Ausgewählte Rechtsprechung und Rechtsentwicklung
Freitag, 8. Mai 2015
BVerfg, 1 BvR 1411/91 vom 09.08.1991, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 1411/91 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn

- Bevollmächtigter Rechtsanwalt M.,

gegen den Beschluß des Bundessozialgerichts
vom 9 August 1991 - 2 BU 15/9 -
und Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs-
gerichts durch den Präsidenten H.
und die Richter G.,
S.

am 18 Dezember 1991 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht
zur Entscheidung angenommen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozeß-
kostenhilfe wird abgelehnt.

- 2 -

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sich der
Beschwerdeführer gegen die Ablehnung der Bewilligung von
Prozeßkostenhilfe wendet und soweit er hinsichtlich der Ver-
werfung der Nichtzulassungsbeschwerde die Verletzung des
Art. 11 GG rügt. Im übrigen bietet die Verfassungsbeschwerde
keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 93b Abs. 1 Satz 1
r. 2 BVerfGG ).

1. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verlangt
nach § 92 BVerfGG, daß der Beschwerdeführer innerhalb der
Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG die Möglichkeit einer Grund-
rechtsverletzung hinreichend deutlich darlegt (vgl. BVerfGE
81, 347 [355]). Dies ist hier hinsichtlich der Ablehnung der
Bewilligung von Prozeßkostenhilfe nicht der Fall. Es ist
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Gewährung
von Prozeßkostenhilfe davon abhängig gemacht wird, daß die
beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf
Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfGE 81,
347 [357]). Es ist aufgrund des Vorbringens des Beschwerde-
führers nicht erkennbar, daß das Bundessozialgericht bei der
ihm obliegenden Auslegung und Anwendung des § 114 Satz 1 ZPO
die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten
Rechtsverfolgung und damit den Zweck der Prozeßkostenhilfe,
dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht
zu ermöglichen, deutlich verfehlt haben könnte (vgl. BVerfGE
81, 347 [359]). Es ist dem Beschwerdeführer durch die Ableh-
nung der Bewilligung von Prozeßkostenhilfe auch nicht der
Zugang zu den Gerichten verwehrt worden, denn er hatte mit
dem Prozeßkostenhilfeantrag seine Nichtzulassungsbeschwerde
bereits eingelegt und begründet. Auch soweit der Beschwerde-
führer einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG hinsichtlich
der Ablehnung der Bewilligung von Prozeßkostenhilfe rügt,
fehlt es an einer ausreichenden Begründung der Verfassungsbe-
schwerde.

- 3 -

2. a) Soweit der Beschwerdeführer hinsichtlich der Verwer-
fung der Nichtzulassungsbeschwerde wegen der Nichtgewährung
der nach seiner Ansicht vorrangigen Sozialversicherungslei-
stungen vor den nur subsidiären Sozialhilfeleistungen eine
Verletzung des Art. 11 GG rügt, fehlt es ebenfalls an einer
hinreichenden Darlegung der Möglichkeit einer solchen Grund-
rechtsverletzung. Das Bundessozialgericht hat über den An-
spruch auf Pflegegeld aus der gesetzlichen Unfallversicherung
in der Sache nicht entschieden. Es hat vielmehr festgestellt,
daß der Beschwerdeführer die formalen Voraussetzungen der
§§ 160, 160 a SGG für eine zulässige Nichtzulassungsbeschwer-
de nicht erfüllt hat.

b) Soweit der Beschwerdeführer in der Verwerfung seiner
Nichtzulassungsbeschwerde eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1
GG sowie des "Grundsatzes des sozialen Rechtsstaates (Art. 20
GG )" erblickt, bietet die Verfassungsbeschwerde keine hinrei-
chende Aussicht auf Erfolg.

aa) Gegen den Vertretungszwang nach § 166 SGG bestehen
keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Bundesverfassungs-
gericht hat wiederholt ausgesprochen, daß die Anrufung der
Gerichte von der Erfüllung bestimmter formaler Voraussetzun-
gen abhängig gemacht werden darf, zu denen auch die ordnungs-
gemäße Vertretung durch einen zugelassenen Prozeßbevollmäch-
tigten gehören kann (vgl. BVerfGE 9, 194 [199 f.]; 10, 264
[267 f.]). Auch folgt aus dem Sozialstaatsprinzip bei dem
durch einen Rechtsanwalt vertretenen Beschwerdeführer hin-
sichtlich der Anwendung des § 166 SGG keine gesteigerte Für-
sorgepflicht. Es war von Verfassungs wegen nicht geboten, den
Beschwerdeführer auf die fehlende Erfüllung der formalen
Voraussetzungen für eine zulässige Nichtzulassungsbeschwerde
hinzuweisen, zumal aus Art. 103 Abs. 1 GG keine allgemeine
Frage- und Aufklärungspflicht in bezug auf die Rechtsansicht
des Gerichts folgt (vgl. BVerfGE 74, 1 [5]).

- 4 -

bb) Im übrigen kann das Bundesverfassungsgericht, da das
Bundessozialgericht lediglich anhand der §§ 160, 160 a SGG
über die Nichtzulassung der Revision wegen formaler Begrün-
dungsmängel entschieden hat, den Beschluß des Bundessozialge-
richts nur daraufhin überprüfen, ob das Revisionsgericht bei
der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Zulas-
sung der Revision, die den Fachgerichten obliegt, Verfas-
sungsrecht verletzt hat. Verfassungsrecht ist aber nicht
schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen
Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muß gera-
de in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen. Verfas-
sungsrecht ist nur dann verletzt, wenn Auslegungsfehler
sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere
vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer
materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von eini-
gem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 [92 f.]). Derartige
Fehler im Hinblick auf die vom Beschwerdeführer als verletzt
gerügten Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte enthält
der angegriffene Beschluß nicht.

Mit Art. 19 Abs. 4 GG ist es vereinbar, wenn das Bundesso-
zialgericht seine wesentliche Aufgabe in der Wahrung und
Fortentwicklung des Rechts sieht und daher die Zulassung der
Revision aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde von be-
stimmten formalen Voraussetzungen abhängig macht, wie von
Begründungs-, Darlegungs- und Bezeichnungserfordernissen
innerhalb der Begründungsfrist von zwei Monaten nach Zustel-
lung des Urteils gemäß § 160 a Abs 2 Satz 1 und 3 SGG . Da-
nach ist es nicht zu beanstanden, wenn das Bundessozialge-
richt feststellt, eine Abweichung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 2
SGG habe der Beschwerdeführer nicht schlüssig bezeich-
net, weil er die Entscheidung des Bundessozialgerichts, von
der das Urteil des Berufungsgerichts abgewichen sein solle,
nicht mit Datum und Aktenzeichen genau bezeichnet habe und
auch die Angabe fehle, mit welchem tragenden Rechtssatz der
angefochtenen Entscheidung das Landessozialgericht von wel-

- 5 -

cher genau bezeichneten tragenden rechtlichen Aussage einer
Entscheidung des Bundessozialgerichts abgewichen sein solle.

Es ist nachvollziehbar, daß es das Bundessozialgericht
nicht genügen läßt, wenn der Gegner des Beschwerdeführers im
Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren oder der Beschwerdeführer
selbst erst nach Ablauf der Begründungsfrist dasjenige Ur-
teil, von dem das Berufungsgericht abgewichen sein soll, mit
Datum und Aktenzeichen bezeichnet hat. Weiter ist es nach-
vollziehbar, wenn das Bundessozialgericht den Darlegungen des
Beschwerdeführers in seiner Nichtzulassungsbeschwerdeschrift
nicht die Angabe zu entnehmen vermochte, mit welchem tragen-
den Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung des Berufungs-
gerichts von welcher genau bezeichneten tragenden rechtlichen
Aussage einer Entscheidung des Bundessozialgerichts abgewi-
chen sein soll.

Von Verfassungs wegen ist es ferner nicht zu beanstanden,
wenn das Bundessozialgericht im Hinblick auf die Begründung
der Grundsätzlichkeit der Rechtssache im Sinne des § 160
Abs. 2 Nr. 1 SGG die Erläuterung verlangt, daß und warum in
dem angestrebten Revisionsverfahren eine Rechtssache erheb-
lich sein würde, die über den Einzelfall hinaus allgemein
Bedeutung habe, und wenn es vorliegend in der Begründung der
Nichtzulassungsbeschwerde sowohl die konkrete Formulierung
einer Rechtsfrage als auch die schlüssige Darlegung, warum
das angedeutete Rechtsproblem klärungsbedürftig sei, vermißt.

Schließlich ist es nachvollziehbar, daß das Bundessozialge-
richt davon ausgeht, der Beschwerdeführer habe in seiner Be-
gründung keinen Verfahrensmangel geltend gemacht, auf dem die
angefochtene Entscheidung beruhen könne. Wenn das Bundessozi-
algericht den "Grundsatz der Subsidiarität sozialhilferecht-
licher Leistungen" in durchaus naheliegender Weise als ein
materiell-rechtliches, nicht aber als ein verfahrensrechtli-
ches Problem wertet, so liegt darin auch keine Verletzung des
Art. 103 Abs. 1 GG , denn diese Norm verpflichtet das Gericht
nicht, der Rechtsansicht einer Partei zu folgen (vgl. BVerfGE
64, 1 [12]).

- 6 -

Da das Bundessozialgericht danach in verfassungsrechtlich
nicht zu beanstandender Weise zur Annahme der Unzulässigkeit
der Nichtzulassungsbeschwerde gelangt ist, hat es auch nicht
dadurch gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, daß es aus Grün-
den des formellen Rechts auf weiteres Vorbringen des Be-
schwerdeführers, insbesondere dazu, daß das Berufungsgericht
grundlegend fehlerhaft entschieden habe, nicht eingegangen
ist.

3. Da die Verfassungsbeschwerde teilweise unzulässig ist
und im übrigen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat,
ist der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe abzuleh-
nen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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BVerfG, 1 BvR 1301/86 vom 15.06.1988, Bundesverfassungsgericht
- 1 BvR 1301/86 -

Beschluß des Ersten Senats vom 15. Juni 1988
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau Z. - Bevoll-
mächtigter: Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Philipp, Viktoriastraße 12, Mann-
heim - gegen das Urteil des Bundessozialgerichts vorn 24. September 1986

- 8 RK 8/85 -

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

GRÜNDE:

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Entscheidung
des Bundessozialgerichts, mit der die Revision der Beschwerdefüh-
rerin gegen das Urteil eines Sozialgerichts zurückgewiesen wurde.

Dieses hat die Klage der Beschwerdeführerin gegen ihre gesetzliche
Krankenversicherung auf Unterlassung der Finanzierung von
„rechtswidrigen“ Abtreibungen als unzulässige Popularklage abge-
wiesen.

I.

Das nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Fe-
bruar 1975 (BVerfGE 39, 1 - Fristenregelung) verkündete Fünf-
zehnte Strafrechtsänderungsgesetz vom 18. Mai 1976 (BGBl. I
S. 1213) hat §218a StGB neu gefaßt. Danach ist ein mit Einwilli-
gung der Schwangeren durch einen Arzt vorgenornmener Abbruch
der Schwangerschaft nicht nach §218 StGB strafbar, wenn nach
ärztlichen Erkenntnissen eine medizinische, eine eugenische, eine
ethische oder eine soziale Indikation vorliegt.

Durch § 1 Nr. 2 des Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum
fünften Strafrechtsrefonngesetz (Strafrechtsreform-Ergänzungsge-
setz - StREG) vom 28. August 1975 (BGB1. I S. 2289) wurde in den
zweiten Abschnitt des Zweiten Buches der Reichsversicherungs-
ordnung ein neuer Unterabschnitt ,,IIIa. Sonstige Hilfen" einge-
fügt. Danach haben Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse
oder einer ihnen nach § 507 Abs. 4 RVO gleichgestellten Ersatzkas-
se bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der Schwangerschaft
Anspruch auf Krankenkassenleistungen. Für die Leistungsgewäh-
rung gelten grundsätzlich die für die Krankenhilfe maßgeblichen
Vorschriften. Im einzelnen lauten die Bestimmungen:

§ 200f RVO

Versicherte haben Anspruch auf Leistungen bei einer nicht rechtswid-
rigen Sterilisation und bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der
Schwangerschaft durch einen Arzt. Es werden ärztliche Beratung über
die Erhaltung und den Abbruch der Schwangerschaft, ärztliche Untersu-
chung und Begutachtung zur Feststellung der Voraussetzungen für eine
nicht rechtswidrige Sterilisation oder für einen nicht rechtswidrigen
Schwangerschaftsabbruch, ärztliche Behandlung, Versorgung mit Arz-
nei-, Verband- und Heilmitteln sowie Krankenhauspflege gewährt. An-
spruch auf Krankengeld besteht, wenn Versicherte wegen einer nicht
rechtswidrigen Sterilisation oder wegen eines nicht rechtswidrigen Ab-
bruchs der Schwangerschaft durch einen Arzt arbeitsunfähig werden, es
sei denn, es besteht Anspruch nach § 182 Abs. 1 Nr. 2.
§ 200 g RVO

Die für die Krankenhilfe geltenden Vorschriften gelten für die Lei-
stungsgewährung nach den §§200e und 200f entsprechend, soweit
nichts Abweichendes bestimmt ist. …

Der in §200f Satz 1 RVO verwendete Begriff des „nicht rechts-
widrigen“ Abbruchs der Schwangerschaft wird von der im sozial-
rechtlichen Schrifttum herrschenden Auffassung mit der in §218a
Abs. 1 Satz 1 StGB gebrauchten Formulierung „nicht strafbar“
gleichgesetzt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung,
Bd. I/2, S. 284 k, 285, 286; Peters, Handbuch der Krankenversiche-
rung, Teil II, Band 2, Anm. 4 zu §200f RVO; Schroeder-Printzen
in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Kommentar, 2. Aufl.,
Anm. 3 zu §200f RVO; Aye/Göbelsmann/Müller/Schieckel/
Schroeter, RVO-Gesamtkommentar, Anm. 5 zu §200 f, S. 248).

Dem folgend gewähren die gesetzlichen Krankenkassen ihren Mit-
gliedern bei nach § 218 a StGB nicht strafbaren Schwangerschafts-
abbrüchen die nach den Vorschriften über die Krankenhilfe vorge-
sehenen Leistungen.

II.

1. Nach §54 Abs. 5 SGG kann mit der Klage vor den Sozialge-
richten die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsan-
spruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungs-
akt nicht zu ergehen hatte.

Die Beschwerdeführerin erhob unter Berufung auf diese Vor-
chrift Klage beim Sozialgericht und beantragte:

1. die Beklagte zu verurteilen, solange sie Mitglied der Beklag-
ten ist, Leistungen nach §§ 200 f und 200 g RVO, § 17a Abs. 2
bis 4 der Versicherungsbedingungen der Beklagten an Versi-
cherte oder mitgeschützte Personen ausschließlich für solche
Schwangerschaftsabbrüche zu erbringen, die wegen nach-
weislichen Vorliegens der Indikation nach § 218 a Abs. 1 StGB
nicht rechtswidrig sind, und für jeden Fall der Zuwiderhand-
lung ein Ordnungsgeld anzudrohen, dessen Höhe in das Er-
messen des Gerichts gestellt wird,

2. hilfsweise, die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen,
solange die Klägerin Mitglied der Beklagten ist, für Schwan-
gerschaftsabbrüche Leistungen nach §§ 200f und 200g RVO, 4
§ 17 a Abs. 2 bis 4 der Versicherungsbedingungen der Beklag-
ten an Versicherte oder mitgeschützte Personen zu erbringen,
ohne daß sie

a) die Nichtrechtswidrigkeit,

b) hilfsweise die Nichtstrafbarkeit des Schwangerschaftsab-
bruches in angemessener Weise selbst überprüft hat, sowie für
jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld anzudro-
hen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird.

Das Sozialgericht war anfänglich der Auffassung, die Klage sei
nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig. Das Begehren der Beschwerdefüh-
rerin sei nicht auf die abstrakte Feststellung der Ungültigkeit einer
Norm, sondern darauf gerichtet, die beklagte Krankenkasse zu
verpflichten, konkretes Verwaltungshandeln einzustellen.

Das Gericht setzte das Verfahren aus und legte dem Bundesver-
fassungsgericht die Frage vor, ob die §§ 200 f, 200g RVO insoweit
mit Art. 2 Abs. 1, ferner mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3
Abs. 1 sowie mit Art.4 Abs. 1 GG vereinbar seien, als in diesen
Vorschriften Kassenleistungen für solche Schwangerschaftsabbrü-
che vorgeschrieben seien, die aus anderen Gründen als dem Vorlie-
gen einer lndikation nach § 218 a Abs. 1 StGB rechtmäßig seien.

Das Bundesverfassungsgericht sah die Vorlage als unzulässig an.

Grundsätzlich sei eine auf § 54 Abs. 5 SGG gestützte vorbeugende
Unterlassungsklage eines Mitglieds gegen seine gesetzliche Kran-
kenkasse statthaft. Die von der Beschwerdeführerin erhobene Kla-
ge sei jedoch als Popularklage unzulässig. §54 Abs. 5 SGG eröffne
nicht die Möglichkeit einer abstrakten Normenkontrolle. Hinsicht-
lich der Begründung der Entscheidung im einzelnen wird auf den
Beschluß des Ersten Senats vom 18.April 1984 - 1BvL 43/81 -
(BVerfGE 67, 26) verwiesen.

2. Auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
verfolgte die Beschwerdeführerin ihr Klagebegehren weiter.

Das Sozialgericht wies die Klage ab. Sie sei unzulässig, weil es der
Beschwerdeführerin an der erforderlichen Klagebefugnis fehle.

Diese könne nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-
gerichts zur Klagebefugnis von Zwangsmitgliedern öffentlich-
rechtlicher Verbände begründet werden; denn diese Rechtspre-
chung lasse sich nicht auf Zwangsmitgliedschaften im Bereich des
Sozialversicherungsrechts übertragen. Bei der Erfüllung staatlicher
Aufgaben durch die Träger der Sozialversicherung gehe es nicht um
die Interessenvertretung bestimmter Bevölkerungsgruppen, son-
dern um die Wahrnehmung von Gemeinwohlinteressen. Mitglieder
des Zwangsverbandes hätten keinen Anspruch auf Leistungen an
einen Dritten. Entsprechend gebe es keinen Rechtsanspruch eines
Mitglieds darauf, daß die Leistung gegenüber einem Dritten einge-
stellt werde. Die Kontrolle über die Mittelverwendung obliege den
Selbstverwaltungsorganen und den Aufsichtsbehörden.

Das Bundessozialgericht hat die Sprungrevision der Beschwerde-
führerin zurückgewiesen. Auch für die reine Leistungsklage nach
§54 Abs.5 SGG sei ein Rechtsschutzbedürfnis erforderlich. Die
Beschwerdeführerin sei durch die beanstandeten Leistungen der
Beklagten nicht in ihren eigenen Rechten verletzt, weil diese sich
nicht unmittelbar gegen ihren Rechtskreis richteten.

Auf Art. 2 Abs. 1 GG könne die Beschwerdeführerin ihr Verlan-
gen auf Einstellung der nach ihrer Ansicht rechtswidrigen Verwal-
tungspraxis der Beklagten nicht stützen. Wollte man jedem Mit-
glied wegen seiner versicherungsrechtlichen Zwangsmitgliedschaft
das Recht zugestehen, von ihm mißbilligte Leistungen an andere
Mitglieder gerichtlich überprüfen zu lassen, so würde dies zu einer
gesetzlich nicht vorgesehenen abstrakten Rechtskontrolle führen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Urteil des
Bundessozialgerichts. Die Beschwerdeführerin rügt Verletzung
von Art. 2 Abs. 1, von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1,
von Art.4 Abs. 1 und Art. 19 Abs.4 GG durch die angegriffene
Entscheidung, wobei sie nur Ausführungen zu Art. 2 Abs. 1 und
Art. 19 Abs. 4 GG macht und im übrigen auf den gesamten bisheri-
gen Vortrag, insbesondere auf die Revisionsbegründung nebst
nachfolgenden Schriftsätzen an das Bundessozialgericht verweist.

Sie trägt vor:

Während des ganzen Verfahrens habe sie die Auffassung vertre-
ten, daß §§ 200 f, 200 g RVO mit der Verfassung vereinbar seien, die
Beklagte diese Bestimmungen jedoch durch gesetzesüberschreiten-
des und rechtswidriges Verwaltungshandeln mißachte und sie da-
durch in ihren Rechten als Zwangsmitglied verletze. Nur hilfsweise
habe sie sich auf die Verfassungswidrigkeit der §§ 200 f, 200 g RVO
berufen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
18. April 1984 (BVerfGE 67, 27) beziehe sich daher nicht auf ihren
Antrag, die Beklagte des Ausgangsverfahrens möge sich auf die
Wahrnehmung der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben be-
schränken.

Sie habe ausschließlich vorgetragen und nachgewiesen, daß die
Beklagte das Tatbestandsmerkmal „nicht rechtswidrig“ in zehntau-
senden von Fällen vernachlässigt und auch mit ihren Beiträgen
rechtswidrige Schwangerschaftsabbrüche finanziert habe. Das
Bundessozialgericht habe ihren Anspruch nicht berücksichtigt, daß
die Beklagte nur die ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben erfüllen
dürfe. Dies habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Entschei-
dung als selbstverständlich vorausgesetzt. Gegenstand der Verfas-
sungsbeschwerde sei mithin keine Normenkontrolle, sondern die
Frage, ob ihr als Mitglied einer Zwangskörperschaft gegen allgemei-
nes gesetzwidriges Verwaltungshandeln des Vorstands der Rechts-
weg offenstehe, weil sie behaupte, in ihren eigenen Rechten ver-
letzt zu sein. Diese Rechtsfrage sei im übrigen weit über den Bereich
der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus von grundsätzlicher
verfassungsrechtlicher Bedeutung.

Die Krankenkassen seien unter Erweiterung ihres Arbeitsgebiets
zu „Abtreibungskassen“ geworden. Diese Ausdehnung des Aufga-
benbereichs einer Zwangskörperschaft stehe im Verhältnis zu den
Pflichtrnitgliedern einer Neugründung gleich. Für das Bundesver-
fassungsgericht sei nie zweifelhaft gewesen, daß der Bürger unter
Berufung auf Art.2 Abs. 1 GG seine Inpflichtnahrne durch eine
neue oder erweiterte Zwangskörperschaft mit Beitragsverpflich-
tung nachprüfen lassen könne. Aus der bisherigen Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts sei nicht zu schließen, daß der
Bürger sich selbst dann nicht auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen könne,
wenn die Ausweitung der Tätigkeit des Zwangsverbandes nicht
vom Gesetzgeber angeordnet worden sei. Sie habe daher nach
Art. 2 Abs. 1 GG das Recht, eine Nachprüfung des Verwaltungs-
handelns der Beklagten zu verlangen, sonst müßten sich die Mit-
glieder einer Zwangskörperschaft über ihre Beitragsleistungen an
rechtswidrigen oder sogar kriminellen Handlungen beteiligen, oh-
ne daß ihnen ein gerichtliches Verfahren zur Nachprüfung solcher
Übergriffe eröffnet sei. Das beitragszahlende Mitglied einer
Zwangskörperschaft stehe zu dieser in einem wesentlich engeren
Verhältnis als der Steuerzahler zum Staat, da die Zusammenfas-
sung von Bürgern zu einer Zwangskörperschaft nach ständiger
Rechtsprechung jeweils gesonderter und nachprüfbarer Legitima-
tion bedürfe.

Danach sei die Frage, ob sie durch die beanstandeten Leistun-
gen der Beklagten „in ihren eigenen Rechten“ verletzt sei, bei
der Begründetheit der Klage zu überprüfen. Das Bundessozialge-
richt verkenne, wie tief die Beschwerdeführerin sich durch die
Inanspruchnahme ihrer Person für Tötungshandlungen in ihren
Rechten betroffen fühle. Wenn es aus dem Hinweis des Bundes-
verfassungsgerichts, § 54 Abs. 5 SGG eröffne nicht die Möglich-
keit einer abstrakten Normenkontrolle, folgere, das einzelne Mit-
glied habe keine Möglichkeit, die rechtswidrige Ausgabenver-
wendung im Klagewege zu verhindern, stelle es die Fälle einer
zwar gesetzmäßigen, aber verfassungswidrigen Mittelverwen-
dung einerseits und einer schlechthin gesetzwidrigen Mittelver-
wendung durch den eigenmächtig handelnden Vorstand anderer-
seits gleich. Es sei unverständlich, wenn das Bundessozialgericht
feststelle, die Beschwerdeführerin habe nicht berücksichtigt, daß
das Bundesverwaltungsgericht Mitgliedern öffentlich-rechtlicher
Zwangsverbände ein Abwehrrecht nur gegen die Wahrnehmung
,,nicht legitimer Aufgaben" eingeräumt habe; gerade dies habe
sie vorgetragen. Offenbar sei das Bundessozialgericht der Auffas-
sung, die allgemein für Zwangskörperschaften bestehenden
Grundsätze sollten für Krankenkassen nicht gelten; eine solche
Differenzierung zwischen verschiedenen Zwangskörperschaften
sei jedoch sachlich nicht vertretbar.

Es gehe ihr nicht um einzelne Fehlentscheidungen, sondern um
die prinzipielle, eigenmächtige Erweiterung des Tätigkeitsbereichs
der Zwangskörperschaft durch Nichtbeachtung oder Falschausle-
gung von Rechtsvorschriften, welche in die Rechtssphäre der Mit-
glieder eingreife. Die erforderliche Abgrenzung dieser Fallgestal-
tungen habe das Bundessozialgericht nicht vorgenommen und den
klaren Vortrag der Beschwerdeführerin überhaupt nicht gewürdigt.

Der Hinweis des Gerichts, daß die Rechtskontrolle über eine rechts-
widrige Ausgabenverwendung allein den Selbstverwaltungsorga-
nen und Aufsichtsbehörden der Versicherungsträger obliege, sei
eine bloße Leerformel. In Wirklichkeit finde im Bereich des Lebens-
schutzes überhaupt keine Überwachung der Krankenkassen mehr
statt. Dies ergebe sich aus einem Schreiben des Bundesministers für
Arbeit und Sozialordnung, wonach dieser keine Befugnis habe,
Krankenkassen in dem von der Beschwerdeführerin gewünschten
Sinne anzuweisen. Im übrigen lehne die Bundesregierung generell
jede Überprüfung der gegenwärtigen Rechtspraxis der Kran-
kenkassen ab, wie sich aus der Beantwortung einer entsprechenden
parlamentarischen Anfrage ergebe.

Durch die Revisionsentscheidung des Bundessozialgerichts wer-
de ihr schließlich der Rechtsweg in verfassungswidriger Weise ab-
geschnitten (Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG).

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit unzulässig, als die Ver-
letzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 und von
Art. 4 Abs. 1 GG gerügt wird. Nimmt die Verfassungsbeschwerde-
schrift auf Ausführungen in der Revisionsbegründung und anderen
Schriftsätzen Bezug, ist den Formerfordernissen des § 92 BverfGG
nur genügt, wenn die Schriftsätze der Verfassungsbeschwerde als
Anlagen beigefügt werden (vgl. BVerfGE 47, 182 [187]). Das ist
hier nicht geschehen.

Im übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.

I.

1. Den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommt
wie denen anderer Gerichte Rechtskraftwirkung zu. Dabei bezieht
sich die materielle Rechtskraft allein auf die Entscheidungsformel,
nicht aber auf die in den Entscheidungsgründen enthaltenen Urteils-
elemente, wenngleich die Entscheidungsgründe zur Ermittlung des
Sinnes der Entscheidungsformel herangezogen werden können. Sie
bindet in einem späteren Verfahren das Gericht nur dann, wenn es
sich um denselben Streitgegenstand zwischen denselben Parteien
handelt (vgl. BVerfGE 4, 31 [38f.]).

Danach entfaltet der Beschluß vom 18. April 1984 (BVerfGE 67,
26) keine Rechtskraftwirkung im Hinblick auf die vorliegende Ver-
fassungsbeschwerde; denn der Streitgegenstand des Vorlageverfah-
rens ist nicht identisch mit dem Streitgegenstand der vorliegenden
Verfassungsbeschwerde. Das Vorlageverfahren betraf die Verfas-
sungsmäßigkeit der §§ 200 f, 200 g RVO; Streitgegenstand des Ver-
fassungsbeschwerdeverfahrens ist hingegen die behauptete Grund-
rechtsverletzung der Beschwerdeführerin durch das angegriffene
Urteil des Bundessozialgerichts. Die Beschwerdeführerin war auch
nicht „Beteiligte“ des Vorlageverfahrens. Im Verfahren der konkre-
ten Normenkontrolle haben die Beteiligten des Ausgangsverfahrens
zwar das Recht, sich zu äußern (§ 82 Abs. 3 BVerfGG); sie werden
dadurch aber nicht im engeren Sinne Beteiligte dieses Verfahrens
(vgl. BVerfGE. 42, 90 [91]; Ulsamer in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/
Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 82 Rdnr. 17 m. w. N.),

2. Eine Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG kommt-
abgesehen davon, daß diese nicht für das Bundesverfassungsgericht
selbst besteht (vgl. BVerfGE 4, 31 [38 f.]; 20, 56 [87]) - schon deshalb
nicht in Betracht, weil der die Vorlage verwerfende Beschluß keine
Sach-, sondern lediglich eine Prozeßentscheidung darstellt (vgl.
Maunz in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, a.a.O., §31,
Rdnr. 18). Die Bindungswirkung erstreckt sich nicht auf die zu
lnzidentfragen entwickelten Rechtsansichten, die das Bundesverfas-
sungsgericht zur Abweisung eines Antrages aus prozessualen Grün-
den bestimmt haben.

II.

§ 92 BVerfGG verlangt, daß in der Begründung der Beschwerde
das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlas-
sung des Organs oder der Behörde, durch die die Beschwerdeführe-
rin sich verletzt fühlt, bezeichnet werden. Zur Zulässigkeit einer
Verfassungsbeschwerde ist es danach erforderlich, daß sich aus dem
Vortrag der Beschwerdeführerin mit hinreichender Deutlichkeit
die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergibt (Vgl. BverfGE
65, 227 [232 f.]).

Die Beschwerdeführerin hat ausgeführt, das Urteil des Bundesso-
zialgerichts, mit dem die Entscheidung des Sozialgerichts über die
Unzulässigkeit ihrer Klage bestätigt wurde, verletze sie in ihren
Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG, weil sie als
Zwangsmitglied der Beklagten einen Anspruch auf gesetzmäßige
Verwendung ihrer Beiträge habe, für den ihr der Klageweg eröffnet
werden müsse. Damit ist den Anforderungen des §92 BverfGG
genügt.

C.

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die Beschwerde-
führerin hat keinen Anspruch aus Art. 2 Abs. 1 oder Art. 19 Abs. 4
GG, daß ihr Klagebegehren durch die Gerichte der Sozialgerichts-
barkeit materiell beschieden wird.

I.

Die Frage der verfassungsrechtlichen Schranken einer Zwangs-
rnitgliedschaft in einem öffentlich-rechtlichen Verband hat das Bun-
desverfassungsgericht am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG geprüft
und entschieden, daß eine solche Zwangsmitgliedschaft nur im
Rahmen der verfassungsmäßigen Crdnung möglich ist. Danach darf
der Staat öffentlich-rechtliche Verbände nur schaffen, um legitime
öffentliche Aufgaben wahrnehmen zu lassen (vgl. BVerfGE 10, 89
[102]; 10, 354 [363]; 38, 281 [299]). Diese Rechtsprechung bezieht
sich ausschließlich auf die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen
für die Errichtung von öffentlichen Verbänden mit Zwangsmitglied-
schaft und betrifft nicht die Einwirkungsmöglichkeit des Mitglieds
eines verfassungsmäßig errichteten Zwangsverbandes auf die Si-
cherung der legitimen Aufgabenerfüllung.

Die Beschwerdeführerin macht in diesem Zusammenhang gel-
tend, daß die Krankenkassen nach Einführung der §§200f, 200g
RVO ihr Arbeitsgebiet in einer Weise erweitert hätten, die einer
Neugründung gleichkomme. Mit dieser Argumentation will sie aus
der oben angegebenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts ableiten, daß das Sozialgericht über den gesetzlichen Umfang
der sozialversicherungsrechtlichen Leistungen bei Schwanger-
schaftsabbrüchen zu entscheiden hat. Dem kann nicht gefolgt wer-
den. Durch die Übertragung zusätzlicher Aufgabenbereiche auf
einen Zwangsverband wird die Verfassungsmäßigkeit seiner Er-
richtung und seines Bestandes nicht berührt, wenn es - wie hier -
bei der Erfüllung der ursprünglichen, verfassungsrechtlich unbe-
denklichen Aufgaben verbleibt und die neuen Aufgaben den Cha-
rakter des Zwangsverbands nicht wesentlich verändern.

II.

Allerdings können die Mitglieder öffentlich-rechtlicher Zwangs-
Verbände nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
von dem Verband die Einhaltung derjenigen Grenzen verlangen,
die seiner Tätigkeit durch die gesetzlich festgelegte Aufgabenstel-
lung gezogen sind. Das ergebe sich insbesondere aus Art. 2 Abs. 1
GG, der dem einzelnen Mitglied ein Abwehrrecht gegen solche
Eingriffe des Verbandes einräume, die sich nicht im Wirkungskreis
legitimer öffentlicher Aufgaben hielten oder bei deren Wahrneh-
mung nicht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprochen werde
(vgl. BVerwGE 59, 231).

Diese unter anderem für die Tätigkeit der verfaßten Studenten-
schaft entwickelte Rechtsprechung kann aber nicht ohne weiteres
auf alle anderen öffentlich-rechtlichen Zwangsverbände übertra-
gen werden. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Verbürgung
einer solchen Klagemöglichkeit des Mitglieds gegen den Zwangs
verband läßt sich nicht einheitlich beantworten. Wenn die Tätigkeit
des Verbandes über die Beitragspflicht hinaus in eigene Grundrech-
te des Mitglieds eingreift, liegt es nahe, eine solche Klagemöglich-
keit von Verfassungs wegen anzunehmen (vgl. BVerwG, a.a.O.).

Im vorliegenden Falle wird die Beschwerdeführerin dagegen ver-
fassungsrechtlich nur in ihrem Vermögen als Beitragspflichtige be-
troffen. Aus den Grundrechten folgt kein Anspruch auf generelle
Unterlassung einer bestimmten Verwendung öffentlicher Mittel
(vgl. BVerfGE 67, 26 [37]).

III.

Da sich eine Klagebefugnis der Beschwerdeführerin nicht aus der
Verfassung ergibt, ist hier die Auslegung und Anwendung des § 54
Abs. 5 SGG allein Sache der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit und
ist der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen.

(gez.) Herzog Niemeyer Henschel
Seidl Grimm Söllner
Dieterich

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Freitag, 8. Mai 2015
BVerfG, 1 BvR 1411/91 vom 09.08.1991, Bundesverfassungsgericht
382 E 86, 382,1 Nr. 17

Nr. 17

1. Droht einem Beschwerdeführer, der sich unmittelbar gegen ein Ge-
setz wendet, bei der Verweisung auf den Rechtsweg in der Hauptsache ein
schwerer Nachteil, kann er nach dem Grundsatz der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde gehalten sein, vor der Anrufung des Bundesver-
fassungsgerichts wenigstens den Rechtsweg im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes zu erschöpfen.

2. Hält ein Gericht eine für seine Entscheidung maßgebliche Gesetzes-
norm für verfassungswidrig, so ist es durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht
gehindert, vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren,
wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint
und die Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen wird.

Beschluß des Ersten Senats vom 24. Juni 1992 gemäß 524 BVerfGG

- 1 BvR 1028/91 -

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. des Herrn A... und

weiterer 98 Beschwerdeführer — Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Willi A.

Handorn, Klaus Wagner und Partner, Talstraße 27, Homburg/Saar — gegen

das Gesetz vom 23. September 1990 zu dem Vertrag vom 31. August 1990

zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokrati-
schen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungs-
vertragsgesetz — und der Vereinbarung vom 18. September 1990 (BGBl. II
S. 885), soweit darin den Regelungen des Vertrages, wonach Kiese und
Kiessande im Beitrittsgebiet als bergfreie Bodenschätze im Sinne des 53
Abs. 3 BBergG eingestuft werden, zugestimmt worden ist.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL:

Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.

GRÜNDE:

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Regelung des
Einigungsvertrages, daß Kiese und Kiessande im Beitrittsgebiet als
bergfreie Bodenschätze behandelt werden und damit — im Unter-
schied zu der Rechtslage, die nach dem Bundesberggesetz im alten
Bundesgebiet galt und weiterhin gilt — nicht im Eigentum des
Grundstückseigentümers stehen.

24. 6. 92 383

1. Das Bundesberggesetz — BBergG —— vom 13.August 1980
(BGBl.I S. 1310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.Februar
1990 (BGBl.I S.215), unterscheidet zwischen grundeigenen und
bergfreien Bodenschätzen. Grundeigene Bodenschätze stehen im
Eigentum des Grundeigentümers; auf bergfreie Bodenschätze er-
streckt sich das Eigentum an einem Grundstück nicht (53 Abs.2
BBergG). Sofern Bodenschätze weder bergfrei (5 3 Abs. 3 BBergG)
noch grundeigen (5 3 Abs. 4 BBergG) sind, stehen sie als sonstige
Grundeigentümerbodenschätze ebenfalls im Eigentum des Grund-
eigentümers. Jedoch findet das Bundesberggesetz‚ das auch Vor-
schriften über das Aufsuchen, Gewinnen und Aufbereiten grundei-
gener Bodenschätze enthält, darauf keine Anwendung.

Nach der im alten Bundesgebiet bestehenden Rechtslage gehören
Kiese und Kiessande zu den grundeigenen Bodenschätzen, soweit
sie untertägig aufgesucht oder gewonnen werden (5 3 Abs. 4 Nr. 2
BBergG), und, soweit dies nicht der Fall ist, zu den sonstigen Grund-
eigentümerbodenschätzen.

2. In der Deutschen Demokratischen Republik bestimmte 53
des Berggesetzes vom 12. Mai 1969 (GBl. I S. 29):

Mineralische Rohstoffe, deren Nutzung von volkswirtschaftlicher Be-
deutung ist, sind Bodenschätze und - unabhängig Vorn Grundeigentum -
Volkseigentum.

In der Verordnung über die Verleihung von Bergwerkseigentum
vom 15. August 1990 (GBl. I S. 1071) wurden als Bodenschätze im
Sinne von 5 3 des Berggesetzes die in der Anlage zu dieser Verord-
nung aufgeführten mineralischen Rohstoffe bestimmt. Nach
Nr. 9.23 der Anlage fielen darunter:

Kiese und Kiessande zur Herstellung von Betonzuschlagstoffen (Kies-
anteil größer 2mm: mehr als 10% geologische Vorratsmenge: größer
1,0 Mio t), einschließlich darin enthaltener Quarzkiese zur Herstellung
von Ferro-‚ Chemie- und Filterkies.

Durch 51 Abs. 1 dieser Verordnung wurde der Ministerrat oder
eine von ihm bestimmte Stelle ermächtigt, der Treuhandanstalt auf
Antrag für ein bestimmtes Feld und für bestimmte unter 53 des
384 E 86, 382, I Nr. 17
Berggesetzes fallende Bodenschätze Bergwerkseigentum zu verlei-
hen mit der Befugnis, es gegen Entgelt weiter zu übertragen.

3. Gemäß Art.8 des Einigungsvertrages und dessen Anlage I
Kapitel V Sachgebiet D Abschnitt III Nr. 1 (BGBl.II S. 1004f.) ist
das Bundesberggesetz im Beitrittsgebiet mit folgenden Maßgaben
in Kraft getreten:

a) Mineralische Rohstoffe im Sinne des 53 des Berggesetzes der
Deutschen Demokratischen Republik vom 12.Mai 1969 (GBl.I Nr.5
S. 29) und der zu dessen Durchführung erlassenen Vorschriften sind
bergfreie Bodenschätze im Sinne des 53 Abs. 3.

d) (1) Gewinnungsrechte an mineralischen Rohstoffen im Sinne des
5 3 des Berggesetzes der Deutschen Demokratischen Republik kann der
zur Ausübung Berechtigte innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach
dem Tage des Wirksamwerdens des Beitritts bei der für die Zulassung
von Betriebsplänen zuständigen Behörde zur Bestätigung anmelden. . ..

Die Bestätigung ist unter den in Absatz 2 dieser Regelung ge-
nannten Voraussetzungen zu erteilen. Ein bestätigtes Gewinnungs-
recht gilt, wenn das Gewinnungsrecht dem Antragsteller aufgrund
der Verordnung vom 15.August 1990 als Bergwerkseigentum
übertragen worden war, als Bergwerkseigentum im Sinne von
5151 BBergG (Absatz 4 Nr.2 i.V.m. Absatz 2 Nr. 1.2 der Rege-
lung).

II.

Mit der am 3.Juli 1991 erhobenen Verfassungsbeschwerde, der
sich weitere Beschwerdeführer am 20. August 1991 angeschlossen
haben, wenden sich die Beschwerdeführer gegen die genannte Re-
gelung des Einigungsvertrages‚ soweit danach Kiese und Kiessande
als bergfreie Bodenschätze im Sinne von 53 Abs. 3 BBergG einge-
stuft worden sind. Sie rügen eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1,
Art. 14 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 2 GG und tragen vor:

Sie seien Eigentümer oder Miteigentümer von Kiesgrundstücken,
die sich innerhalb zweier der insgesamt 1300 auf dem Gebiet der
ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik vorhandenen
Kieslagerstätten befänden. Durch die angegriffene Regelung sei
ihnen das Gewinnungsrecht am Kies auf ihren Grundstücken entzo-
gen. Die Treuhandanstalt habe von der Möglichkeit gemäß 51 der
Verordnung vom 15. August 1990 Gebrauch gemacht und sich an
sämtlichen Kies- und Kiessandgrundsstücken in den neuen Bundes-
ländern das Bergwerkseigentum verleihen lassen. Inzwischen habe
die Treuhandanstalt sämtliche Kiesbetriebe nach einzelnen Be-
triebsstätten ausgeschrieben und sei jetzt dabei, die Betriebsstätten
zur Ausbeutung zu vergeben. Einige Vergaben seien bereits erfolgt.

Sie seien durch die gesetzliche Regelung selbst, gegenwärtig und
unmittelbar betroffen. Außer der Verfassungsbeschwerde hätten
sie keine Möglichkeit, sich gegen die Verletzung ihrer Grundrechte
zu wehren. Die vorliegende Verfassungsbeschwerde sei auch von
großer allgemeiner Bedeutung. Die Ungewißheit über die rechtli-
che Zulässigkeit der Vergabe des Bergwerkseigentums durch die
Treuhandanstalt an Dritte stelle ein bedeutsames Hemmnis für den
wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern dar. Insge-
samt seien etwa 65 O00 Grundstückseigentümer betroffen. Im Falle
der Fortgeltung der jetzigen Regelung entstünde ihnen durch die
Vorenthaltung des Eigentums am Kies ein schwerer und unabwend-
barer Nachteil.

Für die ungleiche Behandlung der Grundstückseigentümer im
Osten und im Westen Deutschlands sei ein sachlicher Grund nicht
ersichtlich. Die Gründe, die nach dem Bundesberggesetz für die
Bergfreiheit bestimmter Bodenschätze in Betracht kämen (Siche-
rung der Rohstoffversorgung, Abwehr von Gefahren beim Abbau
der Bodenschätze), träfen auf den Abbau von Kies nicht zu.

Des weiteren sei Art. 14 Abs. 1 GG verletzt. Bei der Ausgestal-
tung des Eigentums sei der Gesetzgeber an die Tradition des Berg-
rechts gebunden. Er dürfe danach nur die volkswirtschaftlich be-
sonders wichtigen Bodenschätze vom Verfügungsrecht des Grund-
eigentümers ausschließen. Die angegriffene Regelung sei grob sach-
widrig und verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

386 E 86, 382,1 Nr. 17

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

I.

Die angegriffene Regelung kann in Verbindung mit dem Eini-
gungsvertragsgesetz Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde
sein (vgl. BVerfGE 84, 90 [113]). Die Beschwerdeführer haben
auch hinreichend dargelegt, daß sie von der Regelung selbst, gegen-
wärtig und unmittelbar betroffen sind. Insbesondere bewirkt die
angegriffene Regelung allein — ohne Hinzutreten eines weiteren
hoheitlichen Aktes (vgl. BVerfGE 79, 174 [187f.]) —, daß sich das
Grundstückseigentum nicht auf den in einem Grundstück liegenden
Kies erstreckt. Ob der Sachvortrag, mit dem die Beschwerdeführer
hre Betroffenheit schlüssig dargelegt haben, tatsächlich zutrifft,
wäre eine Frage der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
(vgl. BVerfGE 84, 90 [117]).

II. i

Der Zulässigkeit steht jedoch der Grundsatz der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde entgegen. Die Beschwerdeführer können
zwar vor den Fachgerichten nicht unmittelbar gegen die angegriffe-
ne Regelung Rechtsschutz erlangen. Sie können aber die Fachge-
richte zur Sicherung und Durchsetzung der Rechte in Anspruch
nehmen, die sie aus der Verfassungswidrigkeit der Regelung herlei-
ten. Zur Herbeiführung einer Verklärung der tatsächlichen und ein-
fachrechtlichen Lage sind sie gehalten, zunächst — zumindest vor-
läufigen — Rechtsschutz vor den Fachgerichten zu suchen.

1. Der in 5 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende
Grundsatz der Subsidiarität gewährleistet unter anderem, daß dem
Bundesverfassungsgericht in der Regel nicht nur die abstrakte
Rechtsfrage und der Sachvortrag des Beschwerdeführers unterbrei-
tet werden, sondern auch die Beurteilung der Sach- und_ Rechtslage
durch ein für diese Materie zuständiges Gericht (vgl. BVerfGE 69,
122 [125]; 74, 69 [74f.]). Der Verklärung durch die Fachgerichte
kommt inbesondere dort Bedeutung zu, wo die Beurteilung der mit
der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen die Prüfung tatsäch-
licher oder einfachrechtlicher Fragen Voraussetzt, für die das Ver-
fahren vor den Fachgerichten besser geeignet ist. Der Subsidiari-
tätsgrundsatz stellt sicher, daß dem Bundesverfassungsgericht in
solchen Fällen infolge der fachgerichtlichen Vorprüfung der Be-
schwerdepunkte ein bereits eingehend geprüftes Tatsachenmaterial
vorliegt und ihm auch die Fallanschauung und die Rechtsauffassung
der Fachgerichte vermittelt werden.

Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der mit der Verfas-
sungsbeschwerde erhobenen Rügen bedarf es hier der Klärung
sowohl tatsächlicher als auch einfachrechtlicher Fragen. So müßte
zunächst das Eigentum der Beschwerdeführer an den betroffenen
Grundstücken festgestellt werden. Des weiteren müßte geklärt
werden, ob das Kiesvorkommen an den Grundstücken, die im
Eigentum der Beschwerdeführer stehen, unter die angegriffene ge-
setzliche Regelung fällt. Schließlich könnte für die verfassungs-
rechtliche Beurteilung auch von Bedeutung sein, wie die Kiesaus-
beutung in der Deutschen Demokratischen Republik praktisch ge-
handhabt wurde, insbesondere auch, ob und in welchem Umfang
die Eigentümer in der Lage waren, in ihren Grundstücken lagern-
den Kies zu verwerten.

Solange die Treuhandanstalt das ihr verliehene — jedenfalls dem
Rechtsschein nach bestehende — Bergwerkseigentum noch nicht auf
Dritte übertragen hat, können die Beschwerdeführer vor den Fach-
gerichten geltend machen, daß die Verleihung des Bergwerkseigen-
tums auf einer verfassungswidrigen Norm beruhe und daß die Treu-
handanstalt deshalb keine Rechte daraus herleiten könne. Sofern
eine Weiterübertragung auf Dritte erfolgt ist, können sich die Be-
schwerdeführer gegen einen Kiesabbau auf ihren Grundstücken im
Zivilrechtsweg zur Wehr setzen. Diese Verfahren ermöglichen eine
Klärung der tatsächlichen und einfachrechtlichen Fragen. Sie bieten
auch nicht von vornherein so wenig Aussicht auf Erfolg, daß sie den
Beschwerdeführern unzumutbar wären. Insbesondere kann nicht
von vornherein davon ausgegangen werden, daß die Fachgerichte
im Falle der Übertragung des Bergwerkseigentums auf private Drit-
te - bei Annahme der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen
Regelung - jedenfalls die Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs
des Bergwerkseigentums durch die Vertragspartner der Treuhand-
anstalt bejahen würden.

2. Die Voraussetzungen für eine Entscheidung vor Erschöpfung
des Rechtswegs nach der - im Rahmen des Subsidiaritätsgrundsat-
zes sinngemäß anwendbaren - Vorschrift des 590 Abs. 2 Satz 2
BVerfGG sind nicht erfüllt.

a) Es kann dahingestellt bleiben, ob der Verfassungsbeschwerde
allgemeine Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift zukommt. Selbst
wenn diese unterstellt wird, würde sie nicht für sich allein eine
Vorabentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht gebieten.

Sie wäre vielmehr nur ein Moment bei der Abwägung für und wider
eine sofortige Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts
(vgl. BVerfGE 71, 305 [349] m.w.N.).

Bei dieser Abwägung wäre insbesondere auch zu bedenken, daß
eine Vorabentscheidung in der Regel dann nicht in Betracht kommt,
wenn entscheidungserhebliche Tatsachen noch nicht aufgeklärt
sind (vgl. BVerfGE 8, 222 [227] ; 13, 284 [289]). Gegen eine Vor-
abentscheidung kann ferner sprechen, daß die einfachrechtliche
Lage nicht hinreichend geklärt ist (vgl. BVerfG, Beschluß vom
25. März 1992 — 1 BvR 1859/91 —, NJW 1992, S. 1676 [1677])1. Das
ergibt sich aus dem Sinn des Subsidiaritätsgrundsatzes. Dieser dient
auch einer sachgerechten Aufgabenverteilung zwischen dem Bun-
desverfassungsgericht und den Fachgerichten (vgl. BVerfGE 55,
244 [247]; 77, 381 [401] m.w.N.). Danach obliegt es vorrangig den
Fachgerichten, einfachrechtliche Vorschriften auszulegen und die
zur Anwendung der Vorschriften erforderlichen Ermittlungen so-
wie die Würdigung des Sachverhalts vorzunehmen. Das Interesse
an der fachgerichtlichen Verklärung wiegt hier so schwer, daß das
allgemeine Interesse an einer sofortigen Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts zurücktreten muß.

b) Eine Vorabentscheidung ist auch nicht wegen eines den Be-
schwerdeführern drohenden schweren und unabwendbaren Nach-
teils geboten.

Die Verweisung auf den Rechtsweg könnte sich insofern für die
1 Nr. 2 S. 15, 22f.

24. 6. 92 389

Beschwerdeführer nachteilig auswirken, als nicht auszuschließen
ist, daß während des fachgerichtlichen Verfahrens, das möglicher-
weise längere Zeit in Anspruch nimmt, das Kiesvorkommen auf
ihren Grundstücken ausgebeutet wird. Es ist nicht sicher abzuse-
hen, daß sie nach der einfachrechtlichen Lage dafür einen Ausgleich
erlangen könnten, wenn die angegriffene Regelung für verfassungs-
widrig erklärt würde. Ebenso ist nicht vorherzusehen, 0b und mit
welchem Inhalt der Gesetzgeber, falls die Regelung für verfassungs-
widrig erklärt wird, nachträglich einen Ausgleich schaffen würde.

Die Beschwerdeführer können jedoch im fachgerichtlichen Ver-
fahren gegen die Inanspruchnahme ihrer Grundstücke für den Kies-
abbau vorläufigen Rechtsschutz beantragen. An der Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes wären die Fachgerichte für den Fall,
daß sie die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erachten,
nicht dadurch gehindert, daß sie über die Frage der Verfassungswi-
drigkeit nicht selbst entscheiden könnten, sondern insoweit die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1
GG einholen müßten. Das dem Bundesverfassungsgericht vorbe-
haltene Verwerfungsmonopol hat zwar zur Folge, daß ein Gericht
Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrig-
keit eines formellen Gesetzes — jedenfalls im Hauptsacheverfah-
ren— erst nach deren Feststellung durch das Bundesverfassungsge-
richt ziehen darf (vgl. BVerfGE 79, 256 [266]). Die Fachgerichte
sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der
im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vor-
läufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umstän-
den des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten
erscheint und die Hautsacheentscheidung dadurch nicht vorwegge—
nommen wird. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes würde
den Eintritt von Nachteilen während der Durchführung des Haupt-
sacheverfahrens verhindern. Selbst wenn den Beschwerdeführern
vorläufiger Rechtsschutz versagt werden sollte, wäre dieses Verfah-
ren jedenfalls bereits zur Verklärung der offenen tatsächlichen und
einfachrechtlichen Fragen geeignet.

Auch insoweit überwiegt bei der zu treffenden Abwägung das

390 E 86, 390, II N11 13

Interesse an der fachgerichtlichen Verklärung das Interesse der
Beschwerdeführer an einer sofortigen Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts jedenfalls so lange, als die Beschwerdeführer
noch nicht einmal vorläufigen Rechtsschutz im fachgerichtlichen
Verfahren begehrt haben. Ob darüber hinaus, wenn das Begehren
auf vorläufigen Rechtsschutz erfolglos bleiben sollte, auch noch der
Rechtsweg in der Hauptsache erschöpft werden muß, hängt von
dem Ergebnis des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes und
der bis dahin im übrigen eingetretenen weiteren Entwicklung ab.

(gez.) Herzog Henschel Seidl
Grimm Söllner Dieterich
Kühling Seibert

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