Ausgewählte Rechtsprechung und Rechtsentwicklung
Samstag, 9. Mai 2015
BSG, B 14 EG 6/98 B vom 28.01.1999, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT


Beschluß
in dem Rechtsstreit



Az: B 14 EG 6/98 B



Klägerin und Beschwerdeführerin,
Prozeßbevollmächtigter:



gegen



Land Nordrhein-Westfalen,
vertreten durch das Landesversorgungsamt Nordrhein-Westfalen,
Von-Vincke-Straße 23-25, 48143 Münster,
Beklagter und Beschwerdegegner.



Der 14. Senat des Bundessozialgerichts hat am 28. Januar 1999 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. L. , die Richter Dr. U. und
Dr. N. sowie den ehrenamtlichen Richter Dr. D. und die
ehrenamtliche Richterin P.
beschlossen:


Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil
des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. April 1998 wird zurück-
gewiesen.



Kosten sind nicht zu erstatten.



-2-

Gründe:



Die Klägerin begehrt rückwirkende Gewährung von Erziehungsgeld (Erzg) für ihre 1987
geborene Tochter. Sie lebte während der möglichen Bezugszeit des Erzg mit ihrer Familie
in Belgien. Ein seinerzeit gestellter Antrag ist von dem Beklagten unter Hinweis auf ihren
Wohnsitz durch bindenden Bescheid abgelehnt worden. Im Hinblick auf das Urteil des Eu-
ropäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen H und Z (C 245/94 und
312/94) machte die Klägerin im November 1996 erneut den Anspruch auf Erzg geltend;
ihr stehe ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zu, da sie einen Antrag auf Überprü-
fung des bindenden Bescheides und auf Gewährung von Erzg innerhalb der Ausschluß-
frist des § 44 Abs 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nur deshalb versäumt habe,
weil der Beklagte bei der Bescheidung der von ihr anläßlich der Geburt weiterer Kinder in
den Jahren 1990 und 1992 gestellten Anträge auf Erzg weiterhin seine unzutreffende
Rechtsauffassung zugrunde gelegt und sie nicht darauf hingewiesen habe, daß die Frage
der Erzg-Berechtigung von deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen
Mitgliedstaat der Europäischen Union und einem Beschäftigungsverhältnis in Deutschland
bereits Gegenstand eines Rechtsstreits vor dem Landessozialgericht (LSG) gewesen und
von diesem anders beurteilt worden sei als von dem Beklagten. Aus diesem
Fehlverhalten sei ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch erwachsen, der die
Versäumung der Ausschlußfrist des § 44 Abs 4 SGB X heile. In den Vorinstanzen hatte
die Klägerin keinen Erfolg. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.


Mit der dagegen erhobenen Beschwerde macht die Klägerin die grundsätzliche Bedeu-
tung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ) und einen Verfah-
rensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend. Die Frage, ob die Begrenzung einer rückwir-
kenden Leistungsgewährung auf einen Zeitraum von vier Jahren in § 44 Abs 4 SGB X
auch auf den der Klägerin hier zustehenden sozialrechtlichen Herstellungsanspruch an-
zuwenden sei, sei in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht einheit-
lich entschieden worden, was sich insbesondere aus den Urteilen des BSG in SozR 1300
§ 44 Nr 18 einerseits sowie in SozR 1300 § 44 Nr 17 und BSGE 60, 158 andererseits er-
gebe. Diese Rechtsfrage bedürfe weiterer Klärung. Außerdem habe das LSG das Recht
der Klägerin auf Gehör verletzt, weil es das Vorbringen der Klägerin unberücksichtigt ge-
lassen habe, daß dem Beklagten die europarechtliche Fragestellung rechtzeitig bekannt
gewesen sei.


Die Beschwerde der Klägerin ist unbegründet. Sie kann eine Zulassung der Revision we-
der wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) noch
wegen des Vorliegens eines Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründen. Die
Revision kann wegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur zugelassen
werden, wenn die zu entscheidende Rechtsfrage klärungsbedürftig und klärungsfähig ist.
Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, die sich nicht unmittelbar und ohne weiteres aus

-3-



dem Gesetz beantworten läßt und von der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht
entschieden worden ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8). Klärungsfähig ist die Rechts-
frage nur, wenn sie im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich ist (vgl
BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.


Das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß die Anwendung des sozial-
rechtlichen Herstellungsanspruchs dann nicht in Betracht kommt, wenn das fehlerhafte
Handeln der Verwaltung (nur) in einer falschen Sachentscheidung liegt und sich die Fol-
gen darin erschöpfen. Denn für das in richterlicher Rechtsfortbildung entwickelte
Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ist nur dort Raum, wo es an
gesetzlichen Regelungen fehlt (vgl zuletzt Bundesverwaltungsgericht, NJW 1997, 2966).
Dies ist hinsichtlich der Behandlung rechtswidriger Verwaltungsakte nicht der Fall. Hier
hat der Gesetzgeber dem Betroffenen zunächst das Recht eingeräumt, die im SGG vor-
gesehenen Rechtsbehelfe einzulegen (Widerspruch, Klage, Berufung usw). Ist ein derar-
tiger Bescheid bestandskräftig geworden (vgl § 77 SGG), besteht die Möglichkeit eines
Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X. Damit ist die Korrektur von Verwaltungsentschei-
dungen, welche die Rechte eines Betroffenen verletzen, grundsätzlich abschließend ge-
regelt (so die neueste Rechtsprechung des BSG im Anschluß an: BSGE 60, 158, 164 ff
= SozR 1300 § 44 Nr 23, vgl Urteil des 13. Senats vom 30. Oktober 1997 - 13 RJ 71/96
= SGb 1998, 110 sowie Urteil des 5. Senats vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 36/96 = NZS 1998,
247, beide zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).


Allerdings hat die Rechtsprechung des BSG einen Herstellungsanspruch dann für möglich
gehalten, wenn sich der Nachteil des Betroffenen nicht in der Versagung der Leistung
durch einen bindend gewordenen Bescheid erschöpft, sondern darauf beruht, daß der
Betroffene im Vertrauen auf die Richtigkeit der dem Bescheid zugrundeliegenden Rechts-
auffassung andere, ihm günstige Maßnahmen unterlassen hat (BSG SozR 1300 § 44
Nr 18), insbesondere eine anderweitige rechtzeitige Antragstellung. Insoweit ist der Vor-
trag der Klägerin nachvollziehbar, daß die ebenfalls unrichtigen späteren Bescheide über
das Erzg für die weiteren Kinder von 1990 und 1992 als solche zwar nach § 44 SGB X
korrigierbar waren und insoweit, als es um die Leistungsversagung in diesen beiden Fäl-
len ging, die Anwendung des Herstellungsanspruchs ausschlossen, nicht aber insoweit,
als der erste, hier streitige Fall betroffen ist, für den als Fehlverhalten der Verwaltung nicht
nur die falsche Bescheiderteilung an sich, sondern eine Bestätigung der falschen Rechts-
auffassung in den nachfolgenden Bescheiden sowie eine unterbliebene Aufklärung über
die anderweitig anhängigen Verfahren geltend gemacht wird, was zur Versäumung der
Frist des § 44 Abs 4 SGB X geführt habe.


Auch wenn die Klägerin im Wege des Herstellungsanspruchs so gestellt werden müßte,
daß ihr erst 1996 gestellter "Zugunstenantrag" bereits als 1992 gestellt gilt, führt dies je-
doch nicht dazu, daß ihr Leistungen rückwirkend ab 1988 zu gewähren wären. Denn es ist

-4-



- wie das BSG bereits geklärt hat (vgl BSGE 60, 245) - auf den Herstellungsanspruch die
eine rückwirkende Leistungsverpflichtung begrenzende Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X
entsprechend anwendbar, so daß hier eine nachträgliche Leistung für die Zeit vor 1992
nicht mehr in Betracht kommt. Auch wenn der Fall einer Wiedereinsetzung wegen
Versäumung der Frist des § 44 Abs 4 SGB X im Wege des Herstellungsanspruchs (vgl
dazu Ladage, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, 1990, 87, 92) in der Rechtspre-
chung des BSG noch nicht entschieden worden ist, bedarf es nicht der Durchführung ei-
nes Revisionsverfahrens in dieser Sache. Die Entscheidung läßt sich ohne weiteres an-
hand der bisherigen Rechtsprechung treffen, die § 44 Abs 4 SGB X als Ausdruck eines
allgemeinen Rechtsgedankens bezeichnet hat, der eine mehr als vier Jahre zurückrei-
chende Leistungserbringung ausschließt (BSGE 60, 245).


Der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensfehler der Verletzung des rechtlichen
Gehörs kann nicht zur Zulassung der Revision führen, weil er - als gegeben unterstellt - in
der Sache nicht zum Erfolg führen könnte.



Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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