Ausgewählte Rechtsprechung und Rechtsentwicklung
Samstag, 9. Mai 2015
BGH, VIII 298/83 vom 30.05.1984, Bundesgerichtshof
BUNDESGERICHTSHOF

VIII ZR 298/83

BESCHLUSS

in dem Rechtsstreit

der Firma S. G.. de B. S.A., Aktiengesellschaft
belgischen Rechts, , M. du P., B., vertreten durch
ihren Vorstand, Albert C., Rene L., Yves B., Comte Eric
de V. de C, ebenda, diese vertreten durch die
B. Bank, Niederlassung K., der S. G. de
B. S.A,, Z.straße in K, vertreten durch
die Geschäftsleitunq, Dr. Jürgen D., Georges N.,

Kägerin und Revisionsklägerin

Prozeßbevollmächtiqter: Rechtsanwalt Dr.

den Kaufmann Mohammed Reza M.-Z., Inhaber der Handels-
firma M. Bros., G. B. in H. ,

Beklagten und Revisionsbeklagten,

Prozeßbevollmächtigte Rechtsanwälte Dr. und ,
IT. Instanz: in

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Der VIII Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den
Vorsitzenden Richter B. und die Richter T., Dr. Z.,
Dr. P. und G.

am 30. Mai l984

beschlossen:

Der Antrag des Beklagten, ihm unter Beiordnung
seiner zweitinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten
Prozeßkostenhilfe für das beabsichtigte Verfahren
zur Bewilligung der Prozeßkostenhilfe zu gewähren,
wird zurückgewiesen.

Gründe:

I. Der Beklagte und Revisionsbeklagte beantragt, ihm Pro-
zeßkostenhilfe für das Verfahren zur Bewilligung von Prozeßko-
stenhilfe für das Revisionsverfahren zu gewähren und ihm dafür
seine zweitinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten beizuordnen.
Nach Bewilligung beabsichtigt er, Prozeßkostenhilfe für seine
Rechtsverteidigung in der Revisionsinstanz und für eine unsel-
bständige Anschlußrevision zu beantragen.

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II. 1. Unter der Geltung des Armenrechts und auch nach
Einführung der Prozeßkostenhilfe war und ist in Rechtsprechung
und Literatur umstritten, ob im Prozeßkostenhilfe- (bzw. im
Armenrechts-) Bewilligungsverfahren Prozeßkostenhilfe (bzw.
Armenrecht) gewährt werden kann (vgl. ablehnend: OLG Schleswig
SchlHA 1978, 75; OLG Hamburg FamRZ 1978, 936; OLG Bremen JurBüro
1979, 447; OLG Karlsruhe AnwBl 1980, 198; OLG Düsseldorf JurBüro
1981, 773; OLG Nürnberg NJW 1982, 288; OLG Hamm FamRZ 1982, 623;
KG FamRZ 1982, 831; Schneider MDR 1981, 793; Pentz NJW 1982,
1269; Thomas/Putzo, ZPO, 12. Aufl. § 114 Anm. 1; Wieczorek,
ZPO, 2. Aufl. § 114 Rdn. A II; Zöller/Schneider, ZPO,
13. Aufl. Anm. I 1 b; ders. Vorbem. § 114 Anm. III;
bejahend: OLG Köln OLGZ 1969, 33, 35; OLG Celle Nds Rpfl 1977,
190; OLG Köln MDR 1980, 407; OLG Hamm NJW 1982, 287; Baumbach/
Lauterbach/Hartmann, ZPO, 41. Aufl. § 114 Anm. 2 B i, § 119
Anm. 1 C e; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl. § 118 a
Rdn. 14). Der Bundesgerichtshof hat diese Streitfrage bisher
nicht entschieden; er hat sie in seinem Beschluß vom 28. Janu-
ar 1956 - IV ZR 225/55 (*= LM ZPO § 119 Nr. 3) ausdrücklich
offen gelassen.

2. Der überwiegenden Auffassung, nach der für das Pro-
zeßkostenhilfeverfahren grundsätzlich keine Prozeßkostenhilfe
gewährt werden kann, ist zuzustimmen. Das Gesetz sieht Prozeß-
kostenhilfe für das Bewilligungsverfahren nicht vor (so auch OLG
Schleswig SchlHA 1978, 75, 76; OLG Bremen JurBüro 1979, 447; OLG

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Düsseldorf JurBüro 1981, 773, 774; OLG Nürnberg, NJW 1982, 288;
OLG Hamm FamRZ 1982, 623). Nach § 114 ZPO kann Prozeßkostenhilfe
für die "Prozeßführung" gewährt werden. Hierunter ist das ei-
gentliche Streitverfahren zu verstehen, nicht aber das Prozeß-
kostenhilfeprüfungsverfahren, in welchem lediglich über die Ge-
währung staatlicher Hilfe für den Antragsteller zu befinden ist
(vgl. OLG Hamm FamRZ 1982, 623). Dagegen weisen diejenigen, die
Prozeßkostenhilfe für das Prüfungsverfahren befürworten, darauf
hin, im Prozeßkostenhilfeverfahren werde zwar unmittelbar über
staatliche Fürsorgeleistungen entschieden, gleichzeitig erfolge
jedoch eine vorläufige rechtliche Prüfung durch den Richter, in
deren Rahmen die Beteiligten ihre Rechte verfolgten. Das Be-
willigungsverfahren sei deshalb dem streitigen Prozeßverfahren
eng verwandt (OLG Köln OLGZ 1969, 33, 35, 36; vgl. auch OLG
Köln MDR 1980, 407).

Einer solchen ausdehnenden Auslegung bedarf es nach Sinn
und Zweck der Vorschriften über die Prozeßkostenhilfe jedoch
nicht. Der armen Partei soll ermöglicht werden, ihr Recht vor
Gericht zu verfolgen oder sich in einem Rechtsstreit zu vertei-
digen. Die Partei wird nicht dadurch benachteiligt, daß ihr für
das Bewilligungsverfahren keine Prozeßkostenhilfe gewährt, ins-
besondere kein Rechtsanwalt beigeordnet wird. Bedarf der Antrag-
steller, bevor er einen Antrag auf Prozeßkostenhilfe stellt, der
Beratung über die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung, so findet das Beratungshilfegesetz Anwen-

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dung, das unter den Voraussetzungen des § 1 Rechtsberatung durch
Anwalt oder Gericht außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens er-
möglicht (vgl. OLG Nürnberg NJW 1982, 288; Schneider MDR 1981,
793, 794; Zöller/Schneider, ZPO, 13. Aufl. § 119 Anm. I 1 b
und Vorbem.§ 114 Anm. III; für die Anwendbarkeit des Bera-
tungshilfegesetzes zugunsten des Antrags g e g n e r s, weil
für diesen das Prozeßkostenhilfeverfahren kein gerichtliches
Verfahren sei, Pentz NJW 1982, 1269, 1270; a.A. auch für den
Antragsgegner: OLG Hamm NJW 1982, 287). Ziel des Beratungshilfe-
gesetzes ist es, sicherzustellen, daß die rechtliche Betreuung
finanziell hilfsbedürftiger Bürger auch im vor- und außerge-
richtlichen Bereich gewährleistet ist (vgl. Gesetzentwurf der
Bundesregierung und Stellungnahme des Bundesrates in BR-Drucks.
404/79, Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
(6. Ausschuß) in BT-Drucks. 8/3695). Hierzu gehört die Be-
ratung der armen Partei über ein beabsichtigtes Prozeßkosten-
hilfeverfahren, insbesondere die für die Bewilligung der Prozeß-
kostenhilfe maßgeblichen Erfolgsaussichten der vorgesehenen
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, die im vorliegenden
Falle vom Gericht zwar nicht hinsichtlich der Rechtsverteidigung
des Beklagten als Rechtsmittelgegner (vgl. § 119 Satz 2 ZPO),
wohl aber hinsichtlich der beabsichtigten Anschlußrevision zu
prüfen wären. Auch für eine solche Beratung im Vorfeld des
Prozeßkostenhilfeverfahrens muß die staatliche Betreuung der
armen Partei gewährleistet sein. Denn der zweitinstanzliche
Prozeßbevollmächtigte würde - wie jeder neu eingeschaltete

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Rechtsanwalt - für diese Tätigkeit eine besondere Auskunfts-
gebühr nach § 20 BRA- GebO erhalten (Riedel/Sußbauer/Fraunholz,
BRAGebO, 3. Aufl. § 20 Rdn. 16).

Der Antrag auf Bewilligung der Prozeßkostenhilfe als sol-
cher kann sodann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt
werden (§ 117 Abs. 1 ZPO); Anwaltszwang besteht nach § 78
Abs. 2 ZPO auch in der Revisionsinstanz nicht. Dabei ist der
Urkundsbeamte verpflichtet, den Antragsteller über die Antrags-
erfordernisse des § 117 ZPO sachgemäß zu beraten (Baumbach/
Lauterbach/Hartmann, ZPO, 42. Aufl. § 117 Anm. 2 B).

Der armen Partei, der für das Bewilligungsverfahren Pro-
zeßkostenhilfe nicht gewährt wird, entstehen auch keine Kosten-
nachteile. Das Prozeßkostenhilfeprüfungsverfahren ist gerichts-
gebührenfrei (Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 42. Aufl.
§ 118 Anm. 5 A; Thomas/Putzo, ZPO, 12. Aufl. § 118
Anm. 3 a). Dem Gegner werden außergerichtliche Kosten, die ihm
im Bewilligungsverfahren entstehen, nicht erstattet (§ 118
Abs. 1 Satz 4 ZPO). Auch für etwaige Auslagen nach § 118
Abs. 1 Satz 5 ZPO muß der Antragsteller keinen Vorschuß lei-
sten. Sie werden zunächst von der Staatskasse getragen und nach
Abschluß des Rechtsstreits der unterlegenen Partei als Gerichts-
kosten auferlegt (Baumbach/Lauterbach/Hartmann aaO; Thomas/Putzo
aaO).

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3. Da die Rechtsberatung der armen Partei durch das Be-
ratungshilfegesetz gewährleistet ist und der Urkundsbeamte der
Geschäftsstelle für einen vollständigen und sachgemäßen Antrag
der Partei sorgen muß, ist die Chancengleichheit der armen Par-
tei im Vergleich zu finanziell gut gestellten Rechtssuchenden
gewahrt. Die restriktive Auslegung des Begriffes "Prozeßführung"
in § 114 ZPO verstößt daher nicht gegen den Gleichheitssatz des
Art. 3 Abs. 1 GG (so auch OLG Bremen JurBüro 1979, 447). Auch
ist dem Erfordernis des Art. 103 Abs. 1 GG (rechtliches Gehör)
Rechnung getragen (so auch OLG Nürnberg NJW 1982, 288). Denn das
Grundgesetz verlangt nicht, daß das rechtliche Gehör gerade
durch Vermittlung eines Anwalts wahrgenommen wird (BVerfG NJW
1971, 2302).

4. Das Oberlandesgericht Hamm hat in seinem Beschluß vom
10. November 1981 dem Antragsgegner für das Prozeßkostenhilfe-
verfahren Prozeßkostenhilfe mit der Begründung gewährt, die Neu-
fassung des § 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO nötige unter den Voraus-
setzungen des § 114 ZPO zur Bewilligung der Prozeßkostenhilfe
und Beiordnung eines Rechtsanwalts, weil danach das Interesse
einer Partei an anwaltlicher Vertretung immer dann beachtlich
sei, wenn auch die andere Partei durch einen Rechtsanwalt ver-
treten sei (NJW 1982, 287, 288). Dem kann nicht gefolgt werden.
Denn § 121 ZPO regelt lediglich, ob der Partei, der Prozeß-
kostenhilfe bewilligt worden ist, auch ein Rechtsanwalt beige-
ordnet werden muß. Dieser Vorschrift kann umgekehrt aber nicht

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entnommen werden, daß dem - armen - Gegner einer anwaltlich ver-
tretenen Partei immer Prozeßkostenhilfe bewilligt und ein Anwalt
beigeordnet werden muß.

5. Da die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozeß-
kostenhilfe nach alledem nicht vorliegen, kann offen bleiben, ob
der gestellte Antrag nicht schon deshalb zurückgewiesen werden
müßte, weil dem Beklagten im Falle der Bewilligung der nach-
gesuchten Prozeßkostenhilfe seine zweitinstanzlichen Prozeßbe-
vollmächtigten nach § 121 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht beigeordnet
werden könnten. Hierdurch entstünden nämlich zusätzliche Kosten.
Das Prozeßkostenhilfeverfahren zählt zum Gebührenrechtszug des
Verfahrens, auf das es sich bezieht (Riedel/Sußbauer/Keller,
BRAGebO, 3. Aufl. § 51 Rdn. 13), hier also zur Revisionsin-
stanz. Das bedeutet, daß die im Prozeßkostenhilfeverfahren ver-
dienten Gebühren auf die im Rechtsstreit entstehenden ange-
rechnet werden (Riedel/Sußbauer/Keller aaO). Die Vertretung der
Partei im Prozeßkostenhilfeverfahren durch einen beim Revisions-
gericht nicht zugelassenen Rechtsanwalt würde daher die Anrech-
nung verhindern. Dieses Ergebnis soll durch § 121 Abs. 2 Satz 2
ZPO ausgeschlossen werden. Ohne die Beiordnung seiner zweitin-
stanzlichen Prozeßbevollmächtigten hätte die Bewilligung von
Prozeßkostenhilfe für das Prozeßkostenhilfeverfahren für den
Beklagten indessen kein erkennbares Interesse.

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6. Ob über die Frage der Gewährung von Prozeßkostenhilfe
für das Bewilligungsverfahren anders zu entscheiden wäre, wenn
im Rahmen des Prozeßkostenhilfeverfahrens ein Vergleich ge-
schlossen werden soll (vgl. hierzu OLG Schleswig SchlHA 1978,
75, 76; Pentz NJW 1982, 1269, 1270), kann hier dahinstehen, da
ein solcher Fall nicht vorliegt.

B. T. Dr. Z.
Dr. P. G.

Nachschlagewerke: ja
BGHZ: ja

ZPO §§ 114, 121 Abs. 2 Satz 2

Für das Prozeßkostenhilfeverfahren kann Prozeßkostenhilfe nicht
gewährt werden.

BGH, Beschl. v. 30. Mai 1984 - VIII ZR 298/83 - OLG Hamburg
LG Hamburg

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BGH, IVA ZR 318/86 vom 03.06.1987, Bundesgerichtshof
BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS

IVa ZR 318/86

in dem Rechtstreit

des Handelsvertreter Joachim N. , W. Straße 61,

Klägers und Revisionsklägers,

- Prozeßbevollmächtigter Rechtsanwalt Dr. -

gegen

die S. Lebenversicherungs- und Rentenanstalt,

Versicherungsgenossenschaft auf Gegenseitigkeit, vertreten

durch den Hauptbevollmächtigten Dipl. Math. Günther H.,

L. straße 8-10, ,M. ,

Beklagte und Revisionsbeklagte,

- Prozeßbevollmächtigten Rechtsanwälte Dr. und

II. Instanz: Partner, S. Ring 18, H. -

- 2 -

er IVa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den

Vorsitzenden Richter Dr. H. und die Richter R.,

D., Dr. S. und Dr. R.

am 3. Juni 1987

beschlossen

Der Antrag des Klägers auf Prozeßkostenhilfe
wird abgelehnt.

Gründe

Der Kläger ist rechtsschutzversichert; sein Versicherer
verweigert die Deckung der Revisionskosten lediglich deshalb,
weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine Aussicht auf
Erfolg biete. In einem solchen Fall kann Prozeßkostenhilfe
nicht gewährt werden. Sollte der Rechtsschutzversicherer die
Prozeßaussichten zutreffend beurteilt haben, so wäre nach
§ 114 Satz 1 ZPO auch die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe
ausgeschlossen. Falls aber der Versicherer die Erfolgsaus-
sicht zu Unrecht verneint haben sollte, kann vom Antragstel-
ler erwartet werden, daß er seinen Prozeßbevollmächtigten

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mit einem Stichentscheid nach § 17 Abs. 2 ARB beauftragt. Ei-
ne finanzielle Belastung ist für ihn damit nicht verbunden,
da die Kosten des Stichentscheids auch dann zu Lasten des
Rechtsschutzversicherers gehen, wenn der Anwalt dem Rechts-
mittel keine Erfolgschancen zubilligen sollte.

Dr. H. D.

Nachschlagewerk: ja

BGHZ: nein

ZPO § 114

Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen einer Partei
Prozeßkostenhilfe gewährt werden kann, wenn ihr Rechts-
schutzversicherer die Kostendeckung wegen mangelnder Er-
folgsaussicht ablehnt.

BGH, Beschl.v. 3. Juni l987 - IVa ZR 318/86 -

- 1 -

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS

IVa ZR 318/86

in dem Rechtstreit

des Handelsvertreter Joachim N. , W. Straße 61,

Klägers und Revisionsklägers,

- Prozeßbevollmächtigte Rechtsanwältin als Ab-

wicklerin der Kanzlei des ver-
storbenen Rechstanwalts

Dr. -

gegen

die S. Lebenversicherungs- und Rentenanstalt,

Versicherungsgenossenschaft auf Gegenseitigkeit, vertreten
durch den Hauptbevollmächtigten Dipl. Math. Günther H.,
L. straße 8-10, ,M. ,

Beklagte und Revisionsbeklagte,

- Prozeßbevollmächtigten Rechtsanwälte Dr.

- 2 -

Der IVa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den
Vorsitzenden Richter Dr. H. und die Richter R.,
, Dr. L. , D. und Dr. Z.

am 13. Januar 1988

beschlossen

Die Revision des Klägers gegen das Urteil

des 20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts

in Hamm vom 5. Dezember 1986 wird nicht

angenommen.

Der Kläger trägt die Kosten der Revision.

Gründe

Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die
Revision verspricht keine Erfolg.

Der Senat versteht die rechtsfehlerfreien tatsäch-
lichen Feststellungen des Berufungsgerichts dahin, daß
beim Kläger bereits im Mai 1984 ein Zustand vorlag, der
bei rückschauender Betrachtung eine Wiederherstellung
einer (zumindest halben) Arbeitskraft innerhalb abseh-

- 3 -

barer Zeit nach de Stand der Wissenschaft nicht mehr zu-
ließ. Infolgedessen kommt es auf die im Berufungsurteil
erörterte Frage, ob die Bedingungen der Beklagten eine
Prognose darüber verlangen, für welchen Zeitraum der Ver-
sicherte voraussichtlich krankheitsbedingt an der Aus-
übung seines Berufs gehindert ist, nicht an.

Dr. H. R. Dr. L.

D. Dr. Z.

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BGH, IV ZR 214/88 vom 17.01.1990, Bundesgerichtshof
BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

IV ZR 214/88 URTEIL

verkündet am:

17. Januar 1990

Keller

Justizassistentin

als Urkundsbeamter

der Geschäftsstelle



in dem Rechtsstreit

der C ge-
setzlich vertreten durch den Vorstand, K. -Allee

H

Beklagten und Revisionsklägerin,

— Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt

gegen

Herrn Theo K , Alte H. , N

Kläger und Revisionsbeklagten,

- Prozeßbevollmächtigter Rechtsanwalt als Ab-
wickler für die Kanzlei

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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch
den Vorsitzenden Richter B. und die Richter D.,
Dr. S., Dr. Z. und Dr. R. auf die münd-
liche Verhandlung vom 17. Januar 1990
für Recht erkannt:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil
des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts
Celle vom 15. Juni 1988 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisions-
verfahrens.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Die Parteien streiten darum, ob die Beklagte dem Kläger
vertraglichen Rechtsschutz in einem gegen die Muttergesell-
schaft der Beklagten geführten Prozeß auch für die Beru-
fungsinstanz zu gewähren hat. Sie gehen übereinstimmend da-
von aus, daß dem zwischen ihnen bestehenden Versicherungs-
verhältnis die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz-
versicherung (ARB) zugrunde liegen. Für den ersten Rechtszug
des gegen den Unfallversicherer des Klägers geführten Pro-
zesses hatte die Beklagte Rechtsschutz gewährt. Die Klage
ist abgewiesen worden. Mit ihrer Ablehnung, auch für das Be-
rufungsverfahren eine Kostenzusage zu geben, stellte es die
Beklagte dem Kläger anheim, einen für beide Teile verbindli-

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chen Stichentscheid eines Rechtsanwaltes seines Vertrauens
gemäß § 17 Abs. 2 ARB herbeizuführen. Nach Erhalt eines die
Erfolgsaussicht der Berufung bejahenden Schreibens des Beru-
fungsanwaltes des Klägers vom 5. Februar 1987 und erneut
nach Erhalt einer Kopie der Berufungsbegründung vom 11. Fe-
bruar 1987 blieb die Beklagte jeweils bei ihrer Ablehnung,
die erbetene Kostenzusage zu geben. Nach ihrer Ansicht liegt
ein wirksamer, sie bindender Stichentscheid im Sinne des
§ 17 Abs. 2 ARB nicht vor.

Zu dem Prozeß gegen den Unfallversicherer des Klägers
ist es gekommen, weil der Kläger nach der Teilnahme an einer
Wanderung am Himmelfahrtstage 1985, auf der an drei ver-
schiedenen Rastplätzen Bier getrunken worden war, auf der
Heimfahrt als Beifahrer auf dem Soziussitz des von Oliver
G , einem Mitglied der Wandergruppe, geführten Mo-
torrades verunglückte. Zur Unfallzeit betrug die Blutalko-
holkonzentration bei dem Fahrer 1,54 und bei dem Kläger
2,87 g ‰. Klage und Berufung des Klägers sind ab- bzw.
zurückgewiesen worden mit der Begründung, der Kläger habe
seinen Unfall durch eine alkoholbedingte Bewußtseinsstörung
verursacht.

Im anhängigen Verfahren ist dem Klagebegehren auf Ge-
währung von Rechtsschutz in den beiden Vorinstanzen stattge-
geben worden. Mit ihrer - zugelassenen — Revision verfolgt
die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiter.

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Entscheidungsgründe:

Das Berufungsgericht hat das Schreiben des Rechtsanwal-
A vom 5. Februar 1987 als eine beide Parteien
bindende Stellungnahme im Sinne des § 17 Abs. 2 ARB gewer-
tet. Die Ausführungen, die das Berufungsgericht zu den An-
forderungen gemacht hat, denen eine derartige Stellungnahme
formell und inhaltlich entsprechen muß, treffen zu.

1.a) Dem Rechtsanwalt, der gemäß § 17 Abs. 2 ARB tätig
wird, obliegt in der Funktion eines Schiedsgutachters die
Aufgabe, die "Notwendigkeit" der Interessenwahrnehmung von
Seiten des Versicherungsnehmers dem Streit der (Vertrags-)
Parteien zu entziehen (Harbauer, Rechtsschutzversicherung
3. Aufl. § 17 Rdn. 14). Gemäß § 1 Abs. 1 ARB ist die Inter-
essenwahrnehmung notwendig nur, "wenn sie hinreichende Aus-
sicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint." Mit
dieser wortgetreuen Übernahme der sachlichen Voraussetzungen
für die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe, die folgerichtig
in § 17 Abs. 2 ARB wiederholt wird, haben die Rechtsschutz-
versicherer klargestellt, daß die Notwendigkeit der Wahrneh-
mung rechtlicher Interessen im Rahmen einer Rechtsschutzver-
sicherung nur und erst dann zu bejahen ist, wenn bei dem ge-
gebenen Sachverhalt einer Partei, die nach ihren persönli-
chen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten einer
Prozeßführung (ganz oder teilweise) nicht aufzubringen ver-
mag, Prozeßkostenhilfe zu gewähren wäre. Die Anforderungen
an die Erfolgsaussicht, zu der in einem Stichentscheid gemäß
§ 17 Abs. 2 ARB Stellung zu nehmen ist, sind demnach nicht
niedriger als in einem Prozeßkostenhilfeverfahren (a.A. Har-
bauer, aaO § 1 Rdn. 33). Diesen Maßstab hat der Berufungsan-

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walt des Klägers indes nicht verkannt; er hat auf hinrei-
chende Erfolgsaussicht der Berufung abgestellt und diese be-
jaht.

b) Da gemäß § 17 Abs. 2 ARB eine begründete Stellung-
nahme zu der Notwendigkeit einer Wahrnehmung rechtlicher In-
teressen abzugeben ist, ist der Rechtsanwalt gehalten, die
Grundlagen seiner gutachterlichen Entscheidung und den Weg,
auf dem er zu ihr gelangt ist, aufzuzeigen; er hat deshalb
grundsätzlich den entscheidungserheblichen Streitstoff dar-
zustellen, anzugeben, inwieweit für bestrittenes Vorbringen
Beweis oder Gegenbeweis angetreten werden kann, die sich er-
gebenden rechtlichen Probleme unter Berücksichtigung von
Rechtsprechung und Rechtslehre herauszuarbeiten und das nach
seiner Ansicht bestehende (Prozeß—)Risiko aufzuzeigen, d.h.
sich auch mit etwa vorhandenen Argumenten auseinanderzuset-
zen, die gegen eine Erfolgsaussicht sprechen. Dabei ist es
von nachrangiger Bedeutung und weitgehend von den Besonder-
heiten des Einzelfalles abhängig, in welche Form der Anwalt
seine Stellungnahme kleidet und wie umfänglich er sie ge-
staltet und dabei auf die vom Rechtsschutzversicherer ange-
meldeten Bedenken eingeht. Das ist abhängig vom Umfang oder
von der Komplexität des Streitstoffes, von dem Stand der
vorangegangenen Korrespondenz mit dem Rechtsschutzversiche-
rer und seiner dadurch begründeten Vorkenntnis, ferner von
dem Stadium, in dem sich die Interessenwahrnehmung jeweils
befindet.

c) Der Inhalt und nicht die Form einer Stellungnahme
bleibt stets primär maßgebend dafür, ob sie den Anforderun-
gen an eine begründete Bejahung hinreichender Erfolgsaus-

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sicht genügt; deshalb sind auch - jedenfalls zeitnahe – Er-
gänzungen einer Stellungnahme, in der noch nicht auf alle
für die Beurteilung der Notwendigkeit einer Wahrnehmung
rechtlicher Interessen eine Rolle spielenden Gesichtspunkte
umfassend eingegangen worden war, zulässig und rechtlich be-
achtlich. Um eine derartige Ergänzung zur Stellungnahme vom
5. Februar 1987 handelt es sich bei der unter dem 11. Febru-
ar 1987 gefertigten Berufungsbegründung, die der Beklagten
am 18. Februar 1987 zugegangen ist. Daß der Berufungsanwalt
des Klägers hiermit seine bisherigen Ausführungen zur hin-
reichenden Erfolgsaussicht der Berufung ergänzen und unter-
mauern wollte, war auch für die Beklagte unübersehbar. Sie
hatte ihm in ihrem ersten Ablehnungsschreiben vom 2. Dezem-
ber 1986 unter anderem mitgeteilt: "Um ein Berufungsverfah-
ren mit einiger Aussicht auf Erfolg durchführen zu können,
müßten hier unseres Erachtens zumindest Zeugen dafür benannt
werden, daß für unseren Versicherungsnehmer auch in nüchter-
nem Zustand keineswegs erkennbar gewesen wäre, daß Herr Gl
alkoholbedingt fahruntüchtig war. Dies erscheint
uns nach dem bisher bekannten Sachverhalt nicht möglich zu
sein."

In seiner Stellungnahme vom 5. Februar 1987 hatte
Rechtsanwalt A. die Ansicht vertreten, die Kausalitätsfrage
sei nur noch am Rande von Bedeutung, weil im Berufungsver-
fahren eine andere Beurteilung der alkoholbedingten Bewußt-
seinsstörung des Klägers erwartet werden dürfe. Er hatte da-
zu aufgezeigt, was sein Mandant gegen die Annahme des Land-
gerichts anführen könne, er sei bei Fahrtantritt alkoholbe-
dingt bewußtseinsgestört gewesen. Mit der umgehend nachge-
reichten Berufungsbegründung verdeutlichte er der Beklagten

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dann zum einen, daß der Kläger auch Beweis anbieten könne
für diese Behauptung, und führte ihr zum anderen nunmehr
auch vor Augen, daß der Kläger auch zur Entkräftung der vom
Landgericht bejahten Kausalität einer alkoholbedingten Be-
wußtseinsstörung für den Fahrtantritt mit einem absolut
fahruntüchtigen Motorradfahrer und damit für den Unfall noch
nicht erhobenen Beweis angetreten hatte.

Ist bestrittenes Vorbringen, mit dem die Rechtsverfol-
gung oder die Rechtsverteidigung begründet werden soll, un-
ter Beweis gestellt, ohne daß sich auf Anhieb sagen ließe,
dieses Vorbringen sei mit der jeweils verfolgten Wahrnehmung
rechtlicher Interessen schlechterdings nicht in Zusammenhang
zu bringen, oder hat der Versicherungsnehmer gegen eine ihm
ungünstige Feststellung in einem Urteil, das er angreifen
will, Beweis angetreten, so bindet die hierauf in einem
Stichentscheid gestützte Bejahung von Erfolgsaussicht die
Parteien des Rechtsschutzversicherungsvertrages, solange
nicht derjenige, der die Bindungswirkung anzweifelt, be-
weist, daß die Stellungnahme "offenbar von der wirklichen
Rechtslage erheblich abweicht." Keine Rolle spielt es bei
der Beurteilung, ob der Stichentscheid ausreichend begründet
worden ist bzw. ob er offenbar erheblich von der wirklichen
Rechtslage abweicht, daß die beabsichtigte Rechtsverfolgung
oder Rechtsverteidigung tatsächlich Erfolg hatte. wie im
Prozeßkostenhilfeverfahren ist nur eine ex ante-, nicht eine
ex post-Beurteilung erlaubt, d.h. es ist unter anderem uner-
heblich, zu welchem Ergebnis spätere Beweisaufnahmen geführt
haben.

d) Für ihre Ansicht, die zeitnah und zu Beginn des Be-
rufungsverfahrens gegen den Unfallversicherer nachgereichte

— 8 —

Berufungsbegründung sei keine beachtliche Ergänzung der ur-
sprünglichen Stellungnahme vom 5. Februar 1987, kann sich
die Beklagte nicht auf die in VersR 1980, 671 veröffentlich-
te Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm berufen. Auch
wenn die Annahme dieses Gerichts zutreffen sollte, es bleibe
kein Raum mehr für ein Verfahren gemäß § 17 Abs. 2 ARB, wenn
dem Rechtsschutzversicherer erstmalig nach Abschluß eines
gerichtlichen Verfahrens von einer auf diesem Wege verfolg-
ten Wahrnehmung rechtlicher Interessen Mitteilung gemacht
worden sei, besagt dies nichts dazu, ob eine zeitgerechte
Stellungnahme zu ihrer Begründung gemäß § 17 Abs. 2 ARB
zeitnah durch weitere Schriftstücke ergänzt werden darf.

Ebensowenig einschlägig ist der Beschluß des erkennenden Se-
nates vom 3. Juni 1987 - IVa ZR 318/86 - VersR 1987, 978; er
besagt nur, daß es einer Partei, deren Rechtsschutzversiche-
rer eine Kostenzusage mangels Erfolgsaussicht abgelehnt hat,
zuzumuten ist, einen Stichentscheid gemäß § 17 Abs. 2 ARB
herbeizuführen, so daß ihr nicht stattdessen Prozeßkosten-
hilfe bewilligt werden kann.

2.a) Den ihr obliegenden Beweis offenbar erheblichen
Abweichens des Stichentscheids von der wirklichen Rechtslage
hat die Beklagte nicht geführt. Zu Recht bezweifelt auch die
Beklagte nicht, daß eine alkoholbedingte Bewußtseinsstörung
des Klägers (bzw. deren Fehlen oder deren Nichterweislich-
keit) und die Kausalität dieser Bewußtseinsstörung für den
Unfall maßgeblich sind und waren zur Beurteilung hinreichen-
der Erfolgsaussicht der Berufung gegen das Urteil, mit dem
Ansprüche gegen den Unfallversicherer abgewiesen worden wa-
ren. Was den juristischen Ausgangspunkt betrifft, den
Rechtsanwalt A. für seinen Stichentscheid gewählt hatte,

- 9 -

kommt demnach ein Abweichen von der wirklichen Rechtslage
nicht in Betracht.

b) Es ging in dem Prozeß gegen den Unfallversicherer
allein darum, ob sich der Kläger nur und gerade wegen einer
alkoholbedingten Bewußtseinsstörung einem absolut fahrun-
tüchtigen Motorradfahrer anvertraut hatte; es ging dagegen
nicht um ein alkoholbedingtes unfallursächliches Verhalten
des Klägers während der Fahrt. In zutreffender Berücksichti-
gung der Senatsrechtsprechung (vgl. Urteil vom 27. Februar
1985 — IVa ZR 96/83 - VersR 1985, 583 unter II) hatte das
Erstgericht nicht allein aufgrund der erwiesenen Blutalko-
holkonzentration von 2,87 g ‰ eine alkoholbedingte Be-
wußtseinsstörung im Sinne des in § 3 Abs. 4 der Allgemeinen
Unfallversicherungsbedingungen (AUB) enthaltenen Risikoaus-
schlusses bejaht; es hatte seine Überzeugung - ein An-
uscheinsbeweis kam nicht in Betracht (vgl. dazu auch Senats-
urteil vom 24. Februar 1988 — IVa ZR 193/86 unter 2 – VersR
1988, 733) — zusätzlich aus den Feststellungen hergeleitet,
die der den Kläger nach dem Unfall behandelnde Arzt getrof-
fen hatte. In seiner Stellungnahme vom 5. Februar 1987 zeig-
te Rechtsanwalt A. auf: Die ärztliche Feststellung, die
Atemluft des Klägers habe deutlich nach Alkohol gerochen,
sage über den Grad seiner erwiesenen Alkoholisierung nichts
aus; ein sogenanntes Alkoholdelirium, das während des Kran-
kenhausaufenthaltes aufgetreten sein soll, sei ebenfalls oh-
ne Aussagewert für die Alkoholisierung des Klägers bei
Fahrtantritt am Himmelsfahrttag, weil damit Entzugserschei—
nungen während des stationären Aufenthaltes angesprochen
seien, deren Auftreten gerade die Behauptung des Klägers un-
termauerten, er sei besonders alkoholgewohnt; der Anwalt bot

- 10 -

- zumindest in Verbindung mit der Berufungsbegründung – Be-
weis durch den Arzt an, der dem Kläger das Blut entnommen
hatte, daß der Kläger bei der Blutentnahme eine deutliche
Sprechweise, ein beherrschtes Verhalten, eine unauffällige
Stimmung mit klarer Bewußtseinslage und geordneten Denkab-
läufen gezeigt habe. Unter diesen Umständen wich sein wer-
tungsergebnis, er messe einer hierauf gestützten Berufung
hinreichende Erfolgsaussicht bei, nicht offenbar erheblich
von der wirklichen Rechtslage ab. Die Feststellung alkohol-
bedingter Bewußtseinsstörung verlangt, wo es nicht nur um
Fahruntüchtigkeit geht, ausnahmslos eine am Einzelfall ori-
entierte, alle in Betracht kommenden Indizien einschließende
Beweiswürdigung. Es ging bei der Feststellung einer alkohol-
bedingten Bewußtseinsstörung des Klägers auch nicht um einen
Anscheins-, sondern um Vollbeweis.

c) Die Bejahung hinreichender Erfolgsaussicht der Beru-
fung weicht auch nicht offenbar erheblich von der wirklichen
Rechtslage ab, soweit sie zusätzlich daraus hergeleitet wur-
de, daß der Kläger in der Berufungsbegründung auch Beweis
gegen die im ersten Urteil bejahte Kausalität seiner Alkoho-
lisierung für den Unfall angetreten hatte. Es war Sache des
Unfallversicherers zu beweisen, daß der Kläger ohne seine
alkoholische Beeinflussung mit Rücksicht auf die ihm dann
erkennbar gewordene oder sich ihm dann zumindest aufdrängen-
de Fahruntüchtigkeit des Motorradfahrers, dem äußerlich bei
Fahrtantritt eine Alkoholisierung nicht anzumerken war, Ab-
stand genommen hätte von einem Mitfahren. Alles, was der
Kläger gegen die Berechtigung einer solchen Annahme anführen
und unter Beweis stellen konnte, war grundsätzlich geeignet,
seinen Anspruch zu stützen. Die Berücksichtigung dieses Vor-

- 11 -

bringens in dem Stichentscheid bei der Bejahung hinreichen-
der Erfolgsaussicht konnte demnach ebenfalls nicht dazu füh-
ren, daß dieser erheblich und offenbar von der wirklichen
Rechtslage abwich.

Das Feststellungsbegehren des Klägers ist begründet.

B. D. Dr. S.

Dr. Z. Dr. R.

Nachschlagewerk: ja

BGHZ: nein

BGHR: ja

AVB f. Rechtsschutzvers. (ARB) § 17 Abs. 2

Zu den Anforderungen an eine Stellungnahme gemäß § 17 Abs. 2

ARB (Stichentscheid).

BGH, Urteil vom 17. Januar 1990 — IV ZR 214/88 — OLG Celle

LG Hannover

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BSG, IV ZB 5/90 vom 04.10.1990, Bundesgerichtshof
BUNDESGERICHTSHOF

IV ZB 5/90

Beschluss in dem Rechtsstreit

- 2 -

Der IV Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch
den vorsitzenden Richter B. und die Richter R.
, Dr. S. , Dr. Z. und R.

am 4. Oktober 1990

beschlossen:

Auf die sofertige Beschwerde des Beklagten wird
der Beschluß des 7. Zivilsenats des Ober1andes-
gerichts Stuttgart vom 21. Juni 1990 zu Nr. 2 und
3 aufgehoben.

Dem Beklagten wird wegen Versäumung der Berungs-
frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-
währt.

Die Kosten der Wiedereinsetzung einschließlich
der Kosten des Beschwerdevertfahrens nach einem
Beschwerdewert von 40.304,15 DM trägt der Be-
klagte.

Gründe

Das dem Rückzahlungsantrag des Klägers stattgebende Ur-
teil des Landgerichts ist dem Anwa1t des Beklagten am
5. März 1990 zugestellt werden. Mit Schriftsatz vom·30. März
1990, der beim Berufungsgericht am 2. April 1990 eingegangen
ist, beantragte der Beklagte für die Berufung gegen dieses

- 3 -

Urteil Prozeßkostenhilfe unter Vorlage der erforderlichen
Belege und Darlegung der beabsichtigten Berufungsbegründung.
Seine Rechtsschutzversicherung, die lediglich für die erste
Instanz Deckung zugesagt hatte, unterrichtete er am gleichen
Tage in gleicher Weise. Diese antwortete ihm, daß sie vor
Ablauf der Berufungsfrist die Frage der Deckungszusage für
die Berufungsinstanz nicht entscheiden werde. Mit Schreiben
vom 12., dem Anwalt des Klägers zugegangen am 19. April 1990
gewährte sie dann Deckungsschutz. Daraufhin legte der Be-
klagte am 23. April 1990 Berufung ein, begründete diese
gleichzeitig und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand.

Das Berufungsgericht hat durch den angefochtenen Be-
schluß

1. den Antrag auf Prozeßkostenhilfe zurückgewiesen,

2. den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und

3. die Berufung verworfen.

Gegen die Nr. 2 und 3 dieses Beschlusses wendet sich der Be-
klagte mit seiner fristgerecht eingelegten sofortigen Be-
schwerde. Diese hat Erfolg.

Das Berufungsgericht meint, der Beklagte habe bei
Durchführung der ihm und seinem Prozeßbevollmächtigten zu-
mutbaren Maßnahmen die Deckungszusage so rechtzeitig erhal-
ten können, daß er fristgerecht Berufung habe einlegen kön-
nen. Diese Begründung ist rechtsfehlerhaft.

- 3 -

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtsho-
fes ist ein Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmit-
tel- oder Rechtsmittelbegründungsfrist die Bewilligung von
Prozeßkestenhilfe beantragt hat, bis zur Entscheidung über
den Antrag so lange als ohne sein Verschulden an der Einle-
gung oder Begründung des Rechtsmittels verhindert anzusehen,
als er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht
mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftig-
keit rechnen muß (BGHZ 26, 99, 101; Beschlüsse vom 14.3.1984;
und 29.1.1985 - IVb ZB 114/83 und VI ZB 20/84 - FamRZ 1984,
677 unter II 1a und VersR 1985, 395 unter 1). Erst dann,
wenn das Hindernis der Bedürftigkeit entfallen ist, wenn
z.B. die anfängliche Armut des Rechtsmittelführers, durch nun
erlangtes Arbeitseinkommen wegfällt, muß er mit der Ableh-
dnung seines Antrages auf Prozeßkostenhilfe rechnen (BGH, Be-
schluß vom - 13.7.1988 - IVb ZR 19/88 - BGHR ZPO § 234 Abs. 2
Prozeßkestenhi1fe 2 = FamRZ 1988, 1153). Erst dann ist ihm
zuzumuten, die Berufung einzulegen, wofür ihm gegebenenfalls
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. So
liegt es hier. Erst mit dér Deckungssusage des Re¢htsschutz-
versicherers entfiel das Hindernis der Bedürftigkeit, dessen
Vorliegen der Beklagte mit seinem Antrag auf Prozeßkosten-
hilfe und den dazu eingereichten Unterlagen ordnungsgemäß
dargetan hatte.

Allerdings hat der Senat entschieden, daß Prozeßkosten-
hilfe nicht gewährt werden kann, wenn der Rechtsscbutzversi-
cherer die Deckung wegen fehlender Erfolgsaussicht des
Rechtsmittels verweigert (Beschluß vom 3.6.1987 - IVa ZR
318/86 - BGHR ZPO § 114 Abs. 1. Rechtschutzversicherung 1 =
VersR 1987, 978). Bei zutreffender Beurteilung der mangeln

- 5 -

den) Erfolgsaussicht durch den Rechtsschutzversicherer ist
ohnehin nach S 114 Satz 1 ZPO die Bewilligung von Prozeßko-
stenhilfe ausgeschlossen (vgl. Senatsurteil vom 16.9.1987
- IVa ZR 76/86 - BGHR ZPO § 114 Abs. 1 Satz 1 Erfolgsaus-
sicht 1 = VersR 1987, 1186, dazu Bauer, VersR 1988, 174).
Einer unrichtigen Beurteilung der Erfolgsaussicht kann der
Rechtsmittelführer durch den Stichentscheid gemäß S 17
Abs. 2 der Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzver—
sicherung (ARB) entgegentreten.

Das besagt jedoch nichts zur Frage der Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand. Derjenige, der die Kosten seines
Rechtsmittels nicht aufbringen kann, darf wie ein anderer
die Frist für die Einlegung oder Begründung des Rechtsmit-
tels bis zum letzten Tag ausnutzen; er darf also noch am
letzten Tag der Frist die Entscheidung treffen, ob er das
Rechtsmittel einlegen will, und braucht erst dann den aller-
dings vollständigen Antrag auf Prozeßkostenhilfe einzurei-
chen (BGHZ 16, 1 und 38, 376). Daran kann sich nichts da-
durch ändern, daß er rechtsschutzversichert und auf das Ver-
fahren gemäß § 17 ARB angewiesen ist. Der Stichentscheid ge-
mäß § 17 Abs. 2 ARB setzt die vorausgegangene Verneinung der
Leistungspflicht seitens des Rechtsschutzversicherers vor-
aus. Solange dieser sich nicht entschieden hat, ist für ei-
nen Stichentscheid kein Raum. Es liegt auf der Hand, daß
dieses Verfahren - zunächst die Entscheidung des Rechts-
schutzversicherers über die Erfolgsaussicht, dann gegebenen-
falls der Stichentscheid - eine gewisse Zeit erfordert. Die-
ser Zeitraum muß dem Rechtsmittelführer, der rechtsschutz-
versichert ist, ohne Rechtsnachteil zur Verfügung stehen. Er
darf, wenn er im übrigen die wirtschaftlichen Voraussetzun-

- 6 -

gen für die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe erfüllt nicht
wegen der Rechtsschutzversicherung schlechtergestellt werden
den als die übrigen Rechtsmittelführer.

Danach ist dem Beklagten mit der Kostenfolge § 238
Abs. 4 ZPO Wiedereinsetzung zu gewähren.

B. Dr. Z.

Nechschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja

Für einen rechtsschutzversicherten Rechtsmittelführer, der die
die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von
Prozeßkostehhilfe im übrigen erfüllt, entfällt das Hindernis
der Bedürftigkeit erst mit der Deckunugszusage seines Rechts-
schutzversicherers.

BGH, Beschl. v. 4. Oktober 1990 - IV ZB 5/90 - OLG Stuttgart
LG Rottweil


Faksimile 1 2 3 4 5 6 Leitsatz

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Freitag, 8. Mai 2015
BGH, II ZR 124/76 vom 19.01.1978, Bundesgerichtshof
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20, BGB § 203
Die Verjährung wird gehemmt, auch wenn die arme Partei
das Gesuch um Bewilligung des Armenrechts für die Er-
hebung der Klage zwar noch innerhalb der Verjährungs-
frist, aber so spät - auch noch am letzten Tage - bei
Gericht einreicht, daß darüber nicht mehr vor Frist-
ablauf entschieden werden kann (Abweichung von BGHZ 17,
199 und 37, 113).
BUNDESGERICHSTHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
II ZR 124/76
verkündet am 19. Januar 1978
Justizobersekretär
Als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit des Fischermeisters … K …
Klägers und Revisionsklägers,
- Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt … -
gegen
die Gesellschaft für K … und K … mbG,
gesetzliche vertreten durch den Geschäftsführer Manfred P …
Beklagte und Revisionsbeklagte,
- Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt … -
Tatbestand:
Der Fischkutter "Anneliese" des Klägers, eines
selbständigen Fischermeisters, ist am 4. März 1973
nach einer Kollosion mit MS "Hanseat III" der Beklagten
in der Lübecker Bucht gesunken. Der Kläger verlangt
Ersat eines Teils seines nicht durch Versicherung
gedeckten Schadens. Er ist der Auffassung, die Schiffs-
führung von MS "Hanseat III" habe durch ihr Verschulden
den Schiffszusammenstoß überwiegend verursacht Die
Parteien haben bis August 1974 außergerichtlich über
eine vergleichsweise Regelung verhandelt konnten sich
aber nicht über die Schadensquote einigen. Am
- 3 -
23. Oktober 1974 beantragten die vom Kläger bevoll-
mächtigten Rechtsanwälte beim Landgericht Lübeck das
Armenrechts für eine Klage über 37 061,22 DM nebst Zinsen.
Mit Schriftsatz vom 26. November 1974, der einen Tag
später bei Gericht einging, rügte die Beklagte unter
anderem die Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts,
mit dem Hinweis, daß sie ihren Sitz in Hamburg habe.
Die Anwälte des Klägers erwiderten mit Schriftsatz vom
10. Februar 1975, der am 19. Februar beim Landgericht
Lübeck eingegangen ist. Sie beantragten unter Erweiterung
des Gesuchs auf ca. 49 704,53 DM das Armenrechtsverfahren
an das Landgericht Hamburg abzugeben. Diesem Antrag hat
das Landgericht Lübeck entsprochen. Die Akten trafen am
3. März 1975 beim Landgericht Hamburg ein. Die zunächst
der Zivilkammern 10 zugeleitete Sache wurde an die Zivil-
kammer 6 abgegeben und anschließend, auf Antrag der Be-
klagten, an die Kammer für Handelssachen verwiesen. Nach-
dem die Beklagte sich auf Verjährung berufen hatte, hat
das Landgerichts durch Beschluß vom 4. Juni 1975 dem Kläger
das Armenrecht versagt. Seine Beschwerde wurde durch Be-
schluß des Oberlandesgerichts vom 18. August 1975 zurück-
gewiesen. Am 2. September 1975, der Beklagten zugestellt
am 4. September 1975, erhob der Kläger Klage mit dem Antrag,
die Beklagte zu verurteilen, 39.763,63, DM nebst 4 %
Zinsen seit dem 21. Oktober 1973 zu bezahlen.
Die Beklagte hat erneut die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Landgericht und das Oberlandesgericht haben die
Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt
der Kläger seinen Klageanspruch weiter.
- 4 -
Entscheidungsgründen:
Das Berufungsgericht hat den auf § 736 Abs. 1 HGB
gestützten Schadensersatzanspruch für verjährt und die
Klage schon aus diesem Grunde für abweisungsreif ge-
halten. Dem ist jedoch, wie die Revision zu Recht geltend
macht, nicht zu folgen.
Ansprüche dieser Art verjähren gemäß § 901 Satz 2
Nr. 2 HGB a.F. und § 902 Nr. 2 HGB i.d.F. d. Seerechts-
änderungsgesetzes vom 21. Juni 1972, BGBl I 1513 (= n. F.)
in zwei Jahren vom Ablauf des Kollosionstags
an gerechnet (§ 903 HGB). Diese Frist war am 4. März 1975,
also bevor der Kläger am 4. September 1975 Klage erhob,
abgelaufen. Die Einreichung des Armenrechtsgesuchs hat
die Verjährung nicht unterbrochen; eine dahingehende
gesetzliche Regelung besteht nicht (§ 209 BGB). Die Ver-
jährung war jedoch gehemmt (§ 203 BGB), weil der Kläger
wegen des Unvermögens, die Prozeßkosten zu tragen, während
der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch - im
Sinne jener Vorschrift - „höhere Gewalt" an der Rechts-
verfolgung gehindert war.
Das entspricht allerdings bei dem vorliegenden Sach-
verhalt nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundes-
gerichtshofes, der sich das Berufungsgericht angeschlossen
hat (BGHZ 17, 199; BGH, Urt. v. B. 5. 56 - VI ZR 58/55,
LM BGB § 254 [E] Nr. 2; v. 28. 9. 59 - III ZR 75/58,
VersR 1960, 60; v. 20. 6. 60 - III ZR 127/59, VersR 1960,
951; BGHZ 37, 113; v. 30. 9. 69 - VI ZR 54/68, DAVorm. 70,
10; v. 8. 3. 77 - VI ZR 142/75, VersR 1977, 622). Danach
soll der Umstand, daß das Gericht erst nach Fristablauf
- 5 -
entscheidet, nur dann einen Fall höherer Gewalt dar-
stellen, wenn der Berechtigte alles in seinen Kräften
Stehende getan hat, um eine rechtzeitige Bewilligung
des Armenrechts zu erreichen und damit eine Klage-
erhebung noch vor Ablauf der Verjährung zu ermöglichen.
Diese Voraussetzungen waren hier nicht erfüllt. Denn
die Beklagte, die ihren Sitz in Hamburg hat, hatte
schon mit Schriftsatz vom 26. November 1974 die örtliche
Zuständigkeit des vom Kläger zum Zwecke der Armenrechts-
bewilligung angerufenen Landgerichts Lübeck gerügt.
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers stellte jedoch
erst am 19. Februar 1975, also mehr als zwei Monate
später, beim Landgericht Lübeck den Antrag, das Armen-
rechtsverfahren an das Landgericht Hamburg abzugeben.
Nach dieser vom Kläger oder seinen Anwälten zu vertretenden
Verzögerung konnte mit einer Entscheidung des Landgerichts
Hamburg bis zum 4. März 1975 nicht mehr gerechnet werden.
An der Auffassung, die Verjährung werde nur gehemmt,
wenn die unbemittelte Partei so frühzeitig das Armenrecht
beantrage, daß darüber bei gewöhnlichem Geschäftsgang
des Gerichts noch innerhalb der Verjährungsfrist ent-
schieden und Klage erhoben werden können, kann jedoch nicht
festgehalten werden.
Im Bereich des Rechtsschutzes gebietet es der allge-
meine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung
mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), die
prozessuale Stellung von Bemittelten und Unbemittelten
weitgehend anzugleichen (BVerfGE 9, 124, 131; 10, 264,
270). Der unbemittelten Partei darf daher die Rechtsver-
folgung und -verteidigung im Vergleich zur bemittelten
- 6 -
nicht unverhältnismäßig erschwert werden (BVerfGE 2, 336,
340; 9, 124, 130, 131). Daraus hat das Bundesverfassungs-
gericht unter anderem hergeleitet, daß es gegen Art. 3
Abs. 1, 20 Abs. 1 GG verstoße, im Zivilprozeß einem unbe-
mittelten Rechtsmittelkläger, der nach Bewilligung des
Armenrechts die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag
(§ 234 Abs. 1 ZPO) versäumt hat, keine Wiedereinsetzung
zu gewähren (BVerfGE 22, 83).
Nach Ansicht des Senats sind diese Grundsätze auch
im vorliegenden Falle anzuwenden; sie erfordern es, die
Hemmung der Verjährung auch dann eintreten zu lassen, wenn
ein ordnungsgemäß begründetes und vollständiges Armen-
rechtsgesuch zwar noch innerhalb der Verjährungsfrist, aber
so spät - unter Umständen noch am letzten Tag - eingereicht
wird, daß darüber vor Fristablauf nicht mehr entschieden
werden kann.
Die gegenwärtige Rechtspraxis benachteiligt die unbe-
mittelte Partei und führt außerdem zur Rechtsunsicherheit
im Einzelfall: Einer bemittelten Partei steht der volle
Zeitraum, in dem die Verjährung läuft, für außergericht-
liche Verhandlungen und zur Vorbereitung der Klage zur
Verfügung, da sie noch am letzten Tage der Frist die Ver-
jährung durch Klageerhebung oder eine gleichstehende Maß-
nahme (§§ 209 BGB, 270 Abs. 3 n.F. ZPO) unterbrechen kann.
Für die unbemittelte Partei führt dagegen die Verpflichtung,
im Armenrechtsgesuch eine vollständige Sachdarstellung zu
geben (BGH, Urt. v. 27. 11. 1959 - VI ZR 112/59, LM BGB § 203
Nr. 6) und das Armenrecht so rechtzeitig zu beantragen,
daß darüber innerhalb der Verjährungsfrist entschieden
werden kann, zu einer Verkürzung dieser Frist. Ebenso
schwerwiegend wie dieser Nachteil ist die Unsicherheit,
mit der die arme Partei belastet wird. Dies gilt zu-
nächst für die Pflicht, das Armenrecht so rechtzeitig
zu beantragen, daß wirklich vor Ablauf der Verjährung
darüber entschieden werden kann (BGHZ 17, 199, 202).
Damit wird von der armen Partei eine Prognose verlangt,
die sie nicht zuverlässig stellen kann, weil sie nicht
alle Umstände kennt, die den Gang des Verfahrens beein-
flussen werden. Die unbemittelte Partei ist daher dem
Risiko ausgesetzt, nachträglich gesagt zu bekommen, sie
habe das Armenrechtsgesuch nicht „rechtzeitig" eingereicht.
Von Unsicherheit geprägt ist auch die Bestimmung des Zeit-
punkts für den Beginn der Hemmung. Nach der hierfür ver-
wendeten Formel tritt die Hemmung der Verjährung in dem
Augenblick ein, in dem der Kläger bei sachgemäßer Be-
handlung eine Entscheidung über sein Armenrechtsgesuch
erwarten konnte (BGHZ 17, 202; 37, 113, 122). Der Beginn
der Verjährungshemmung und damit auch ihre Dauer hängen
danach von dem unbestimmten, verschiedener Deutung zugäng-
lichen Begriff der "sachgemäßen" Behandlung des Armenrechts-
verfahrens ab. Da0 darin für die arme Partei eine Risiko
liegt, sich hinsichtlich der Dauer der Hemmung der Ver-
jährung zu "verrechnen", liegt auf der Hand. Die darge-
legten Umstände bedeuten für die arme Partei eine unver-
hältnismäßige Erschwerung der Rechtsverfolgung im Vergleich
zu der bemittelten. Darauf, daß die Belange der um das
Armenrecht nachsuchenden Partei durch die Zustellung eines
Mahnbescheids oder die Anbringung eines Gütevertrags nicht
hinreichend gewahrt sind, hat bereits das Reichsgericht
(RGZ 163, 9) hingewiesen. Bei einer am Gerechtigkeits-
gedanken orientierten Betrachtungsweise erscheint die
weitgehende Angleichung der Stellung der armen an die
der vermögenden Partei nur durch eine Regelung gewähr-
leistet, die es ersterer erlaubt, die Verjährungsfrist
in vollem Umfange zu nutzen (vgl.. auch BGHm Urt v.
4. 3. 77 -V ZR 236/75, VersR 1977, 665 u. Kollhoser,
VersR 1974, 829 zu der ähnlichen Problematik bei § 12
Abs. 3 VVG). Deshalb ist nach Auffassung des Senats
bei verfassungskonformer Anwendung des § 203 Abs. 2 BGB
eine Partei durch höhere Gewalt an der Rechtsverfolgung
verhindert, wenn sie am Tage des Ablaufs der Verjährungs-
frist infolge Armut keine Klage erheben kann, aber spätestens
in diesem Zeitpunkt das zur Behebung des Hindernisses not-
wendige Armenrechtsverfahren durch ein ordnungsgemäß be-
gründetes und vollständiges Armenrechtsgesuch eingeleitet
hat. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dann tritt die Hemmung
der Verjährung ein, und sie dauert grundsätzlich fort, bis
die arme Partei nach der Entscheidung über das Armenrechts-
gesuch bei angemessener Sachbehandlung in der Lage ist,
ordnungsgemäß Klage zu erheben. Eine solche Regelung wider-
spricht weder dem Wortlaut noch dem Sinn des Gesetzes.
Sie belastet auch nicht den Schuldner der unbemittelten
Partei in unangemessener Weise. Die dadurch in der Regel
eintretende Verlängerung der Verjährungsfrist hält sich
in vertretbarem Rahmen, und der Schuldner erfährt zur
gleichen Zeit wie bei Klageerhebung von der beabsichtigten
Rechtsverfolgung und kann sich darauf einstellen.
Für den vorliegenden Fall folgt daraus, daß die mit
der Klage geltend gemachte Schadensersatzforderung nicht
verjährt ist. Das Armenrechtsgesuch ist, da es am letzten
Tage der Verjährungsfrist dem Gericht vorlag, rechtzeitig
gestellt. Dem Kläger - der seine Armut glaubhaft gemacht
hatte - sind auch im weiteren Verlauf des Armenrechtsver-
fahrens keine Umstände, die eine Verzögerung der Armen-
rechtsentscheidung nach sich gezogen haben, als Verschulden
- 9 -
mit der Folge anzurechnen, daß von höherer Gewalt im
Sinne von § 203 Abs. 2 BGB nicht mehr gesprochen werden
könnte. Der Kläger wurde durch Verfügung des Vorsitzenden
der Zivilkammer 6 des Landgerichts Hamburg, die am
7. April 1975 an die Rechtsanwälte abgesandt worden ist,
aufgefordert, ein Armen-Attest neueren Datums vorzulegen.
Dem ist er nachgekommen, indem er am 5. Mai 1975 ein
weiteres Zeugnis zur Erlangungen einstweiliger Kosten-
befreiung eingereicht hat. Darauf, ob dieser Erledigungs-
zeitraum angemessen war, kommt es nicht an. Die Verzögerung
der Entscheidung über das Armenrechtsgesuch hätte selbst
dann nicht auf diesem Vorgang beruht, wenn das Armuts-
zeugnis etwas früher hätte vorgelegt werden können. Das
Landgericht hatte nämlich in der gleichen Verfügung die
Beklagte aufgefordert zu erklären, ob sie Verweisung an
die Kammer für Handelssachen beantragen wolle. Der Ent-
sprechende Antrag ist am 29. April 1975 beim Landgericht
eingegangen. Die Zivilkammer hat daraufhin durch Beschluß
vom 23. Mai 1975 das Verfahren an die Kammer für Handels-
sachen abgegeben. Zu dieser Zeit aber hat das neue Armuts-
zeugnis des Klägers vorgelegen. Der Umstand, daß der Kläger
nicht sogleich beim Landgericht Lübeck beantragt hat, das
Verfahren an die Kammer für Handelssachen des Landgerichts
Hamburg abzugeben, kann ihm nicht zum Nachteil gereichen.
Nach § 96 Abs. 1 GVG ist der Kläger nicht verpflichtet
zu beantragen, daß der Rechtsstreit vor der Kammer für
Handelssachen verhandelt werden solle.
Schließlich ist die Klage auch rechtzeitig nach Ab-
schluß des Armenrechtsverfahrens erhoben worden. Das Armen-
recht wurde dem Kläger durch Beschluß des Berufungsgerichts
vom 18. August 1975 endgültig versagt. Eine Ausfertigung
dieses Beschlusses ging am 21. August 1975 an die
Anwälte des Klägers ab. Mit Schriftsatz vom 1. Septem-
ber 1975, der bei Gericht am 2. September eingegangen
ist, hat der Kläger Klage erhoben. Diese ist am
4. September 1975 zugestellt worden. Der Kläger hat
also spätestens zwei Wochen, nachdem er von dem nega-
tiven Ausgang des Armenrechtsverfahrens Kenntnis erlangt
hatte, die Klage eingereicht. In Anwendung des Rechts-
gedankens von § 234 Abs. 1 ZPO ist der Partei nach
Kenntnis vom Abschluß des Armenrechtsverfahrens eben-
falls eine zumindest zweiwöchige Frist zur Vorbereitung
der Klage zuzubilligen. Ob diese im Einzelfall über-
schritten werden darf, braucht hier nicht entschieden
zu werden.
Aus all dem folgt, daß die Verjährung des Schadens-
ersatzanspruchs des Klägers bis zur Erhebung der Klage
gehemmt war. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht.
Ein Grund zur Vorlage dieser Sache an den Großen
Senat für Zivilsachen bestand nicht. Der III. und der
Vl. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes haben auf Anfrage
erklärt, daß sie an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung
nicht mehr festhalten.
S. Dr. S. F. Dr. B. B.

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