Lebensjahr voll-
endet. Der Umstand, daß die BA mit beiden Erstattungsbescheiden jeweils nicht nur die
von ihr für ein Vierteljahr erbrachten Leistungen in Rechnung gestellt hat, läßt die
Rechtmäßigkeit der Erstattungsforderung unberührt. Die BA hat ausschließlich nach
§ 128 Abs 1 Satz 1 AFG fällige Erstattungsbeträge geltend gemacht. Der Erstattungszeit-
raum von längstens 624 Tagen ist nicht überschritten, selbst wenn die BA noch die Bei-
träge für die gesetzliche Krankenversicherung für die Sperrzeit vor dem 29. September
1994 erstattet verlangen könnte.

3.2 Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß J nicht auch die Voraussetzungen
für eine der in § 118 Abs 1 Satz 1 Nrn 2 bis 4 AFG genannten Sozialleistungen
(Krankengeld, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, Altersrente usw) oder Rente wegen Be-
rufsunfähigkeit erfüllt und ein solcher Tatbestand nach § 128 Abs 1 Satz 2 AFG der Er-
stattungspflicht nicht entgegensteht.

Auf eine Verletzung des Ermittlungsgrundsatzes kann sich die Klägerin insoweit nicht mit
Erfolg berufen. Nach ständiger Rechtsprechung erfordert die amtliche Sachaufklärungs-
pflicht nicht, nach Tatsachen zu forschen, für deren Bestehen die Umstände des Einzel-
falls keine Anhaltspunkte bieten (st Rspr: BSGE 78, 207, 213 = SozR 3-2600 § 43 Nr 13;
BVerwGE 66, 237 f). Eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes im Verwaltungs-
verfahren wäre nur erheblich, wenn sie zu einem anderen Verfahrensergebnis führen
könnte (§ 42 Satz 1 SGB X). Gegebenenfalls hätten die Tatsacheninstanzen nach § 103

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SGG für weitere Sachaufklärung zu sorgen. Dazu bestand hier kein Anlaß. Mit dem erör-
terten Maßstab für die amtliche Sachaufklärungspflicht korrespondiert auch die Regelung
der Mitwirkungspflicht von Arbeitslosen nach § 128 Abs 8 AFG. Die Angaben von J über
seinen Gesundheitszustand und über Anträge auf andere Sozialleistungen im Lei-
stungsantrag sowie bei seiner erneuten Befragung vor Erlaß des Erstattungsbescheids
vom 6. Dezember 1995 lassen keinen Anhaltspunkt für weitere Ermittlungen erkennen.
Eine Pflicht zur Einhaltung regelmäßiger formaler Rituale (vierteljährliche Vorladung von
Arbeitslosen, Anfragen bei anderen Sozialleistungsträgern oder gar die körperliche Un-
versehrtheit berührender Begutachtungen) läßt sich aus dem Ermittlungsgrundsatz nicht
herleiten. Den Umfang der Amtsermittlung bestimmt die Behörde bzw das Gericht auf-
grund pflichtgemäßer Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles. Sachliche An-
haltspunkte für weitergehende Ermittlungen waren auch dem Sachvortrag der Klägerin
nicht zu entnehmen. Allgemeine statistische Angaben als Erfahrungssätze über Ein-
schränkungen der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit älterer Menschen sind für die
Sachaufklärung im Einzelfall unergiebig (aM Ossenbühl, Der Erstattungsanspruch gemäß
§ 128 AFG und anderweitige Sozialleistungsansprüche, 1991, 12 ff; Kreßel NZS 1993,
292, 295 ff). Sie verfehlen den erörterten Inhalt des Untersuchungsgrundsatzes, wonach
die Notwendigkeit von Ermittlungen durch konkrete Umstände des Einzelfalles, nicht aber
generelle statistische Erhebungen bestimmt wird. Auch der Einwand, zum Gesundheits-
zustand und Leistungsvermögen des früheren Arbeitnehmers könne der Arbeitgeber nach
dem Ausscheiden aus dem Betrieb nicht beitragen, vermag nicht zu überzeugen. Inwie-
weit der Klägerin Kenntnisse über den Gesundheitszustand und anderweitige Ansprüche
auf Sozialleistungen während des Bezugs von Alg zur Verfügung standen, kann auf sich
beruhen. Da die Klägerin die Lohnsteuerkarte von J wegen über die Dauer des Arbeits-
verhältnisses hinausgehender Zahlungen einbehalten hat, liegt die Annahme nahe, daß
sie bei den Abreden über das vorzeitige Ausscheiden Auskunfts- und Mitteilungspflichten
ihres früheren Arbeitnehmers über Gesundheitsstörungen und anderweitige Soziallei-
stungen begründet hat. Abgesehen davon stehen der Klägerin gegebenenfalls aus der
Zeit der Beschäftigung Kenntnisse über Fehlzeiten oder Absinken der gesundheitlichen
Leistungsfähigkeit zur Verfügung, die zwar nicht unmittelbar den hier maßgeblichen Be-
zugszeitraum betreffen, die Klägerin aber zu substantiiertem Sachvortrag befähigen, der
Anlaß zur Ermittlung entscheidungserheblicher Tatsachen nach § 103 SGG, § 20 SGB X
geben könnte (insoweit zutreffend Wissing NZA 1993, 385, 397). Solches Vorbringen hat
die Klägerin sowohl im Verwaltungs- wie im gerichtlichen Verfahren vermissen lassen.
Auch wenn amtliche Sachaufklärung nicht von Beteiligtenvorbringen (Tatsachen-
behauptungen; Beweisanregungen; Beweisanträgen) abhängig ist, begründet der
Ermittlungsgrundsatz keine Pflicht von Behörden und Gerichten, Tatsachen zu ermitteln,
für deren Bestehen weder das Beteiligtenvorbringen noch sonstige konkrete Umstände
des Einzelfalls Anhaltspunkte liefern (aA ohne Auseinandersetzung mit der st Rspr:
Wissing NZA 1993, 385, 397). In diesem Sinne findet die amtliche Sachaufklärungspflicht
ihre Grenze an der Mitwirkungspflicht der Verfahrensbeteiligten (st Rspr: BVerwGE 66,

- 9 -

237 f; Eyermann/Geiger, VwGO, 10. Aufl 1998, § 86 RdNr 10; Meyer-Ladewig, SGG,
5. Aufl 1993, § 103 RdNr 16; noch deutlicher § 76 Abs 1 Finanzgerichtsordnung: "Das
Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen. Die Beteiligten sind dabei
heranzuziehen. Sie haben ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und
der Wahrheit gemäß abzugeben und sich auf Anforderung des Gerichts zu den von den
anderen Beteiligten vorgebrachten Tatsachen zu erklären". Verfassungsrechtliche
Bedenken gegen die sich aus dem erörterten Maßstab des Untersuchungsgrundsatzes
ergebenden Folgen für die Erstattungspflicht beruhen auf nicht hinreichender Klarheit
über den Inhalt der Amtsermittlungspflicht und dem Ziel, über eine nicht praxisgerechte
und nicht zumutbare Steigerung der Amtsermittlungspflicht zu Entscheidungen nach
objektiver Beweislast und damit einer Einschränkung der Erstattungspflicht zu gelangen
(vgl Kreßel NZS 1993, 292, 294 f).

Nach den Umständen des hier zu beurteilenden Falles hat das LSG ohne Verletzung von
Verfahrensvorschriften übereinstimmend mit der BA festgestellt, daß J während des Er-
stattungszeitraums vom 23. September 1994 bis 30. Juni 1995 anderweitige Soziallei-
stungen nicht zustanden.

3.3 Die Klägerin kann sich nicht darauf berufen, daß einer der in § 128 Abs 1 Satz 2 Nrn 1
bis 7 AFG genannten Tatbestände vorliegt, die die Erstattungspflicht nicht entstehen
lassen.

Die Klägerin hat nicht dargelegt und nachgewiesen, daß sie das Arbeitsverhältnis mit J
durch sozial gerechtfertigte Kündigung beendet hat (§ 128 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG). Un-
streitig ist das Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag beendet worden, der diesen
Befreiungstatbestand gerade nicht erfüllt (Niesel/Brand, AFG, 1995, § 128 RdNr 38). Dem
gegenüber greift der pauschale Hinweis der Revision auf die Austauschbarkeit von sozial
gerechtfertigter Kündigung und Aufhebungsvertrag als Beendigungsgründen von
Arbeitsverhältnissen nicht durch. Der Gesetzgeber hat bei der hier anzuwendenden Fas-
sung des Gesetzes beachtet, daß das BVerfG gerade in der Wahl bestimmter "Formen
der Beendigung von Arbeitsverhältnissen älterer, langjährig beschäftigter Arbeitnehmer"
ein Indiz dafür sieht, daß die Arbeitslosigkeit in den "Verantwortungsbereich des Ar-
beitgebers" fällt (BVerfGE 81, 156, 197 = SozR 3-4100 § 128 Nr 1). Bei Abschluß eines
Aufhebungsvertrages setzt sich der Arbeitgeber nicht der Prüfung der die Kündigung so-
zial rechtfertigenden Gründe aus. Kann er solche Gründe anführen und damit darlegen
und nachweisen, daß die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit seines früheren Arbeit-
nehmers nicht ihn treffe, hat er die Möglichkeit, vom Kündigungsrecht Gebrauch zu ma-
chen. Träfe die Rechtsauffassung der Klägerin zu, könnte § 128 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG
vorliegend übrigens auch keine Anwendung finden; es fehlt substantiierter Sachvortrag,
dem betriebliche Gründe für eine sozial gerechtfertigte Kündigung zu entnehmen wären.

- 10 -

Die Klägerin hat auch nicht dargelegt und nachgewiesen, daß sie bei Beendigung des Ar-
beitsverhältnisses berechtigt war, das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Ein-
haltung einer Kündigungsfrist oder mit sozialer Auslauffrist zu kündigen (§ 128 Abs 1
Satz 2 Nr 5 AFG). Ihr Vorbringen zu diesem Tatbestand ist auf abstrakte Rechtsausfüh-
rungen beschränkt. Konkrete Tatsachen, welche die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses belegen könnten, sind ihm nicht zu entnehmen. Insbesondere hat die
Klägerin nichts dafür vorgetragen, daß J seine Arbeitsleistung krankheitsbedingt oder
wegen altersbedingten Leistungsabbaus über länger währende Zeiträume nicht erbracht
hätte. Die Behauptung wirtschaftlicher Gründe für die Beendigung des Arbeitsver-
hältnisses weist keine Substanz auf, die die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Ar-
beitsverhältnisses mit J begründen könnte. In diesem Zusammenhang ist eine Klarstel-
lung dahin geboten, daß dieser Befreiungstatbestand nicht Manipulationen Vorschub lei-
sten soll, welche die Erstattungspflicht von Arbeitgebern nach § 128 AFG entwerten
könnten (BVerfGE 81, 156, 203 = SozR 3-4100 § 128 Nr 1). Ohne konkreten für die Tat-
sacheninstanzen überprüfbaren Sachvortrag kann sich die Klägerin auf den Befrei-
ungstatbestand des § 128 Abs 1 Satz 2 Nr 5 AFG nicht mit Recht berufen. Unerheblich ist
insoweit, daß auch bei tariflich nicht kündbaren Arbeitnehmern der Tarifvertrag eine
ordentliche Kündigung im Rahmen eines Sozialplans zuläßt. Das Gesetz trägt dabei der
Erfahrung Rechnung, daß bei Beendigung von Arbeitsverhältnissen älterer Arbeitnehmer
häufig der sonst typische Interessengegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
nicht besteht (BVerfGE 81, 156, 203 = SozR 3-4100 § 128 Nr 1; BSGE 77, 48, 52 = SozR
3-4100 § 119 Nr 9).

3.4 Substantiierter Sachvortrag fehlt schließlich insoweit, als die Klägerin sich auf einen
Wegfall der Erstattungspflicht nach § 128 Abs 2 Nr 2 AFG beruft. Nach dieser Vorschrift
entfällt die Erstattungspflicht nur, wenn der Arbeitgeber darlegt und nachweist, daß die
Erstattung für ihn eine unzumutbare Belastung bedeutete, weil durch sie der Fortbestand
des Unternehmens oder die nach Durchführung des Personalabbaus verbleibenden Ar-
beitsplätze gefährdet wären. Der Anwendung dieser Vorschrift steht zwar nicht entgegen,
daß die Klägerin ausscheidenden Arbeitnehmern im Rahmen eines Sozialplans eine Ab-
findung von 4.000,00 DM gezahlt hat. Insoweit unterliegt der rechtliche Ausgangspunkt
des LSG Bedenken. Unabhängig davon, welche Anforderungen an eine unzumutbare
Belastung unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte zu stellen sind
(vgl dazu BVerfGE 81, 156, 203 ff = SozR 3-4100 § 128 Nr 1; Niesel/Brand § 128
RdNr 83), ist der Darlegungs- und Beweislast der Klägerin jedenfalls nicht mit dem pau-
schalen Hinweis auf "Umsatzrückgang" genügt. Insoweit hätte die Klägerin konkrete Da-
ten vortragen und unter Beweis stellen müssen, die Aufschluß über den wirtschaftlichen
Zustand ihres Unternehmens geben. Daran fehlt es ebenso wie an der Stellungnahme
einer fachkundigen Stelle, die Satz 2 der Vorschrift zum Nachweis einer unzumutbaren
Belastung fordert. Unter diesen Umständen besteht kein Anlaß, näher darauf einzugehen,
unter welchen Voraussetzungen eine "unzumutbare Belastung" iS des § 128 Abs 2 Nr 2

- 11 -

AFG unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeits-
grundsatzes gegeben sein könnte.

4. Entgegen der Annahme der Revision unterliegt § 128 AFG nicht grundsätzlichen ver-
fassungsrechtlichen Bedenken. Dazu ist klarzustellen, daß es sich um eine Regelung der
Berufsausübung (nicht der Berufswahl) handelt, die nach ständiger Rechtsprechung des
BVerfG mit Art 12 Abs 1 Satz 2 GG vereinbar ist, wenn die gewählten Mittel zum Errei-
chen des verfolgten Zwecks geeignet und erforderlich sind und wenn bei einer Ge-
samtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtferti-
genden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt. Dabei hat der Gesetzgeber
für seine arbeits- oder sozialpolitischen sowie wirtschaftspolitischen Ziele einen weiten
Gestaltungsspielraum. Er kann Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit in den Vordergrund
stellen. Seine Gestaltungsfreiheit ist noch größer, wenn die Regelung - wie hier - nicht
unmittelbar berufsregelnden Charakter hat (BVerfGE 81, 156, 188 f = SozR 3-4100 § 128
Nr 1). Zu § 128 AFG aF hat das BVerfG aaO im einzelnen ausgeführt, daß die arbeits-
und sozialpolitische Zielsetzung, "Frühverrentungen", mit denen Personalkosten nament-
lich von Großunternehmen auf die Solidargemeinschaft abgewälzt werden, entgegenzu-
treten (Entlastungsfunktion), durch Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt ist. Zur Eig-
nung und Erforderlichkeit des eingesetzten Mittels der Erstattungspflicht hat das BVerfG
hervorgehoben, die Eignung der Erstattungspflicht sei bereits dann anzunehmen, wenn
durch sie der gewünschte Erfolg gefördert werde. Eine verfassungsrechtliche Beanstan-
dung sei nur möglich, wenn das eingesetzte Mittel "objektiv ungeeignet" oder "schlechthin
ungeeignet" sei (BVerfGE 81, 156, 192 = SozR 3-4100 § 128 Nr 1). Dieses Merkmal hat
das BVerfG für die im wesentlichen gleichlautende frühere Regelung verneint. Für das
geltende Recht kann nichts anderes gelten. Die Revision geht daher bei ihren Einwänden
gegen die gesetzliche Regelung von verfassungsrechtlich nicht zutreffenden Vorausset-
zungen aus. Sie nimmt die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG auch insoweit
nicht zur Kenntnis, als sie meint, die Klägerin treffe für die Arbeitslosigkeit nicht
besondere Verantwortung. Diese hat der Gesetzgeber durch die typisierend
differenzierende Regelung des § 128 AFG konkretisiert. Arbeitgebern ist durch die Befrei-
ungstatbestände des § 128 Abs 1 Satz 2 AFG und die Auffangklausel des § 128 Abs 2
Nr 2 AFG insbesondere die Möglichkeit eingeräumt worden, betriebliche Belange
vorzutragen und unter Beweis zu stellen, um die Erstattungspflicht - von der zeitlichen
Begrenzung abgesehen - in den Grenzen zumutbarer Belastung der Verhältnismäßigkeit
zu halten (BVerfGE 81, 156, 194 ff = SozR 3-4100 § 128 Nr 1). Damit ist die
Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Regelung gewahrt. Die verfassungsrechtlichen
Ausführungen der Klägerin reißen einzelne Begriffe aus dem Zusammenhang der
Ausführungen des BVerfG und werden damit der Verfassungsrechtslage nach Art 12
Abs 1 Satz 2 GG nicht gerecht.

- 12 -

Die Erstattungspflicht der Arbeitgeber ist auch insoweit verfassungsgemäß, als Arbeits-
lose - wie hier J - von der Möglichkeit Gebrauch machen, Alg unter den erleichterten Vor-
aussetzungen des § 105c AFG in Anspruch zu nehmen. Auch wenn Arbeitslose danach
nicht mehr jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen bereit sein müssen, steht ihnen
Alg nur zu, wenn sie die objektiven und subjektiven Anspruchsvoraussetzungen im übri-
gen erfüllen. Die Rechtsansicht, eingeschränkte Arbeitsbereitschaft älterer Arbeitnehmer
und eingeschränkte Vermittlungsbemühungen der BA führten zu einer nicht verhältnis-
mäßigen Risikoverteilung zum Nachteil von Arbeitgebern (Kreßel NZA 1993, 292, 294),
verkennt die tatsächlichen Verhältnisse des Arbeitslebens. Die Regelung des § 105c AFG
berücksichtigt ua, daß Arbeitslosen nach Vollendung des 58. Lebensjahres "im allgemei-
nen kein Arbeitsplatz mehr vermittelt werden kann, der ihrer bisherigen - in der Regel
durch langjährige Betriebszugehörigkeit geprägten - Tätigkeit annähernd gleichwertig ist"
(Begründung des Entwurfs zum 7. AFG-Änderungsgesetz, BT-Drucks 10/3923 S 21). Be-
stehen aber für ältere Arbeitnehmer ohnehin kaum Vermittlungsmöglichkeiten, wird deut-
lich, daß der Aufhebungsvertrag gerade nach langer Betriebszugehörigkeit wesentlich
mitwirkende Ursache für die Arbeitslosigkeit ist. Die Frühverrentungspläne der Unter-
nehmen kalkulieren dies ein und gehen davon aus, daß entlassene Arbeitnehmer nach
einjähriger Arbeitslosigkeit mit 60 Jahren Altersrente beziehen können. Die Ansicht, bei
Inanspruchnahme des § 105c AFG seien mangelnde Arbeitsbereitschaft des Arbeitslosen
und eingeschränkte Vermittlungsbemühungen der BA Grund der Arbeitslosigkeit, wird der
Bedeutung, die der Lösung des Arbeitsverhältnisses für die Arbeitslosigkeit zukommt,
nicht gerecht. Sie verwechselt insofern Ursache und Wirkung und ist nicht geeignet,
Arbeitgeber von ihrer Verantwortung für die Arbeitslosigkeit langjähriger älterer Ar-
beitnehmer zu entlasten.

5. Eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 AFG enthält das angefochtene Urteil jedoch,
als ihm tatsächliche Feststellungen nicht zu entnehmen sind, nach denen sich die Erstat-
tungsforderung der BA gegenüber der Klägerin errechnen läßt. An tatsächlichen Fest-
stellungen ist dem Urteil insoweit nur zu entnehmen, daß der Kläger ab 23. September
1994 Alg in Höhe von 625,20 DM wöchentlich bezogen und anläßlich der Aufhebung sei-
nes Arbeitsvertrages eine Abfindung von 4.000,00 DM erhalten haben soll. Diese Fest-
stellungen reichen für eine rechtliche Überprüfung nicht aus, denn diese bezieht sich nicht
nur auf die dem Arbeitslosen tatsächlich erbrachte, sondern die ihm rechtlich zustehende
Leistung (BSG Urteil vom 18. September 1997 - 11 RAr 55/96 - mit Hinweis auf BSG
SozR 3-4100 § 128a Nr 7 mwN). Dem Urteil des LSG fehlen deshalb Feststellungen, die
die Prüfung sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen und der rechnerischen Richtigkeit des
gezahlten Alg und der darauf beruhenden Erstattungsforderung erlauben. Das Urteil läßt
nicht erkennen, daß das LSG die Rechtmäßigkeit der Erstattungsforderung der Höhe
nach geprüft hat.

- 13 -

Da die tatsächlichen Feststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung des
BSG nicht ausreichen, ist das angefochtene Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Fest-
stellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückzuverweisen. Für die
erneute Entscheidung wird darauf hingewiesen, daß die Feststellungen des LSG die J
nach der Betriebsvereinbarung zustehenden Leistungen nicht voll erfassen dürften.

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BSG 11 BAr 47/92 vom 30.09.1992, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Az: 11 BAr 47/92

Klägerin und Beschwerdeführerin,

Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Bundesanstalt für Arbeit,
Nürnberg, Regensburger Straße 104,

Beklagte und Beschwerdegegnerin.

Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat am 30. September 1992 in Berlin durch den
Vorsitzenden Richter Dr. V.
die Richterin Dr. W. , den Richter Prof. Dr. B. sowie die
ehrenamtlichen Richter H. und G. beschlossen:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des
Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Dezember 1991 wird bezüglich der erhobenen
Verfahrensrüge als unzulässig verworfen, im übrigen als unbegründet zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

[Abs. 1] Das Landessozialgericht (LSG) hat wie das Sozialgericht (SG) den Anspruch der
Klägerin auf Gewährung höheren Arbeitslosengeldes (Alg) durch die beklagte
Bundesanstalt für Arbeit (BA) verneint.

Die mit einem als Arbeitnehmer beschäftigten Steuerberater verheiratete
Klägerin begehrt, das ihr unter Berücksichtigung der zu Beginn des Jahres 1988
eingetragenen Lohnsteuerklasse V/0 - beim Ehemann war die Lohn-
steuerklasse III/1 eingetragen - nach Leistungsgruppe D gewährte Alg ent-
sprechend der Lohnsteuerklasse III/1 nach der Leistungsgruppe C festzustellen.
Sie hält die von der BA angewandte Regelung des § 111 Abs 2 Nr 1d
Arbeitsförderungsgesetz (AFG) für mit dem Gleichheitsgebot des Art 3 Abs 1
Grundgesetz (GG) unvereinbar und macht geltend, sie werde schlechter behandelt,
wie wenn sie mit einem selbständig tätigen Ehemann verheiratet wäre, weil ihr
dann die begehrte Einstufung in Leistungsgruppe C zustehen würde.

Außerdem rügt sie als Verfahrensmangel Verletzung des rechtlichen Gehörs.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision ist zulässig
(§ 160a Abs 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz ), soweit sie die grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache betrifft, nicht hingegen hinsichtlich der
Verfahrensrüge.

[Abs. 2] Soweit die Klägerin Verletzung des rechtlichen Gehörs rügt, ist die Beschwerde
unzulässig, weil die diesen Verfahrensmangel ergebenden Tatsachen nicht
bezeichnet worden sind (§ 160a Abs 2 Satz 2 SGG).

Der damalige Prozeßbevollmächtigte der Klägerin ist ordnungsgemäß zur
mündlichen Verhandlung geladen worden. Ort und Zeit der mündlichen Ver-
handlung sind ihm in der Ladung (Terminsmitteilung) mit dem Hinweis darauf, daß
auch im Falle des Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne,
rechtzeitig mitgeteilt worden. Einen besonderen Hinweis, daß eine Erörterung des
Rechtsstreits zwischen dem Gericht und den Beteiligten vorgesehen ist, verlangt
§ 110 SGG nicht; der Begriff der Verhandlung schließt
vielmehr für die Beteiligten eine Erörterung des Rechtsstreits in jeder Hinsicht
ein. Im übrigen hatte die Klägerin ihren Rechtsstandpunkt bereits eingehend in
beiden Instanzen vorgetragen, so daß nicht dargelegt ist, was sie darüber hinaus
noch hätte vorbringen wollen.
-3-
- 3 -

[Abs. 3] Soweit die Klägerin ihre Beschwerde auf die grundsätzliche Bedeutung der
Rechtssache stützt, ist die Beschwerde zulässig.

Nach Auffassung des Senats ist die Klärungsbedürftigkeit der von der Klägerin
aufgeworfenen Rechtsfrage - Verfassungswidrigkeit des § 111 Abs 2 Nr 1d AFG -
hinreichend dargelegt. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage zwar dann nicht
mehr, wenn sie bereits entschieden ist oder durch Auslegung des Gesetzes, evtl
unter Berücksichtigung bereits ergangener Rechtsprechung, eindeutig beantwortet
werden kann. Das ist jedoch nicht der Fall, wenn - wie hier - neue Gesichtspunkte
vorgetragen werden, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden
Betrachtung der grundsätzlich bereits entschiedenen Rechtsfrage führen können
und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich
ausschließen (vgl Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, 4. Aufl § 160 RdNr 7 sowie
Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde RdNr 119). Das trifft hier zu.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschlüssen vom 8. März
1983 - 1 BvL 21/80 - (SozR 4100 § 111 AFG Nr 6) und vom 12. Oktober
1983 - 1 BvR 1596/82 - Dreier-Ausschuß - (SozR 4100 § 111 AFG Nr 7) die
Anknüpfung der Leistungsbemessung an das Lohnsteuersystem in § 111 Abs 2
AFG idF des Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetzes (AFKG) vom
22. Dezember 1981 (BGBl I 1497) - die Fassung ist praktisch unverändert
geblieben - als typisierende Regelung bei der Ordnung von Massenerscheinungen
im Hinblick auf die steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten von gemeinsam zur
Lohn- und Einkommensteuer veranlagten Ehepartnern für verfassungsgemäß
erachtet. Das BVerfG hat dabei ausgesprochen, daß niemand allein daraus, daß
einer Gruppe aus besonderem Anlaß besondere gesetzliche Vergünstigungen
zugestanden werden, für sich ein verfassungsrechtliches Gebot herleiten könne,
genau dieselben Vorteile in Anspruch nehmen zu dürfen. Insbesondere sei der
Gesetzgeber bei verheirateten Arbeitslosen nicht gehalten, statt des durch
Arbeitslosigkeit ausfallenden Einkommens die Gesamteinkünfte der Familie als
Anknüpfungspunkt für die Bemessung von Alg zu wählen.

Aus diesen Ausführungen geht hervor, daß § 111 Abs 2 - damit auch Nr 1d -
AFG in bezug auf alle Ehepaare, die zur Lohn- und Einkommensteuer veranlagt
werden, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Aus den genannten
Entscheidungen ist allerdings nicht sicher zu entnehmen, daß das BVerfG auch
den von der Klägerin angeführten Vergleich zwischen einem Arbeitnehmerehepaar
und einem Ehepaar, das aus einem Arbeitnehmer und einem selbständig Tätigen
besteht, bei seinen Entscheidungen berücksichtigt hat. Deshalb sind die von der
Klägerin unter diesem Blickwinkel angestellten Erwägungen dazu, daß
Arbeitnehmerehepaare gegenüber dem Vergleichspaar benachteiligt werden, neu

- 4 -

und nicht offensichtlich ungeeignet, die bisherige verfassungsrechtliche
Betrachtungsweise in Frage zu stellen. Nach Auffassung des Senats hat die
Klägerin daher die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage ausreichend dargelegt.

[Abs. 4] Die Beschwerde ist jedoch unbegründet, denn aus dem von der Klägerin
angestellten Vergleich folgt nicht die behauptete Verletzung des Gleichheitssatzes.
Nach Art 3 Abs 1 GG muß der Gesetzgeber die Gleichbehandlung vergleichbarer
Fälle sicherstellen und darf nicht wesentlich Gleiches ungleich behandeln (vgl zB
BVerfGE 55, 72, 88; 65, 104, 112; 75, 382, 393; 79, 1, 17 und zuletzt Urteil vom
7. Juli 1992, NJW 1992 S 2213, 2214). Damit ist ihm jedoch nicht jede
Differenzierung verwehrt, sofern sie in sachlichen Unterschieden eine ausreichende
Stütze findet.

Die Klägerin begehrt die rechtliche Gleichbehandlung wesentlich verschiedener
Sachverhalte.

Die Lohnersatzfunktion des Alg mit existenzsichernder Wirkung ist nur er-
reichbar, wenn die Feststellung und Auszahlung des Alg sobald wie möglich erfolgt.
Dazu ist die Anknüpfung an die bescheinigten Lohnsteuerklassen zweckmäßig. Bei
Arbeitnehmer-Ehegatten kann freilich die Höhe des Arbeitslohnes der Partner im
Laufe eines Kalenderjahres derart wechseln, daß eine Änderung der auf den
Lohnsteuerkarten eingetragenen Lohnsteuerklassen angebracht ist, zumal jeder
der beiden Partner arbeitslos werden kann und Anspruch auf seinem Arbeitslohn
entsprechende Leistungen haben soll. Auch dann kommt zwischen den Eheleuten
ein Steuerklassenwechsel im Rahmen der Steuerklassen III bis V gemäß § 113
Abs 2 AFG in Betracht (vgl dazu BSG SozR 4100 § 113 Nr 4).

Bei dem Arbeitnehmer/Selbständigen-Ehepaar kann dies nicht auftreten. Hier
kann nur der Arbeitnehmerpartner arbeitslos werden und Anspruch auf Alg haben.
Ein Lohnsteuerklassenwechsel kommt wegen der Lohnsteuerpflicht nur eines
Ehegatten nicht in Frage. Bereits aufgrund dieser Unterschiede kommt für die
Vergleichsgruppe eine Regelung, die der für Arbeitnehmer-Ehegatten voll
entspricht, nicht in Betracht. Der in § 113 Abs 2 AFG vorgesehene
Steuerklassenwechsel zwischen Arbeitnehmer-Ehegatten hat nach seinem Sinn
und Zweck allein für diese Ehegatten Bedeutung.

Die Verfassungsmäßigkeit der von der Klägerin beanstandeten Regelung wird
nach Auffassung des Senats nicht dadurch widerlegt, daß für die sich von den
Arbeitnehmer-Ehegatten in sachlicher Hinsicht unterscheidenden Ar-
beitnehmer/Selbständigen-Ehegatten gem § 38b Satz 1 Nr 3a, aa Einkom-
mensteuergesetz (EStG) lohnsteuerrechtlich nur ein feststehender Anknüp-

- 5 -

fungsmaßstab für die Bemessung des Alg des arbeitslosen
Arbeitnehmer-Ehegatten besteht, nämlich seine Lohnsteuerklasse. Zu
berücksichtigen ist, daß in vielen Fällen der Arbeitnehmer dieser Verbindung im
Vergleich zum Arbeitseinkommen des Selbständigen ein höheres Arbeitsentgelt
erzielt. Jedenfalls in diesen Fällen weist die Bemessung des Alg für den
arbeitslosen Arbeitnehmer unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse III im
Vergleich zu Arbeitnehmer-Ehepaaren keinen Unterschied auf. Bei umgekehrten
Einkommensverhältnissen, in denen der Arbeitnehmer-Ehegatte gleichwohl lohn-
steuerrechtlich in die Klasse III eingruppiert wird, ist für die Arbeitsverwaltung im
Zeitpunkt der Entscheidung über das begehrte Alg regelmäßig nicht vorhersehbar,
ob die steuerrechtlichen Regelungen über die Veranlagung von Ehegatten ein
finanzielles Endergebnis herbeiführen, das den Arbeitslosen jedenfalls nicht
wesentlich besserstellt als den arbeitslosen Arbeitnehmer-Ehegatten. Von der
Verwaltung schnell zu bewältigende Massenerscheinungen wie die Gewährung von
Alg verlangen mithin notwendigerweise pauschalierende und typisierende
Regelungen, selbst wenn dabei gewisse Ungleichheiten zwischen verschiedenen
Personengruppen auftreten (BSG Urteil vom 27. Juli 1989 - 11/7 RAr 101/87 -
SozR 4100 § 111 AFG Nr 10). Der aus diesem Grunde erforderliche
Regelungsspielraum ist im Bereich der Leistungsverwaltung besonders weit, weil
die Praktikabilität einfache Maßstäbe für die Leistungsberechnung erfordert. § 111
Abs 2 AFG trägt diesem Erfordernis daher auch bezüglich des mit einem
Selbständigen verheirateten Arbeitnehmers, der Alg beansprucht, Rechnung. Das
Arbeitseinkommen des selbständigen Ehegatten steht nämlich erst nach Abgabe
seiner Steuererklärung und der dann erfolgenden Veranlagung, die in Einzelfällen
mehrere Jahre dauern kann, fest. Erst nach der steuerlichen Veranlagung könnte
damit auch das Verhältnis der Bruttoeinkünfte dieser beiden Ehepartner
berücksichtigt werden. Würde die Arbeitsverwaltung dann mit im Einzelfall
erforderlichen Korrekturen der Höhe des zu gewährenden Alg belastet werden,
wäre damit nicht nur ein unangemessener Verwaltungsaufwand verbunden,
sondern die Korrekturen würden auch zu einer nachträglichen Zweckverfehlung
des Alg führen, das den zuvor tatsächlich erzielten Lohn ersetzen soll (vgl BSG,
Urteil vom 13. November 1980 - 7 RAr 99/79 -BSGE 51, 10, 14, 15). Das
Arbeitsförderungsrecht muß deshalb für die Bemessung des Alg nicht abweichend
von der bestehenden Lohnsteuerklasseneinteilung des § 111 Abs 2 AFG an das
durch Arbeitslosigkeit verminderte Gesamteinkommen der Familie anknüpfen.

Die Regelung des § 111 Abs 2 AFG kann im Hinblick auf Art 3 Abs 1 GG auch
deshalb für die nach Auffassung der Klägerin begünstigte Vergleichsgruppe
hingenommen werden, weil durch die angeführten Entscheidungen anerkannt ist,
daß auch zum Nachteil des Arbeitslosen individuelle Freibeträge, die auf der
Lohnsteuerkarte eingetragen werden können und sonstige Steuervergünstigungen,

- 6 -

die erst im Lohnsteuerausgleichsverfahren oder bei der Veranlagung zur
Einkommensteuer zu einer Steuerentlastung führen, grundsätzlich für die
Bemessung des Alg unberücksichtigt bleiben. Eine gewisse Parallelität zu dem hier
zu beurteilenden Fall besteht jedenfalls insoweit, als auch in jenen Fällen die rein
steuerrechtlichen Ausgleichsmechanismen zwischen den Eheleuten unbeachtet
bleiben dürfen (vgl BSGE 51, 10, 15 sowie Urteil vom 27. Juli 1989 aaO).

Der Nichtzulassungsbeschwerde war daher der Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193
SGG.

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BSG 11 BA 8/75 vom 22.08.1975, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht

- 11 BA 8/75 -

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Kläger und Revisionskläger,

gegen

Beklagte und Revisionsbeklagte

Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat am
22. August 1975 durch den Vorsitzenden Richter
Dr. B. und die Richter H.
und Dr. Z. sowie die ehrenamtlichen
Richter V. und Dr. L.
beschlossen:

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der
Revision im Urteil des Landessozialgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Januar 1975 wird zurück-
gewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind
nicht zu erstatten.

- 2 -

Der Kläger war nach seinem Hochschulstudium von August
1932 bis April 1934 arbeitslos, aber nicht beim Arbeits-
amt gemeldet. Er begehrt dennoch von der Beklagten die
Anerkennung (Vormerkung) dieser Zeit als Ausfallzeit
im Sinne des § 36 Abs.1 Nr. 3 des Angestelltenver-
sicherungsgesetzes (AVG).Die Beklagte hat das abge-
lehnt. Klage und Berufung waren ohne Erfolg.Nach An-
sicht des Landessozialgerichts (LSG) ist es nicht grund-
gesetzwidrig (willkürlich), daß das Gesetz die Anrech-
nung einer Arbeitslosigkeit als Ausfallzeit von der
Arbeitslosmeldung abhängig macht und für ehemals un-
beschäftigte Jungakademiker keine Ausnahme zuläßt.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.Mit der
dagegen eingelegten Beschwerde beantragt der Kläger
die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Be-
deutung der Rechtssache. In der damals herrschenden
größten Arbeitslosigkeit sei - insbesondere für Jung-
akademiker - eine Meldung beim Arbeitsamt nutzlos ge-
wesen, weil die Arbeitsämter keine Stellen hätten ver-
mitteln können. Damit stelle sich die Frage, ob § 36
Abs. 1 Nr. 3 AVG mit der Verfassung im Einklang stehe,
soweit das Gesetz von seinen Vorteilen die große
Gruppe der Arbeitslosen ausschließe, die sich wegen
Nutzlosigkeit nicht beim Arbeitsamt gemeldet hätten.
Diese Frage sei noch nicht entschieden.

Die Beschwerde ist zulässig. Zu den Voraussetzungen der
Zulässigkeit gehört nach § 160 a Abs. 2 Satz 3 SGG,
daß in der (fristgebundenen) Beschwerdebegründung die
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt
wird. Demgemäß ist in der Begründung die zu entscheidende Rechts-

- 3 -

frage klar zu bezeichnen; außerdem muß ersichtlich sein,
weshalb ihrer Klärung eine grundsätzliche Bedeutung zukommt.

Das gilt auch, wenn die Verfassungswidrigkeit einer Vor-
schrift behauptet wird. Hier kann die bloße Behauptung
der Verfassungswidrigkeit nicht ausreichen; vielmehr
muß dargetan sein, welche Vorschrift des Grundgesetzes
verletzt ist und aus welchen Gründen. Insbesondere bei
behaupteten Verstößen gegen den Gleichheitsgrundsatz ist
zu erläutern, worin Ungleichbehandlung und Willkür er-
blickt werden (vgl. BVerwG, Buchholz, 448.3 § 7 USG
Nr. 1); erst dann sind Inhalt und Bedeutung der zu
entscheidenden Rechtsfrage der Verfassungswidrigkeit
genügend gekennzeichnet. Diesen Anforderungen genügt
indessen die Beschwerdebegründung des Klägers; es ist
vor allem nicht zweifelhaft, daß und warum er Art. 3
Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) für verletzt erachtet.

Auch sonst sind Bedenken gegen die Zulässigkeit der Be-
schwerde nicht gegeben.

Die Beschwerde ist aber nicht begründet.

Der Senat kann allerdings nicht der Meinung des Bundes~
gerichtshofs (BGH) folgen, daß die Frage der Verfassungs~
mäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen
Vorschrift die Zulassung einer Revision wegen grundsätz-
licher Bedeutung der Rechtssache nicht rechtfertigen
könne (Rzw 1964, 225; 1967, 368). Der BGH begründet diese
Ansicht damit, daß eine solche Zulassung nur das Ver-
fahren verzögere, weil gegen eine die Verfassungsmäßig-
keit bejahende Entscheidung noch der Weg der Verfassungs-
beschwerde zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) offen-
stehe; die Verfassungswidrigkeit könne nur vom BVerfG
ausgesprochen werden; dieses könne aber auch angerufen

- 4 -

werden, wenn die Revision nicht zugelassen werde. Dem
ist jedoch entgegenzuhalten, daß das BVerfG auch bei
Fragen der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, wenn
diese Frage von grundsätzlicher Bedeutung ist, vor der
Einlegung der Verfassungsbeschwerde zur Erschöpfung
des Rechtsweges die Einlegung der Nichtzulassungsbe-
schwerde verlangt (BVerfG 16, 3; vgl. auch 21, 167).

Im übrigen ist die Klärungsfähigkeit auch dieser Rechts-
fragen im Revisionsverfahren nicht zu bestreiten, selbst
wenn eine Klärung im Sinne der Verfassungswidrigkeit
nur durch Anrufung des BVerfG möglich ist. Zu Recht
schließt deshalb das BVerwG die Zulassung einer Revision
zur grundsätzlichen Klärung der Verfassungsmäßigkeit
bzw. - widrigkeit einer Vorschrift nicht aus (vgl.
BVerwG, Buchholz aaO sowie 232 § 90 BBG Nr. 14 und
235.16 § 5 LBesG Nr. 1). Wegen der Divergenz zum BGH
braucht der erkennende Senat allerdings nicht den Ge-
neinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes
anzurufen; dies ist jedenfalls deshalb nicht erfor-
derlich, weil der Senat aus anderen Gründen hier eben-
falls zur Zurückweisung der Beschwerde kommt.

Der Senat hält die Rechtsfrage nämlich nicht für
klärungsbedürftig. Richtig ist zwar, daß über die Ver-
fassungsmäßigkeit des Erfordernisses der Arbeits-
losmeldung in § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG bzw. § 1259 Abs. 1
Nr. 3 RVO, sei es allgemein, sei es für die vom Klä-
ger bezeichnete Gruppe, soweit bekannt, bisher weder
vom BSG noch vom BVerfG entschieden worden ist. Wenn
auch Ausführungen in mehreren Urteilen des BSG
(vgl. SozR Nr. 13, 35 und 50 zu § 1259 RVO) die Arbeits-
losmeldung wiederholt als zusätzliches gesetzliches
Tatbestandsmerkmal bezeichnen, ohne die eine Arbeitslo-
sigkeit nicht als Ausfallzeit anerkannt werden kann,

- 5 -

so ist doch nicht ersichtlich, daß in diesen Urteilen eine
beantragte Anrechnung einer Arbeitslosigkeit wegen der
fehlenden Meldung abgelehnt worden ist; andererseits haben
diese Urteile keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit
dieser Vorschrift erkennen lassen.

Wie der Senat im Beschluß vom 4. Juni 1975 (11 BA 4/75)
dargelegt hat, kann indessen eine Rechtsfrage auch ohne
einschlägige.Rechtsprechung dann nicht klärungsbedürftig
sein, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch
außer Zweifel steht. Das ist hier der Fall. Die angeführ-
ten Urteile des BSG (vgl. Nr. 13 und 35) haben bereits die
Gründe deutlich gemacht, weshalb der Gesetzgeber die Ar-
beitslosmeldung fordert. Der Gesetzgeber wollte eine zu-
sätzliche Sicherung für das Bestehen echter Arbeitslosig-
keit. Er wollte bei den in Betracht kommenden bis 1927
zurückreichenden Zeiträumen Mißbräuche ausschließen und
sicherstellen, daß der Arbeitslose auch ernstlich arbeits-
willig war und der Arbeitsvermittlung auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt zur Verfügung stand. Das sind sachlich ein-
leuchtende Gründe.

Im übrigen hat der Kläger das Erfordernis der Arbeits-
losmeldung nicht allgemein als verfassungswidrig bezeichnet.
Bei der Prüfung von Zulassungsgründen ist der Senat auf
die geltend gemachten Gründe beschränkt. Entscheidend ist
daher die Frage, ob das Erfordernis der Arbeitslosmeldung
gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, soweit es auch für Arbeits-
lose gilt, bei denen eine Meldung beim Arbeitsamt von vorn-
herein nutzlos erschien, insbesondere in der hier streitigen
Zeit. Auch hier kann jedoch von Willkür keine Rede sein. Es
ist schon nicht dargetan, daß Meldungen in der Zeit der
"größten Arbeitslosigkeit" allgemein wirklich nutzlos gewe-
sein seien; keinesfalls läßt sich das für alle in Betracht
kommenden Vermittlungen annehmen. Hinzu kommt, daß sich

- 6 -

die vom Kläger bezeichnete Gruppe nicht sinnvoll abgrenzen
läßt.

Abgesehen von der bestehenden Arbeitslosigkeit und der
Meldung beim Arbeitsamt erfordert § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG
außerdem, daß der Arbeitslose versicherungsmäßiges Ar-
beitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe oder Fürsorgeunter-
stützung oder Familienunterstützung bezogen hat oder daß
eine dieser Leistungen wegen Zusammentreffens mit anderen
Bezügen, wegen eines Einkommens oder wegen der Berück-
sichtigung von Vermögen nicht gewährt worden ist. Auf
dieses weitere Tatbestandserfordernis ist der Kläger in
der Beschwerdebegründung nicht eingegangen; auch aus dem
angefochtenen Urteil des LSG ist nicht zu ersehen, ob eine
dieser alternativen weiteren Voraussetzungen beim Kläger
gegeben ist. Der Senat kann jedoch offenlassen, ob die in-
soweit fehlenden Feststellungen und Ausführungen ebenfalls
dem Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde hätten im wege
stehen müssen.

Die Beschwerde ist nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus entsprechender An-
wendung des § 193 SGG.

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BSG 11 BA 4/75 vom 04.06.1975, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht
- 11 BA 4/75 -

Beschluß

in dem Rechtsstreit
Kläger und Beschwerdeführer,
Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Beklagte und Beschwerdegegnerin

Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat am
4. Juni 1975 durch den Vorsitzenden Richter
Dr. B. und die Richter H. und
Dr. Z. sowie die ehrenamtlichen
Richter B. und
Dr. B. Beschlossen:

1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzu-
lassung der Revision im Urteil des Landessozial-
gerichts Berlin vom 5. November 1974 wird
zurückgewiesen

2. Äußergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfah-
rens sind nicht zu erstatteno

- 2 -

Gründe:

Das Landessozialgericht (LSG) hat in dem angefochtenen
Urteil, das am 5, November 1974 ohne mündliche Verhandlung
ergangen und dem damaligen Bevollmächtigten des Klägers
in New York am 16. Januar 1975 zugestellt worden ist, die
Revision nicht zugelassen. Die dagegen gerichtete Beschwer-
de des Klägers hat keinen Erfolg.

Die Beschwerde ist zwar fristgerecht eingelegt und auch
fristgerecht begründet worden, obwohl die Begründung erst
am 10. April 1975 und damit - entgegen der Vorschrift des
§ 160a Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) -
nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung des
Berufungsurteils beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen
ist, Für den Kläger lief nämlich nicht eine Begründungs-
frist von zwei, sondern eine solche von vier Monaten, weil
ihm das Berufungsurteil außerhalb des Geltungsbereiches des
SGG zugestellt worden ist.

In Fällen der Auslandszustellung hatte die Rechtsprechung
bisher schon für die Einlegung der Revision in entsprechen-
der Anwendung des § 87 Abs, 1 Satz 2 SGG eine Frist von
drei Monaten zugebilligt (SozR Nr, 42 zu § 164 SGG aF);
demzufolge hatte der Revisionskläger, da sich damals noch
die einmonatige Begründungsfrist der Revisionsfrist an-
schloß, bei Auslandszustellung praktisch vier Monate Zeit
zur Revisionsbegründung (SozR Nr, 51 zu § 164 SGG aF), Mit
dieser Rechtsprechung wurde bezweckt_ den im Ausland leben-
den Beteiligten ausreichende Zeit zur Nachprüfung des Urteils,
zu Überlegungen und zur Einleitung der erforderlichen Maß-
nahmen zu belassen; sie sollten nicht gegenüber inländischen
Prozeßgegnern benachteiligt sein, Diese Erwägungen haben
kein minderes Gewicht für die Fristen, die bei der neueinge-

- 3 -

führten Nichtzulassungsbeschwerde zu wahren sind, Da nicht
erkennbar ist, daß der Gesetzgeber anläßlich der Änderung
des SGG zum 1. Januar 1975 die genannte Rechtsprechung
nicht mehr hätte akzeptieren wollen, erscheint es geboten,
sie bei den Fristen für die Nichtzulassungsbeschwerde fort-
zuführen. Das bedeutet, daß bei Urteilszustellung außer-
halb des Geltungsbereichs des SGG die Frist für die Ein-
legung der Beschwerde - in entsprechender Anwendung des
§ 87 Abs, 1 Satz 2 SGG - drei Monate ab Zustellung beträgt.
Daran kann sich die Begründungsfrist zwar nicht an-
schließen, weil sie nach § 160a Abs. 2 Satz 1 SGG ( mit
zwei Monaten ) ab Zustellung des Urteils zu berechnen ist
( wie jetzt auch die Revisiensbegründungsfrist, vgl. § 164
Abs. 2 Satz 1 SGG); wenn das Urteil - wie hier - außer-
halb des Geltungsbereichs des SGG zugestellt worden ist,
muß daher die Begründungsfrist sinngemäß auf eine Zeit
von vier Monaten ab Zustellung des Urteils festgesetzt
werden.

Die vom Kläger vorgetragenen Zulassungsgründe gebieten je-
doch keine Zulassung der Revision,

Soweit der Kläger zunächst eine Verletzung des § 105 SGG
rügt, könnte diese nach § 160 Abs. 2 Nr. 5 SGG nur dann
einen Zulassungsgrund bilden, wenn das LSG einem Beweis-
antrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt wäre.
Die Beschwerdebegründung enthält keine dahingehenden An-
gaben; sie genügt damit nicht den Erfordernissen des § 160
a Abs. 2 Satz 5 SGG. Nach dieser Vorschrift ist in der
Begründung der Verfahrensmangel zu bezeichnen; wenn Ver-
stöße gegen § 105 SGG gerügt werden, muß also dargelegt
werden, welchem Beweisantrag das LSG zu Unrecht nicht ge-
folgt sein soll.

- 4 -

Soweit der Kläger außerdem eine grundsätzliche Bedeutung
der Rechtssache geltend macht, läßt der Senat dahingestellt,
ob die Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung in
dem von § 160a Abs. 2 Satz 5 SGG geforderten Maße ausreichend
darlegt; dieser Zulassungsgrund ist jedenfalls nicht gegeben.
Der Kläger zitiert Ausführungen des LSG, daß wegen des.
Fehlens genauer Unterlagen "sich nicht feststellen läßt",
ob die "Beitragsentrichtung oder die Nichtentrichtung“ von
Beiträgen zur Angestelltenversicherung für die Zeit von
März 1952 bis Juni 1953 "ein höheres Maß an Wahrscheinlich-
keit hat". Nach seiner Meinung ist hier die grundsätzliche
Rechtsfrage zu klären, ob nicht bei Verfolgten die Fest-
stellung von Tatsachen gemäß § 5 des Gesetzes zur Regelung
der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in
der Sozialversicherung - WGSVG - vom 22. Dezember 1970
grundsätzlich zugunsten der Verfolgten zu treffen ist. Des-
halb hat der vorliegende Rechtsstreit indessen keine grund-
sätzliche Bedeutung.

Dieser Zulassungsgrund (vgl. aus der bisherigen Rechtsprechung
des BSG dazu BSG 2, 129, 152 und 15, 17, 19) verlangt zwar,
daß die zu treffende Entscheidung sich über den Einzelfall
hinaus auswirkt; insofern hat die Antwort auf die dargelegte
Rechtsfrage ohne Zweifel eine erhebliche Breitenwirkung; sie
beträfe viele Fälle von Verfolgten, in denen § 5 WGSVG an-
zuwenden ist. Die Bedeutung über den Einzelfall hinaus ge-
nügt aber noch nicht. Erforderlich ist vielmehr ferner, daß
die Rechtsfrage auch klärungsbedürftig ist (vgl„ BSG aaO und
Neyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde
in der Rechtsprechung der Obersten Bundesgerichte, S. 29);
eine schon geklärte Frage hat kein grundsätzliches Gewicht
nein; Eine Klärungsbedürftigkeit ist aber nicht erst denn'

- 5 -

zu verneinen, wenn bereits eine gefestigte Recht-
sprechung die Rechtsfrage klar entschieden hat; eine
Rechtsfrage kann schon dann nicht klärungsbedürftig
sein, wenn von vornherein die Antwort darauf praktisch
außer Zweifel steht. Das aber ist hier der Fall. Nach
§ 5 Abs. 1 WGSVG genügt es für die Feststellung der
nach diesem Gesetz erheblichen Tatsachen, wenn sie
glaubhaft gemacht sind; das ist der Fall, wenn ihr
Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen überwiegend
wahrscheinlich ist; nach Abs. 2 können als Mittel der
Glaubhaftmachung eidesstattliche Versicherungen zuge-
lassen werden. Die Vorschrift des § 3 gibt damit den
Verfolgten Beweiserleichterungen, vor allem dadurch,
daß für die Feststellung der rechtserheblichen Tat-
sachen die überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreicht.
Die Vorschrift enthält aber keinen Grundsatz, daß
Tatsachenfeststellungen allgemein oder regelmäßig
zugunsten der Verfolgten zu treffen seien; die Beweis-
last (Feststellungslast) bleibt unberührt„ Auch im Rah-
men des § 5 Abs. 1 WGSVG verbleiben Fälle, in denen
weder das Vorhandensein noch das Nichtvorhandensein
einen Tatsache überwiegend wahrscheinlich ist; dann
ist nicht "im Zweifel zugunsten der Verfolgten" zu
entscheiden. Ein derartiger Grundsatz wäre auch dem
Sozialversicherungsrecht fremd.

- 6 -

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus entsprechender
Anwendung des § 195 SGG

Dr. B. Dr. Z.
Zugleich für Richter am BSG
H., der durch Urlaub an der
Unterzeichnung verhindert ist.

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