Ausgewählte Rechtsprechung und Rechtsentwicklung
Freitag, 8. Mai 2015
BGH, II ZR 124/76 vom 19.01.1978, Bundesgerichtshof
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20, BGB § 203
Die Verjährung wird gehemmt, auch wenn die arme Partei
das Gesuch um Bewilligung des Armenrechts für die Er-
hebung der Klage zwar noch innerhalb der Verjährungs-
frist, aber so spät - auch noch am letzten Tage - bei
Gericht einreicht, daß darüber nicht mehr vor Frist-
ablauf entschieden werden kann (Abweichung von BGHZ 17,
199 und 37, 113).
BUNDESGERICHSTHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
II ZR 124/76
verkündet am 19. Januar 1978
Justizobersekretär
Als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit des Fischermeisters … K …
Klägers und Revisionsklägers,
- Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt … -
gegen
die Gesellschaft für K … und K … mbG,
gesetzliche vertreten durch den Geschäftsführer Manfred P …
Beklagte und Revisionsbeklagte,
- Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt … -
Tatbestand:
Der Fischkutter "Anneliese" des Klägers, eines
selbständigen Fischermeisters, ist am 4. März 1973
nach einer Kollosion mit MS "Hanseat III" der Beklagten
in der Lübecker Bucht gesunken. Der Kläger verlangt
Ersat eines Teils seines nicht durch Versicherung
gedeckten Schadens. Er ist der Auffassung, die Schiffs-
führung von MS "Hanseat III" habe durch ihr Verschulden
den Schiffszusammenstoß überwiegend verursacht Die
Parteien haben bis August 1974 außergerichtlich über
eine vergleichsweise Regelung verhandelt konnten sich
aber nicht über die Schadensquote einigen. Am
- 3 -
23. Oktober 1974 beantragten die vom Kläger bevoll-
mächtigten Rechtsanwälte beim Landgericht Lübeck das
Armenrechts für eine Klage über 37 061,22 DM nebst Zinsen.
Mit Schriftsatz vom 26. November 1974, der einen Tag
später bei Gericht einging, rügte die Beklagte unter
anderem die Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts,
mit dem Hinweis, daß sie ihren Sitz in Hamburg habe.
Die Anwälte des Klägers erwiderten mit Schriftsatz vom
10. Februar 1975, der am 19. Februar beim Landgericht
Lübeck eingegangen ist. Sie beantragten unter Erweiterung
des Gesuchs auf ca. 49 704,53 DM das Armenrechtsverfahren
an das Landgericht Hamburg abzugeben. Diesem Antrag hat
das Landgericht Lübeck entsprochen. Die Akten trafen am
3. März 1975 beim Landgericht Hamburg ein. Die zunächst
der Zivilkammern 10 zugeleitete Sache wurde an die Zivil-
kammer 6 abgegeben und anschließend, auf Antrag der Be-
klagten, an die Kammer für Handelssachen verwiesen. Nach-
dem die Beklagte sich auf Verjährung berufen hatte, hat
das Landgerichts durch Beschluß vom 4. Juni 1975 dem Kläger
das Armenrecht versagt. Seine Beschwerde wurde durch Be-
schluß des Oberlandesgerichts vom 18. August 1975 zurück-
gewiesen. Am 2. September 1975, der Beklagten zugestellt
am 4. September 1975, erhob der Kläger Klage mit dem Antrag,
die Beklagte zu verurteilen, 39.763,63, DM nebst 4 %
Zinsen seit dem 21. Oktober 1973 zu bezahlen.
Die Beklagte hat erneut die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Landgericht und das Oberlandesgericht haben die
Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt
der Kläger seinen Klageanspruch weiter.
- 4 -
Entscheidungsgründen:
Das Berufungsgericht hat den auf § 736 Abs. 1 HGB
gestützten Schadensersatzanspruch für verjährt und die
Klage schon aus diesem Grunde für abweisungsreif ge-
halten. Dem ist jedoch, wie die Revision zu Recht geltend
macht, nicht zu folgen.
Ansprüche dieser Art verjähren gemäß § 901 Satz 2
Nr. 2 HGB a.F. und § 902 Nr. 2 HGB i.d.F. d. Seerechts-
änderungsgesetzes vom 21. Juni 1972, BGBl I 1513 (= n. F.)
in zwei Jahren vom Ablauf des Kollosionstags
an gerechnet (§ 903 HGB). Diese Frist war am 4. März 1975,
also bevor der Kläger am 4. September 1975 Klage erhob,
abgelaufen. Die Einreichung des Armenrechtsgesuchs hat
die Verjährung nicht unterbrochen; eine dahingehende
gesetzliche Regelung besteht nicht (§ 209 BGB). Die Ver-
jährung war jedoch gehemmt (§ 203 BGB), weil der Kläger
wegen des Unvermögens, die Prozeßkosten zu tragen, während
der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch - im
Sinne jener Vorschrift - „höhere Gewalt" an der Rechts-
verfolgung gehindert war.
Das entspricht allerdings bei dem vorliegenden Sach-
verhalt nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundes-
gerichtshofes, der sich das Berufungsgericht angeschlossen
hat (BGHZ 17, 199; BGH, Urt. v. B. 5. 56 - VI ZR 58/55,
LM BGB § 254 [E] Nr. 2; v. 28. 9. 59 - III ZR 75/58,
VersR 1960, 60; v. 20. 6. 60 - III ZR 127/59, VersR 1960,
951; BGHZ 37, 113; v. 30. 9. 69 - VI ZR 54/68, DAVorm. 70,
10; v. 8. 3. 77 - VI ZR 142/75, VersR 1977, 622). Danach
soll der Umstand, daß das Gericht erst nach Fristablauf
- 5 -
entscheidet, nur dann einen Fall höherer Gewalt dar-
stellen, wenn der Berechtigte alles in seinen Kräften
Stehende getan hat, um eine rechtzeitige Bewilligung
des Armenrechts zu erreichen und damit eine Klage-
erhebung noch vor Ablauf der Verjährung zu ermöglichen.
Diese Voraussetzungen waren hier nicht erfüllt. Denn
die Beklagte, die ihren Sitz in Hamburg hat, hatte
schon mit Schriftsatz vom 26. November 1974 die örtliche
Zuständigkeit des vom Kläger zum Zwecke der Armenrechts-
bewilligung angerufenen Landgerichts Lübeck gerügt.
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers stellte jedoch
erst am 19. Februar 1975, also mehr als zwei Monate
später, beim Landgericht Lübeck den Antrag, das Armen-
rechtsverfahren an das Landgericht Hamburg abzugeben.
Nach dieser vom Kläger oder seinen Anwälten zu vertretenden
Verzögerung konnte mit einer Entscheidung des Landgerichts
Hamburg bis zum 4. März 1975 nicht mehr gerechnet werden.
An der Auffassung, die Verjährung werde nur gehemmt,
wenn die unbemittelte Partei so frühzeitig das Armenrecht
beantrage, daß darüber bei gewöhnlichem Geschäftsgang
des Gerichts noch innerhalb der Verjährungsfrist ent-
schieden und Klage erhoben werden können, kann jedoch nicht
festgehalten werden.
Im Bereich des Rechtsschutzes gebietet es der allge-
meine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung
mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), die
prozessuale Stellung von Bemittelten und Unbemittelten
weitgehend anzugleichen (BVerfGE 9, 124, 131; 10, 264,
270). Der unbemittelten Partei darf daher die Rechtsver-
folgung und -verteidigung im Vergleich zur bemittelten
- 6 -
nicht unverhältnismäßig erschwert werden (BVerfGE 2, 336,
340; 9, 124, 130, 131). Daraus hat das Bundesverfassungs-
gericht unter anderem hergeleitet, daß es gegen Art. 3
Abs. 1, 20 Abs. 1 GG verstoße, im Zivilprozeß einem unbe-
mittelten Rechtsmittelkläger, der nach Bewilligung des
Armenrechts die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag
(§ 234 Abs. 1 ZPO) versäumt hat, keine Wiedereinsetzung
zu gewähren (BVerfGE 22, 83).
Nach Ansicht des Senats sind diese Grundsätze auch
im vorliegenden Falle anzuwenden; sie erfordern es, die
Hemmung der Verjährung auch dann eintreten zu lassen, wenn
ein ordnungsgemäß begründetes und vollständiges Armen-
rechtsgesuch zwar noch innerhalb der Verjährungsfrist, aber
so spät - unter Umständen noch am letzten Tag - eingereicht
wird, daß darüber vor Fristablauf nicht mehr entschieden
werden kann.
Die gegenwärtige Rechtspraxis benachteiligt die unbe-
mittelte Partei und führt außerdem zur Rechtsunsicherheit
im Einzelfall: Einer bemittelten Partei steht der volle
Zeitraum, in dem die Verjährung läuft, für außergericht-
liche Verhandlungen und zur Vorbereitung der Klage zur
Verfügung, da sie noch am letzten Tage der Frist die Ver-
jährung durch Klageerhebung oder eine gleichstehende Maß-
nahme (§§ 209 BGB, 270 Abs. 3 n.F. ZPO) unterbrechen kann.
Für die unbemittelte Partei führt dagegen die Verpflichtung,
im Armenrechtsgesuch eine vollständige Sachdarstellung zu
geben (BGH, Urt. v. 27. 11. 1959 - VI ZR 112/59, LM BGB § 203
Nr. 6) und das Armenrecht so rechtzeitig zu beantragen,
daß darüber innerhalb der Verjährungsfrist entschieden
werden kann, zu einer Verkürzung dieser Frist. Ebenso
schwerwiegend wie dieser Nachteil ist die Unsicherheit,
mit der die arme Partei belastet wird. Dies gilt zu-
nächst für die Pflicht, das Armenrecht so rechtzeitig
zu beantragen, daß wirklich vor Ablauf der Verjährung
darüber entschieden werden kann (BGHZ 17, 199, 202).
Damit wird von der armen Partei eine Prognose verlangt,
die sie nicht zuverlässig stellen kann, weil sie nicht
alle Umstände kennt, die den Gang des Verfahrens beein-
flussen werden. Die unbemittelte Partei ist daher dem
Risiko ausgesetzt, nachträglich gesagt zu bekommen, sie
habe das Armenrechtsgesuch nicht „rechtzeitig" eingereicht.
Von Unsicherheit geprägt ist auch die Bestimmung des Zeit-
punkts für den Beginn der Hemmung. Nach der hierfür ver-
wendeten Formel tritt die Hemmung der Verjährung in dem
Augenblick ein, in dem der Kläger bei sachgemäßer Be-
handlung eine Entscheidung über sein Armenrechtsgesuch
erwarten konnte (BGHZ 17, 202; 37, 113, 122). Der Beginn
der Verjährungshemmung und damit auch ihre Dauer hängen
danach von dem unbestimmten, verschiedener Deutung zugäng-
lichen Begriff der "sachgemäßen" Behandlung des Armenrechts-
verfahrens ab. Da0 darin für die arme Partei eine Risiko
liegt, sich hinsichtlich der Dauer der Hemmung der Ver-
jährung zu "verrechnen", liegt auf der Hand. Die darge-
legten Umstände bedeuten für die arme Partei eine unver-
hältnismäßige Erschwerung der Rechtsverfolgung im Vergleich
zu der bemittelten. Darauf, daß die Belange der um das
Armenrecht nachsuchenden Partei durch die Zustellung eines
Mahnbescheids oder die Anbringung eines Gütevertrags nicht
hinreichend gewahrt sind, hat bereits das Reichsgericht
(RGZ 163, 9) hingewiesen. Bei einer am Gerechtigkeits-
gedanken orientierten Betrachtungsweise erscheint die
weitgehende Angleichung der Stellung der armen an die
der vermögenden Partei nur durch eine Regelung gewähr-
leistet, die es ersterer erlaubt, die Verjährungsfrist
in vollem Umfange zu nutzen (vgl.. auch BGHm Urt v.
4. 3. 77 -V ZR 236/75, VersR 1977, 665 u. Kollhoser,
VersR 1974, 829 zu der ähnlichen Problematik bei § 12
Abs. 3 VVG). Deshalb ist nach Auffassung des Senats
bei verfassungskonformer Anwendung des § 203 Abs. 2 BGB
eine Partei durch höhere Gewalt an der Rechtsverfolgung
verhindert, wenn sie am Tage des Ablaufs der Verjährungs-
frist infolge Armut keine Klage erheben kann, aber spätestens
in diesem Zeitpunkt das zur Behebung des Hindernisses not-
wendige Armenrechtsverfahren durch ein ordnungsgemäß be-
gründetes und vollständiges Armenrechtsgesuch eingeleitet
hat. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dann tritt die Hemmung
der Verjährung ein, und sie dauert grundsätzlich fort, bis
die arme Partei nach der Entscheidung über das Armenrechts-
gesuch bei angemessener Sachbehandlung in der Lage ist,
ordnungsgemäß Klage zu erheben. Eine solche Regelung wider-
spricht weder dem Wortlaut noch dem Sinn des Gesetzes.
Sie belastet auch nicht den Schuldner der unbemittelten
Partei in unangemessener Weise. Die dadurch in der Regel
eintretende Verlängerung der Verjährungsfrist hält sich
in vertretbarem Rahmen, und der Schuldner erfährt zur
gleichen Zeit wie bei Klageerhebung von der beabsichtigten
Rechtsverfolgung und kann sich darauf einstellen.
Für den vorliegenden Fall folgt daraus, daß die mit
der Klage geltend gemachte Schadensersatzforderung nicht
verjährt ist. Das Armenrechtsgesuch ist, da es am letzten
Tage der Verjährungsfrist dem Gericht vorlag, rechtzeitig
gestellt. Dem Kläger - der seine Armut glaubhaft gemacht
hatte - sind auch im weiteren Verlauf des Armenrechtsver-
fahrens keine Umstände, die eine Verzögerung der Armen-
rechtsentscheidung nach sich gezogen haben, als Verschulden
- 9 -
mit der Folge anzurechnen, daß von höherer Gewalt im
Sinne von § 203 Abs. 2 BGB nicht mehr gesprochen werden
könnte. Der Kläger wurde durch Verfügung des Vorsitzenden
der Zivilkammer 6 des Landgerichts Hamburg, die am
7. April 1975 an die Rechtsanwälte abgesandt worden ist,
aufgefordert, ein Armen-Attest neueren Datums vorzulegen.
Dem ist er nachgekommen, indem er am 5. Mai 1975 ein
weiteres Zeugnis zur Erlangungen einstweiliger Kosten-
befreiung eingereicht hat. Darauf, ob dieser Erledigungs-
zeitraum angemessen war, kommt es nicht an. Die Verzögerung
der Entscheidung über das Armenrechtsgesuch hätte selbst
dann nicht auf diesem Vorgang beruht, wenn das Armuts-
zeugnis etwas früher hätte vorgelegt werden können. Das
Landgericht hatte nämlich in der gleichen Verfügung die
Beklagte aufgefordert zu erklären, ob sie Verweisung an
die Kammer für Handelssachen beantragen wolle. Der Ent-
sprechende Antrag ist am 29. April 1975 beim Landgericht
eingegangen. Die Zivilkammer hat daraufhin durch Beschluß
vom 23. Mai 1975 das Verfahren an die Kammer für Handels-
sachen abgegeben. Zu dieser Zeit aber hat das neue Armuts-
zeugnis des Klägers vorgelegen. Der Umstand, daß der Kläger
nicht sogleich beim Landgericht Lübeck beantragt hat, das
Verfahren an die Kammer für Handelssachen des Landgerichts
Hamburg abzugeben, kann ihm nicht zum Nachteil gereichen.
Nach § 96 Abs. 1 GVG ist der Kläger nicht verpflichtet
zu beantragen, daß der Rechtsstreit vor der Kammer für
Handelssachen verhandelt werden solle.
Schließlich ist die Klage auch rechtzeitig nach Ab-
schluß des Armenrechtsverfahrens erhoben worden. Das Armen-
recht wurde dem Kläger durch Beschluß des Berufungsgerichts
vom 18. August 1975 endgültig versagt. Eine Ausfertigung
dieses Beschlusses ging am 21. August 1975 an die
Anwälte des Klägers ab. Mit Schriftsatz vom 1. Septem-
ber 1975, der bei Gericht am 2. September eingegangen
ist, hat der Kläger Klage erhoben. Diese ist am
4. September 1975 zugestellt worden. Der Kläger hat
also spätestens zwei Wochen, nachdem er von dem nega-
tiven Ausgang des Armenrechtsverfahrens Kenntnis erlangt
hatte, die Klage eingereicht. In Anwendung des Rechts-
gedankens von § 234 Abs. 1 ZPO ist der Partei nach
Kenntnis vom Abschluß des Armenrechtsverfahrens eben-
falls eine zumindest zweiwöchige Frist zur Vorbereitung
der Klage zuzubilligen. Ob diese im Einzelfall über-
schritten werden darf, braucht hier nicht entschieden
zu werden.
Aus all dem folgt, daß die Verjährung des Schadens-
ersatzanspruchs des Klägers bis zur Erhebung der Klage
gehemmt war. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht.
Ein Grund zur Vorlage dieser Sache an den Großen
Senat für Zivilsachen bestand nicht. Der III. und der
Vl. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes haben auf Anfrage
erklärt, daß sie an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung
nicht mehr festhalten.
S. Dr. S. F. Dr. B. B.

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