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Dienstag, 12. Mai 2015
SG MZ, S 13 SB 486/10 vom 07.05.2012, Sozialgericht Mainz
anselmf
Aktenzeichen
S 13 SB 486/10 Verkündet lt. Protokoll am: 7. Mai 2012 gez.: S. Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle IM NAMEN DES VOLKES URTEIL In dem Rechtsstreit - Klägerin - Prozessbevollmächtigte Rechtsanwälte gegen Land Rheinland-Pfalz, vertreten durch das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung, Baedekerstraße 2—10, 56073 Koblenz — Beklagter — hat die 13. Kammer des Sozialgerichts Mainz auf die mündliche Verhandlung vom 7. Mai 2012 durch den Richter S. sowie die ehrenamtlichen Richter Herr B. und Frau K. für Recht erkannt: 1. Die Klage wird abgewiesen. - 2 - 2. Über das Teil-Anerkenntnis vom 11. Januar 2012 hinaus sind keine Kosten zu erstatten. Tatbestand Die Beteiligten streiten zuletzt noch über die Frage, ob bei der Klägerin die Vor- aussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) vorliegen. Bei der am 21. Juli 1961 geborenen Klägerin wurden mit zuletzt bindend gewor- denem Bescheid vom 22. Juni 2009 als Ausführungsbescheid zum Urteil des So- zialgerichts Mainz (SG) vom 07. Mai 2009 (Az.: S B SB 133/07) durch das Amt für soziale Angelegenheiten Mainz (AsA) ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" festgestellt, wobei die Behinderungen wie folgt bewertet und bezeichnet wurden: 1. Harnblasenoperation mit Anlage einer künstlichen Harnableitung über die Bauchdecke mit Inkontinenz (Einzel-GdB = 60). 2. Schmerzhatte Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule nach mikrochi- rurgischer Bandscheibenoperation im HWS-Bereich, operative Spondylo- dese im LWS-Bereich sowie nach verheilten Brustwirbeltrakturen (Einzel- GdB = 30). 3. Reizmagen (Einzel-GdB = 10). 4. Vegetative Dystonie (Einzel-GdB = 10). 5. Kniegelenkschaden beiderseits, Polyaithralgien (Einzel-GdB = 10). Die Klägerin stellte im Februar 2010 einen Änderungsantrag beim AsA mit dem Ziel der Feststellung eines höheren GdB und des Merkzeichens "aG". Sie gab an, dass sich die Beschwerden an der Harnblase, der Wirbelsäule, dem Reizmagen und dem Knie verschlimmert hätten. Neu hinzugekommen seien Be- - 3 - schwerden am Ellenbogen. Eine Kohabitation sei ihr unmöglich. Die Klägerin legte hierzu zahlreiche Befundunterlagen vor. Im Einzelnen berief sie sich ua auf fol- gende medizinische Unterlagen: Arztbrief des U. des S. Klinik für Urologie und Kinderurologie; ärztlichesGutachten für die gesetzliche Rentenversi- cherung durch den Urologen Dr. G.; ärztliches Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung durch den Orthopäden Dr. G.; Entlassungsbericht des Uni- versitätsklinikums, Urologische Klinik und Poliklinik; verschiedene Arztbriefe des Städtischen Klinikums N., Abteilung für Urologie; Gutachten des Städti- schen Klinikums N., Abteilung für Urologie und ein Arztbrief des St. J g ,Wirbelsäulenzentrum. Nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme wurde der Antrag der Kläge- rin mit Bescheid vom 22. April 2010 durch das AsA abgelehnt. Zur Begrün- dung wurde ausgeführt, dass der GdB weiterhin mit 70 zu bewerten sei und die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" vorlägen. Die Schmerzen bei der Kohabi- tation seien bereits·unter Ziff 1 mitberücksichtigt. Die Behinderungen wurden er- neut wie folgt festgestellt: 1. Harnblasenoperation mit Anlage einer künstlichen Harnableitung über die Bauchdecke mit Inkontinenz (Einzel-GdB = 6O). 2. Schmerzhafte Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule nach mikrochi- rurgischer Bandscheibenoperation im HWS—Bereich, operative Spondylo- dese im LWS-Bereich sowienach verheilten Brustvvirbelfrakturen (Einzel- GdB = 30). 3. Reizmagen (Einzel-GdB = 10). 4. Vegetative Dystonie (Einzel-GdB = 10). 5. Kniegelenkschaden beiderseits, Polyarthralgien (Einzel-GdB = 10). Ihren hiergegen erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin dahingehend, dass die bereits anerkannten Leiden nicht ausreichend berücksichtigt worden sei- en und insbesondere fehlerhaft die Voraussetzungen für die Zuerkennung des - 4 - Merkzeichens "aG" nicht angenommen worden seien. Zur Begründung legte sie wiederum verschiedene Arztberichte vor: Arztbriei des Radiologen Dr, V ; Arzt- brief der Universitätsmedizin, Zentrum für muskuloskeletale Chirurgie; Arztbrief des Radiologischen Instituts K.; Untersuchungsberichte des MVZ für Laborato- riumsmedizin und eine Arnbulanzkarte der Universitätsklinik. Nach der.Einholung eines Befundberichts bei der die Klägerin behandelnden Frauenärztin K. vom 29. Juni 2010 und dem Eingang weiterer ärztlicher Be- fundunterlagen wurde der Widerspruch auf die gutachtliche Stellungnahme vom 30. September 2010 mit Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 2010 durch das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung zurückgewiesen. Die Behinde- rungen wurden wie folgt neu bezeichnet und bewertet: 1. Harnblasenoperation mit Anlage einer künstlichen Harnableitung über die Bauchdecke mit Inkontinenz (Einzel—GdB = 60). 2. Schmerzhafte Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule nach mikrochi- rurgischer Bandscheibenoperation im Halswirbelsäulenbereich, operative Spondylodese im Lendenwirbelsäulenbereich sowie nach verheilten Brust- wirbelfrakturen (Einzel-GdB = 30). 3. Störungen der Vagina und der äußeren Genitale (Einzel-GdB = 20). 4. Reizmagen (Einzel—GdB = 10). 5. Vegetative Dystonie (Einzel—GdB = 10). 6. Kniegelenksschaden beiderseits, Polyarthralgien (Einzel-GdB = 10). Mit ihrer am 12. November 2010 erhobenen Klage hat die Klägerin zunächst die Feststellung eines GdB von mindestens 80 und die Feststellung des Merkzeichens "aG" begehrt. Die Klägerin hat vorgetragen, dass sie durch die Störung der Vagina stärker ein- geschränkt sei, als sich das in einem Einzel-GdB von 20 widerspiegele. Sie könne keinen Geschlechtsverkehr mehr haben, Auch ihre Wirbelsäulenerkrankung sei - 5 - schlimmer, als dies der bislang anerkannte Einzel—GdB von 40 erscheinen lasse. Zudem erfülle sie die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzei- chens "aG". Zwar sei sie kein klassisches Beispiel für das begehrte Merkzeichen. Jedoch rechtfertigten die miteinander korrelierenden inneren Beschwerden und Verletzungen die Annahme einer gleichschweren Erkrankung. Auf Grund ihrer Neo-Blase sei sie auf ein ständiges Katheterisieren angewiesen. Die dazu benö- tigten Utensilien müsse sie in einer großen Tasche aufbewahren und stets bei sich führen. Diese sei sperrig und von erheblichem Gewicht. Zudem führten die chroni- sche Blasenentzündung, der unkontrollierte Harnabgang und die Beschwerden an ihrer Wirbelsäule zu einer stark verminderten Wegefähigkeit. Deshalb sei sie etwa einem Doppeloberschenkelamputierten gleichzustellen. Das Gericht hat Befundberichte beiden die Klägerin behandelnden Fachärzten Dr. K. (Orthopädie) vom O9. März 2011 und K. (Gynäkologie) vom 11. März 2011 eingeholt. Auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des Beklagten durch Frau Dr. F. vom 27. April 2011 hat das Gericht Dr. P. mit der Erstellung eines orthopädischen Fachgutachtens beauftragt. In seinem unter dem 02. Oktober 2011 vorgelegten Gutachten hat der Sachverständige Dr. P. folgende Diagnosen auf orthopädischem Fachgebiet gestellt: 1. Cervikobrachialgie bei Zustand nach mehrsegmentalen cervikalen Band- scheibenoperation mit Fusionen der Segmente C2/3, C3/4, C5/6 2. Osteochondrose und nachgewiesener Bandscheibenschaden des Seg- ments C6/7. 3. Thorakodorsalgle bei degenerativen Veränderungen der Brustwirbelsäule und Zustand nach stattgehabten Brustwirbelfrakturen. 4. Lumbalsyndrom bei Zustand nach Spondylodese L5/S1 bei Spondylolisthe- sis L5/S1 (1989), Spondylodese wegen Anschlussinstabllität L4/5, persistie- rende linksseitige Radikulopathie mit Parese der Hüftbeugung, Fuß- und Zehenhebung. 5. Verdacht auf erneute Anschlussinstabilität L3/4 - 6 - Der Gesamt-GdB auf orthopädischem Fachgebiet betrage 40. Die gesundheitli- chen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeiohens "aG" lägen nicht vor. Hinsichtlich der Befunderhebung und Feststellung des Sachverständigen Dr. P. wird im Einzelnen auf Bl 73 ff der Prozessakte verwiesen. Der Beklagte hat daraufhin mit Schriftsatz vom 11. Januar 2012 ein Teil- Anerkenntnis hinsichtlich der Feststellung eines GdB von 80 ab Juli 2010 abgege- ben. Die Klägerin hat dieses Teil-Anerkenntnis am 07. Mai 2012 angenommen. Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen des Merkzeiohens "aG" bei ihr vorliegen. Dies folge weder allein aus den orthopädischen noch aus den urologischen Beschwerden, sondern auf Grund ihrer Zusammenwirkung. Hinzu kämen praktische Überlegungen. Zur Versorgung ihrer Blase bzw Entleerung müsse sie Material in erheblichem Umfang in einer Tasche oder einem Rucksack mit sich führen. Beides sei jedoch für sie auf Grund ihrer Wirbelsäulenbeschwer- den und der Venzvendung einer Unterarmstütze kaum nutzbar. Schon der an sich simple Prozess des Aussteigens aus dem Fahrzeug gestalte sich für sie als erheb- lich schwierig. Dabei müsse die Tür bis zum Anschlag geöffnet sein, um überhaupt das Fahrzeug verlassen zu können. Wegen der vorliegenden Fußzehenschwäche müsse sie den Fuß mit den Armen aus dem Fahrzeug heben. Dies gelänge nur bei weit offenstehender Tür. Normale Parkplätze seien jedoch so konzipiert, dass sie kaum einen halben Meter breiter als ein normales Fahrzeug seien. Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 22. April 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Oktober 2010 in der Fassung des Teil—Anerkenntnisses vom 11. Januar 2012 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr die Vor- aussetzungen des Merkzeichens "aG" festzustellen. - 7 - Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Der Beklagte ist der Ansicht, dass den Beeinträchtigungen der Geh- und Stehfä- higkeit der Klägerin durch die Zuerkennung des Merkzeichens "G" hinreichend Rechnung getragen worden sei. Eine Gehbehinderung außergewöhnlichen Aus- maßes, wie sie für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" vorliegen müsse, sei bei der Klägerin nicht festzustellen. Medizinische Gesichtspunkte, die eine abwei- chende Entscheidung rechtfertigen, seien nicht vorgetragen worden. Hierzu stützt sich der Beklagte auf die neuerliche versorgungsärztliche Stellungnahme der Frau Dr. F. vom 03. Januar 2012. Das Gericht hat die Prozessakte aus dem zuvor zwischen den Beteiligten geführ- ten Rechtsstreit (Az.: S 8 SB 133/O7) beigezogen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen. Der Akteninhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung. Entscheidungsgründe Die statthafte, form- und fristgerecht erhobene sowie im Übrigen zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Dies steht zur Überzeugung der Kammer auf Grund des Sachverständigengutachtens von Dr. P. vom 02. Oktober 2011 fest. Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden ·neben - 8 - einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen fur schwerbehindeite Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung eines schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 6 Abs 1 Nr 14 Straßenverkehrsge- setz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, fur die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs 1 Nr 1 Schwerbehindeitenausweisverordnung). Eine Definition der außerge- wöhnlichen Gehbehinderung findet sich in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO, neu bekannt gemacht am 26.01.2001, BAnz 2001, Nr 21, S 1419), und zwar dort in Abschnitt II Nr1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 Straßenverkehrsordnung. Danach sind als schwerbehinderte Menschen mit au- ßergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer An- strengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Hierzu zählen Quer- schnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputier- te, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer- stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleich- zustellen sind. Dieselben Kriterien enthält Teil D Nr 3 lit b der als Anlage zu § 2 der Versor- gungsmedizin—Verordnung (VersMedV) erlassenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Ergänzend bestimmt Teil D Nr3 lit c Versorgungsmedizinische Grundsätze: Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Ver- -9- gleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelampu- tierten heranzuziehen ist. (...) Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine sol- che Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzuse- hen. Personen, die nicht zu den in Abschnitt II Nr1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO bei- spielhaft aufgeführten Gruppen von schwerbehinderten Menschen gehören, kön- nen nach den Kriterien dieser Vorschrift nur dann als außergewöhnlich gehbehin- dert angesehen werden, wenn sie diesem Personenkreis gleichzustellen sind. Ei- ne derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialge- richts (BSG) voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich ho- hem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in der Vorschrift aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit frem- der Hilfe fortbewegen kann (BSG, Urteil vom 11.03.1998, Az.: B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbe- hinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperli- cher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Ortho- pädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht ge- eignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vor- angestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10.12.2002, Az.: B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppelober- - 10 - schenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzu- mutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das BSG hat in diesem Zusam- menhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen muss (vgl BSG, Urteil vom 10.12.2002 aaO). Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" im Fall der Klägerin nicht gegeben. Wirbelsäulenfunktionsbe- einträchtigte nach Bandscheibenoperaticn im Hals- und Lendenwirbelsäulenbe- reich nach verheilten Brustwirbelfrakturen bei Radikolopathie werden in Abschnitt 11 Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO als Fallgruppe nicht genannt. Eine Gleich- stellung mit den darin genannten Gruppen von schwerst gehbehinderten Men- schen kommt im Falle der Klägerin auch wegen derr Notwendigkeit, ständig schweres Gerät zum Katheterisieren ihrer Neo-Blase mit sich zu führen, nicht in Betracht. Anlässlich der körperlichen Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. P. Am 25. August 2011 bereitete der Klägerin das Aufstehen im Wartebereich erhebliche Mühen. Das Gangbild war gleichschrittig und unbeholfen. Es zeigte sich kein Ab- rollen der Füße, sondern nur ein tappendes Aufsetzen. Die Klägerin gebrauchte beidseitig Unterarmgehstützen. Die kurze Strecke vom Stuhl zur Liege (3 Meter) vermochte sie ohne Unterarmgehstützen zurückzulegen. Ein freies Stehen ist der Klägerin nicht mehr wirklich lange möglich. Eine aktive Hüftbeugung links gelang nicht. Das Heben des Beines ist nur noch mit Unterstützung möglich. Zusammen- fassend ist von erheblichen Beeinträchtigungen der Klägerin auszugehen. Es be- steht ein Zustand nach multisegmentalen Versteifungen, die bislang keineswegs - 11 - zu einer beschwerdefreien Situation geführt hätten. Hinzu kommt die erhebliche Problematik auf urologischem Fachgebiet. Wegen einer nicht beherrschbaren In- kontinenz wurde ihr eine sogenannte Neo—Blase mit künstlicher Harnableitung über die Bauchdecke eingesetzt. Die Klägerin muss sich ständig über das abdo- minelle Urostoma selbst katheterisieren. Die Inkontinenz besteht weiterhin. Aus den geschilderten Beschwerden resultiert eine Beeinträchtigung der Geh- und Stehfähigkeit der Klägerin. Dieser ist durch die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ausreichend Rechnung getragen worden. Die Voraussetzungen für eine Gleichstellung mit den explizit genannten Fallgruppen liegen jedoch nach den übereinstimmenden Feststellungen des Sachverständigen Dr. P. und der Versor- gungsärztin Dr. F. nicht vor. Größere Anstrengungen, die aus dem Mitsichführen der Utensilien zum Katheteri- sieren resultieren, haben dabei außer Betracht zu bleiben, da es sich hierbei um Bewegungsbehinderungen anderer Art iS des Teil D Nr 3 lit c Versorgungsmedizi- nische Grundsätze und nicht um Einschränkungen des Gehvermögens selbst han- delt. Ebenso verhält es sich, wenn jemand anderes der Klägerin die Sachen zur Erhaltung ihrer Gehfähigkeit trägt. Denn die Notwendigkeit der Hilfe fremder Per- sonen hat sich auf den Gehvorgang selbst und nicht auf die Hilfe etwa beim Transport notwendiger Gegenstände zu beziehen. Auch die Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen aus dem Auto, das nur ge- lingt, wenn die Klägerin bei weit geöffneter Wagentür ihr Bein mit Unterstützung aus dem Auto hebt, rechtfertigt nicht die Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Zwar ist der Klägerin einzuräumen, dass die mit der Anerkennung des Merkzei- ohens "aG" verbundenen erweiterten Möglichkeiten, einen für sie geeigneten Parkplatz zu finden, für ihre Behinderung eine spürbare Erleichterung bedeuten würde. Auf der Grundlage der Ermächtigung in § 6 Abs 1 Nr 14 StVG hat der Ver- ordnungsgeber in § 45 Abs 1b Nr2 StVO den Straßenverkehrsbehörden die Be- - 12 - fugnis eingeräumt, die notwendigen Anordnungen im Zusammenhang mit der Kennzeichnung von Parkmöglichkeiten für schwerbehinderte Menschen mit au- ßergewöhnlicher Gehbehinderung oder anderer - hier nicht in Frage kommender - Beeinträchtigungen zu treffen; die Anlage 2 Abschnitt 3 zur StVO sieht hierfür die Ergänzung der Zeichen 314 (Parken) und 315 (Parken auf Gehwegen) um ein Zu- satzzeichen mit Rollstuhlfahrersinnbild vor. Diese Behindertenparkplätze müssen gemäß Abschnitt IX RdNr 18 zu § 45 Abs 1 bis 14 VwV-StVO iVm DIN 18024-1 so gebaut werden, dass an der Längsseite des Fahrzeugs eine Bewegungsfläche mit einer Breite von 1,50 m bleibt. Damit ist bei einem Behindertenparkplatz immer gewährleistet, dass der Benutzer sein Fahrzeug so einparken kann, dass sich die Fahrertüre unabhängig von anderen Fahrzeugen, die vorschriftsmäßig parken, bis zum Anschlag öffnen lässt. Darüber hinaus hätte die Klägerin mit dem Merkzei- chen "aG" die Möglichkeit, Parkerleichterungen in Form von Befreiungen von Halt- verboten nach Abschnitt I zu §46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO zu erlangen. Die da- durch verfügbaren zusätzlichen Parkplätze wären zwar nicht zwangsläufig behin- dertengerecht, würden aber ihre Möglichkeiten, einen für sie geeigneten Parkplatz zu finden, erhöhen. Das BSG hat in einem vergleichbaren Fall - in dem der Kläger nur ein- und aus- steigen konnte, wenn die Wagentür vollständig geöffnet war - (BSG, Urteil vom 0302.1988, Az.: 9/9a RVs 19/86 = SozR 3870 §3 Nr 28) entschieden, dass das Merkzeichen "aG" nicht zuerkannt werden könne. Der Gesetzgeber habe durch die Formulierung in §3 Abs 1 Nr 1 Schwerbehindertenausweisverordnung inso- weit straßenverkehrsrechtliche Vorschriften für maßgeblich erklärt. Zum Ausgleich von Nachteilen beim Ein- und Aussteigen habe der Bundesminister für Verkehr die Ausnahmegenehmigung nicht geschaffen. Sie sei vielmehr dazu gedacht, den Schwerbehinderten mit dem Pkw möglichst nahe an sein jeweiliges Ziel fahren zu lassen. Der Nachteilsausgleich solle allein die neben der Personenkraftwagenbe- nutzung unausweichlich anfallende tatsächliche Wegstrecke soweit wie möglich verkürzen. Dies bedeute zugleich, dass der Personenkreis eng zu fassen sei. Denn mit der Ausweitung des Personenkreises steige die Anzahl der Benutzer. - 13 - Diesem Umstand könne nur begrenzt mit einer Vermehrung entsprechender Park- plätze begegnet werden, denn mit jeder Vermehrung der Parkflächen werde dem gesamten Personenkreis eine durchschnittlich längere Wegstrecke zugemutet, weil ortsnaher Parkraum nicht beliebig geschaffen werden könne. Das Landesso- zialgericht Berlin hat ebenfalls das Merkzeichen "aG" im Falle eines Schwerbehin- derten verneint, der zum Ein- und Aussteigen die Fahrertür vollständig öffnen musste (LSG Berlin—Brandenburg, Urteil vom 20.042004, Az.; L 13 SB 30/03); die Schwierigkeiten des Klägers seien nämlich nicht durch seine eingeschränkte Fort- bewegungsfreiheit, sondern durch die Beschaffenheit des Parkraums verursacht. Die Kammer schließt sich der zitierten Rechtsprechung an. Sowohl die Parkmög- iichkeiten für schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinde- rung als auch die Befreiungen. von Haltverboten für diesen Personenkreis verfol- gen in erster Linie den Zweck, möglichst kurze Gehstrecken vom Parkplatz bis zum Ziel zu ermöglichen. Dieser Zweck ist nur zu erreichen, wenn der Kreis der Berechtigten so eng wie möglich gezogen wird, weil ein besetzter Behinderten- parkplatz für denjenigen, der einen Parkplatz sucht, ebenso wenig wert ist, wie gar keiner. Deshalb mussen bei der Überlegung, ob ein schwerbehinderter Mensch, der den in Abschnitt II Nr 1 zu §·46 Abs 1 Nr 11 StVO genannten Gruppen von schwerst Gehbehinderten nicht gleichzustellen ist, aber Schwierigkeiten beim Ein- und·Aussteigen aus dem Pkw hat, das Merkzeichen "aG" erhalten soll, nicht nur dessen Vorteile bei der Benutzung von Behindertenparkplätzen sondern auch die aus der Ausweitung des Benutzerkreises resultierenden Nachteile berücksichtigt werden. Bei der Wertung der Vorteile der Klägerin ist zu beachten, dass diese zwar größere Schwierigkeiten als ein gesunder Mensch hat, einen für sie geeigne- ten Parkplatz zu finden, aufgrund ihrer erhaltenen Gehfähigkeit ihre Möglichkeiten hierzu aber immer noch wesentlich besser sind als die der schwerst Gehbehinder- ten, die nur eine Wegstrecke von wenigen Metern zu Fuß zurücklegen können und denen ein wesentlich kleinerer Radius zur Parkplatzsuche als der Klägerin zumut- bar ist. Die Klägerin kann beispielsweise sowohl alle am Straßenrand liegenden Parkplätze benutzen als auch Parkplätze, die auf einer Seite keinen Nachbarplatz - 14 - haben oder die in Parkhäusern neben Stützpfeilern liegen, so dass der Abstand zum Nachbarn zwangsläufig groß genug bleibt, Es besteht die Gefahr, dass der Kreis der Berechtigten erheblich ausgeweitet würde, wenn allein die Notwendig- keit, die Türe vollständig beim Ein- und Aussteigen zu öffnen, ausreichen würde, um einen Anspruch auf das Merkzeichen "aG" auszulösen; insbesondere wäre dann zu erwarten, dass auch viele Menschen mit Wirbelsäulenproblemen oder Adipositas in den Genuss dieses Merkzeichens gelangen würden, was die Chan- cen der schwerst Gehbehinderten, einen günstig gelegenen Parkplatz zu erhalten, drastisch verringern könnte. Da also auf der einen Seite die Situation der Klägerin bei der Parkplatzsuche erheblich besser ist als die der schwerst Gehbehinderten und umgekehrt bei Einbeziehung von Personen, die lediglich Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen haben, eine erhebliche Ausweitung des Personenkreises zu erwarten wäre, die Anspruch auf das Merkzeichen "aG" haben, ist eine solche Ausweitung abzulehnen. Die Klage ist unbegründet. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz. Faksimile 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 ... comment 0 Kommentare |
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