Ausgewählte Rechtsprechung und Rechtsentwicklung
Sonntag, 10. Mai 2015
LSG NSB, L 4 KR 212/04 vom 12.08.2004, Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
LANDESSOZIALGERICHT NIEDERSACHSEN-BREMEN



L 4 KR 212/04 ER

S 11 KR 413/04 ER (Sozialgericht Hannover)!



BESCHLUSS



In dem Rechtsstreit



A.,



Antragsteller und Beschwerdeführer,



Prozessbevollmächtigte:

Rechtsanwälte B.‚



gegen

C.,



Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin,

nicht am Verfahren beteiligt:



Landeshauptstadt Hannover, vertreten durch den Oberstadtdirektor, Fachbereich Recht

und Ordnung, Fachbereichsübergreifende Rechtsangelegenheiten, Schmiedestraße 24,

30159 Hannover,



Beschwerdeführerin,



hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen

am 12. August 2004 in Celle ‚



durch die Richterin S. - Vorsitzende -,



den Richter S. und die Richterin P.



beschlossen:



Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 4. Juni 2004



wird aufgehoben.



Die Antragsgegnerin wird verurteilt, die Fahrkosten des Antrag-

stellers zur Substitutionstherapie (abzüglich etwaiger Zuzahlun-



gen) ab 30. September 2004 bis zum Abschluss der Therapie



- 2 -



bzw. bis zur rechtskräftigen Entscheidung eines Hauptsachever—

fahrens vorläufig zu übernehmen.



Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragstellers zurückge-

wiesen.



Die Beschwerde der Landeshauptstadt Hannover wird verworfen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtli-

chen Kosten zu drei Vierteln zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten

nicht zu erstatten.



Das Verfahren betrifft die vorläufige Übernahme von Fahrkosten zu einer Substitutions-

therapie.



Der Antragsteller ist arbeitslos. Er erhält Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer

Schwierigkeiten nach 5 72 Bundessozialhilfegesetz, deren Durchführung der Landes-

hauptstadt Hannover obliegt. Der Antragsteller unterzieht sich einer Substitutionsbehand-

lung. Hierzu muss er sich täglich in der Praxis des behandelnden Facharztes für Allge-

meinmedizin Dr. D., Hannover, vorstellen. Er ist dazu auf die Benutzung öffentlicher Ver-

kehrsmittel angewiesen.



Im Frühjahr 2004 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die vorläufige

Übernahme der Fahrkosten zur Substitutionsbehandlung in Höhe von 55,00 Euro für eine

Monatskarte der Üstra. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. Mai

2004 ab.



Am 17. Mai 2004 beantragte der Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Hannover die Ge-

währung vorläufigen Rechtsschutzes, den das SG mit Beschluss vom 4. Juni 2004 ab-

lehnte. Gegen den ihm am 17. Juni 2004 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am

13. Juli 2004 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat.



Zuvor hatte der Antragsteller am 30. Juni 2004 die Übernahme der Fahrkosten bei der

Landeshauptstadt Hannover beantragt. In Ansehung des ablehnenden Bescheides der

Antragsgegnerin gewährte die Landeshauptstadt Hannover dem Antragsteller für die Zeit

vom 30. Juni bis 29. September 2004 vorläufig Fahrkosten in Form einer Mobilcard.



Die Landeshauptstadt Hannover ist zum Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz weder

beigeladen noch hat sie einen Antrag auf Beiladung gestellt, der abgelehnt worden wäre.

Gleichwohl hat sie am 13. Juli 2004 Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 4.

Juni 2004 eingelegt.



Die Beschwerde der Landeshauptstadt Hannover ist unzulässig.



- 4 -



Die Landeshauptstadt Hannover ist im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren

weder Antragstellerin noch Antragsgegnerin. Sie ist zum Verfahren auch weder beigela-

den, noch ist ein Antrag auf Beiladung abgelehnt worden. Sie ist daher nicht befugt, ge-

gen den Beschluss des SG vom 4. Juni 2004 ein Rechtsmittel einzulegen (vgl. hierzu:

Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, Vor § 143 Rn. 4).



Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und überwiegend begründet.



Nach § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache

auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Be-

zug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwen-

dung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen für die Zeit

ab 30. September 2004 vor.



Ob ein Anordnungsanspruch gegeben ist, lässt sich im Eilverfahren nicht abschließend

beurteilen.



Nach § 60 Abs. 1 Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung des Gesetzes zur

Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) übernimmt die Kranken-

kasse die Fahrkosten, wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse

aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind (Satz 1). Für Fahrkosten zu ei-

ner ambulanten Behandlung übernimmt die Krankenkasse die Kosten nur nach vorheri-

ger Genehmigung in besonderen Ausnahmefällen, die der Gemeinsame Bundesaus-

schuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB V festgelegt hat ( Satz 3).



§ 8 dieser Krankentransport-Richtlinien vom 22. Januar 2004 (BAnz 2004 Nr. 18) knüpft

die ausnahmsweise Übernahme der Fahrkosten u.a. an die Voraussetzung, dass die Be-

handlung oder der zu dieser Behandlung führende Krankheitsverlauf den Patienten in

einer Weise beeinträchtigt, dass eine Beförderung zur Vermeidung von Schaden an Leib

und Leben unerlässlich ist. Als Ausnahme nennen die Krankentransport-Richtlinien in

Anlage 2: Dialysebehandlung, onkologische Strahlentherapie und onkologische Chemo-

therapie. Nach § 8 Abs. 2 Satz 3 Krankentransport—Richtlinien sind diese Behandlungen

nicht abschließend.



Im vorliegenden Fall wird auch von der Antragsgegnerin nicht bezweifelt, dass der An-

tragsteller zur Substitutionsbehandlung täglich die Praxis des behandelnden Arztes auf-

suchen muss und hierzu auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, deren Kosten er



- 5 -



— der Antragsteller - nicht aus eigenen Mitteln bestreiten kann. Die tägliche Benutzung

öffentlicher Verkehrsmittel ist also erforderlich, damit der Antragsteller überhaupt ärztlich

behandelt werden kann. Nur auf diese Weise können bei ihm Schäden an Leib und Le-

ben vermieden werden. Ob dieser Sachverhalt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1

Satz 3 SGB V erfüllt oder ob — wie die Antragsgegnerin meint — die Beförderung selbst

medizinisch indiziert sein muss, kann der Senat im vorliegenden Eilverfahren nicht ab-

schließend entscheiden.



Daher ist es in Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)

geboten, den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz auf der Grundlage einer Folgenab-

wägung zu entscheiden (so BVerfG, Beschlüsse vom 22. November 2002 — 1 BvR

1586/02 — in NZS 2003, 253 f. und vom 19. März 2004 — 1 BvR 131/04 — in GesR 2004,

246 f.). Danach hat die Antragsgegnerin die Fahrkosten (abzüglich etwaiger Zuzahlungen)

ab 30. September 2004 vorläufig zu übernehmen.



Der Antragsteller muss zur Durchführung der Substitutionsbehandlung täglich zu seinem

behandelnden Arzt fahren. Hierzu ist er — wie die Antragsgegnerin nicht in Abrede stellt —

auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen. Ist ihm das nicht möglich,

muss er die Behandlung abbrechen. Dadurch würde seine Gesundheit in erheblichem

Maße beeinträchtigt. Die ihm entstehenden Nachteile wiegen erheblich schwerer, als die

Nachteile für die Antragsgegnerin, wenn sie die Fahrkosten vorläufig übernimmt. Denn

nach unwidersprochener Feststellung des SG betragen die Kosten für eine Monatskarte

der Üstra nicht mehr als 55,00 Euro.



Die Antragsgegnerin ist zur vorläufigen Übernahme der Fahrkosten jedoch erst ab dem

30. September 2004 verpflichtet. Die Landeshauptstadt Hannover hat die Fahrkosten vor-


läufig bis 29. September 2004 übernommen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Durchfüh-

rung der Behandlung des Antragstellers gesichert. Er hat insoweit keine Nachteile zu be-

fürchten. Die Pflicht zur vorläufigen Fahrkostenübernahme durch die Antragsgegnerin

beschränkt sich daher auf die Zeit vom 30. September 2004 an. Sie dauert bis zur Been-

digung der Substitutionsbehandlung bzw. bis zu dem rechtskräftigen Abschluss eines

Hauptsacheverfahrens.



Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog. Dabei hat der Senat berücksichtigt,

dass der Antragsteller zu einem überwiegenden Teil obsiegt hat.



- 6 -



Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).



S. S. P.

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