Ausgewählte Rechtsprechung und Rechtsentwicklung
Freitag, 8. Mai 2015
BSG, 2 RU 61/60 vom 29.09.1965, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht

Az.: 2 RU 61/60

Im Namen des Volkes

29. September 1965

In dem Rechtsstreit

Verkündet am

Beklagte und Revisionsklägerin,

1. ,
2. ,

Kläger und Revisionsbeklagte,

hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts auf die
mündliche Verhandlung vom 29. September 1965 durch

Senatspräsident B.
- Vorsitzender -
Bundesrichter D. und
Bundesrichter H. ,
Bundessozialrichter Dr. S. und
Bundessozialrichter H.

für Recht erkannt:

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-
Westfalen vom 24. November 1959 wird mit den ihm
zugrunde liegenden Feststellungen aufgehohen.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Ent-
scheidung an das Landessozialgericht zurückver-
wiesen.

- 2 -

Gründe:

I

Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, der Kläger zu 2) der Sohn
des Franz D. (D.). Die Kläger beanspruchen Hinterblie-
nenenentschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung
(UV). Sie sind der Auffassung, den der Tod des D. am
22. Juni 1954 die Folge eines Arbeitsunfalls vom 19. Juni 1954
sei.

Ans dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ergeben sich ua
folgende tatsächlichen Feststellungen:

Der am 3O. März 1907 geborene D. war von Beruf gelernter
Schreiner und in einem Unternehmen beschäftigt, das der be-
klagten Berufsgenossenschaft (EG) als Mitglied angehört. Er
hatte an den Tagen vor dem 19. Juni 1954 bei dem Hausbau sei-
nes Schwagers P. laufend mitgearbeitet und am 18. Juni
1954 den Polizeimeister Schl. bei schweren Arbeiten gehol-
fen und ihm zugesagt, am nächsten und übernächsten Tag wie-
der mitzuhelfen. Weder seinem Schwager noch dem Polizeimei—
ster Sch. hatte D. Angaben über körperliche Beschwerden
gerecht. An Morgen des 19. Juni 1954 ging er wie üblich zu
seiner Arbeitsstätte, ohne über irgendwelche körperlichen
Beschwerden zu klagen. Um die Mittagszeit traf der Polizei-
meister Sch. ihn auf dem Weg von der Arbeitsstätte nach
hause. Auf die Frage, ob er am Nachmittag beim Bau wieder
helfen würde, erwiderte D., er könne leider nicht, er habe
bei der Arbeit ein Brett vor sein Geschlechtsteil bekommen
und große Schmerzen. Nachdem er zur üblichen Zeit nach Hause
gakommen war, setzte er sich an den Mittagstisch und ließ
das Essen unberührt. Seiner Ehefrau sagte er nur, er habe
einen anstrengenden Tag gehabt. Er begab sich zu Bett,
stand später wieder auf, brach aber nach zwei Minuten zusam-
men und mußte ins Bett gebracht werden. Während der Nacht

- 3 -

klagte er über große Schmerzen. Am Sonntag (20. Juni 1954)
verschlimmerte sich der Zustand derart, daß der praktische
Arzt Dr. Z. gerufen werden mußte. Diesem gab D. an,
ihm sei während der Arbeit ein Brett zwischen die Beine
gefallen und gegen das Geschlechtsteil geschlagen. Der Arzt
stellte hohes Fieber fest und veranlaßte die Einweisung in
das Dreifaltigkeitshospital in Lippstadt. Dort gab D. an,
er habe am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr vom Holzlager ein
Brett holen wollen. Die Bretter seien nachgerutscht und
dabei habe sich der Penis eingeklemmt. Dem Elektromeister
W., der mit D. auf einem Zimmer lag, erzählte D., er
habe am Samstag morgen gegen 11 Uhr einen Unfall gehabt.
Er habe von einem Stapel Bohlen eine 30 mm dicke Bohle her-
ausgezogen. Der Stapel sei ihm bis in Bauchhöhe gegangen.
Beim Fallenlassen der Bohle hätte diese mit dem Ende das
Geschlechtsteil eingeklemmt. Von Montagnachmittag an ver-
schlimmerte sich der Zustand des D. Es trat hohes Fieber
und ein Brand des Penis ein. Am Dienstag, dem 22. Juni 1954
um 9.50 Uhr ist D. gestorben.

Der Chefarzt des Dreifaltigkeitshospitals, Dr. Sch.,
teilte der Beklagten noch am 22. Juni 1954 fernmündlich
mit, daß es sehr zweifelhaft sei, ob die Penisinfektion,
die zum Tode geführt habe, auf den geschilderten Unfall-
hergang am 19. Juni 1954 zurückzuführen sei. Eine Obduktion
der Leiche sei zur Aufklärung erforderlich. Am 24. Juni 1954
teilte der gleichfalls im Dreifaltigkeitshospital tätige
Arzt Dr. B. der Beklagten fernmündlich mit, daß der
Schwager des Verstorbenen vorgesprochen und mitgeteilt habe,
die Witwe werde wegen des Arbeitsunfalls Ansprüche geltend
machen.

Die Beklagte zog die Akten der Staatsanwaltschaft bei,
Landgericht Paderborn bei, die am 17. August 1954 bei ihr
eingingen. In diesen Akten befindet sich ua ein Bericht
der Kriminalpolizei in Lippstadt vom 24. Juni 1954, in dem

- 4 -

hervorgehoben wird, daß der Witwe von der BG vermutlich
Schwierigkeiten bereitet werden würden, weil die Todes-
ursache und der Betriebsunfall ziemlich unklar seien. Aus
den Akten ergibt sich weiterhin, daß das Amtsgericht in
Lippstadt der Auffassung war, der Sachverhalt und das
Ermittlungsergebnis sprachen eindeutig für einen Betriebs-
unfall, die Schuld eines anderen sei nicht ersichtlich,
und daß die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Ermitt-
lungsverfahrens verfügt hat, weil kein Verdacht einer
strafbaren Handlung vorliege.

Die Beklagte stellte noch Ermittlungen in dem Unternehmen
an, in dem D. beschäftigt gewesen war. Diese ergaben, daß
weder den Arbeitskameraden noch den Vorgesetzten von einem
Unfall etwas bekannt war und D. auch weder den Werkssani—
täter noch den Durchgangsarzt aufgesucht hatte. Aus einer
Auskunft der Betriebskrankenkasse ergibt sich, daß D. vor
dem Unfall nicht an einem Leiden erkrankt gewesen ist,
das mit einer Penisinfektion in Zusammenhang stehen könnte.

In dem Durchgangsarztbericnt des Dr. Sch. .vom 22. Juni
1954 ist als Diagnose angegeben: "Infizierte Penisverlet-
zung mit septischer Aussaat", und ausgeführt, es werde ein
Arbeitsunfall bezweifelt, da eine Infektion nach einem
Tage nicht solche Ausmaße annehmen könne; D. habe sich
die Verletzung anderswo zugezogen; eine Überprüfung werde
für unbedingt erforderlich gehalten. In einem weiteren
Gutachten vom 20. Oktober 1954 führte Dr. Sch. ua aus,
die Angaben des Patienten seien sofort unglaubwürdig gewe-
sen: es sei schlecht vorstellbar, daß beim Herabfallen
von Brettern eine isolierte Penisverletzung auftrete; man
hätte wenigstens einige Schrammen an den Oberschenkeln
erkennen müssen; auch trete bei einer Penisverletzung
erfahrungsgemäß nicht innerhalb von Stunden eine Nekrose
auf; leider sei eine Sektion unterlassen worden.

- 5 -

Durch Bescheid vom 26. November 1954 lehnte die Beklagte den
Anspruch der Witwe und des Sohnes Franz H. auf Hinter-
bliebenenentschädigung ab. Sie begründete das unter ausführ-
licher Wiedergabe des Ermittlungsergebnisses damit, daß
sowohl das Vorliegen eines Unfallereignisses als auch der
ursächliche Zusammenhang des Todes mit einem Unfallereignis
nicht hinreichend wahrscheinlich seien.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger Klage beim Sozial-
gericht (SG) Dortmund erhoben. Dieses hat ein Gutachten von
Prof. Dr. B. (Knappschaftskrankenhaus Bottrop) vom
1O. Dezember 1955 beigezogen. Das Gutachten kommt zu dem
Ergebnis, es lasse sich keine Erklärung für die Vorfälle
finden, welche auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlich-
keit erlauben, den Unfall — bei seiner Unterstellung als
gegeben — als Ursache für die Entzündung des Penis und den
weiteren Verlauf anzuerkennen. Der Unfall sei in der durch
den Elektromeister W. wiedergegebenen Form ungeeignet,
eine Einklemmung des Penis zu verursachen, und weder das
Krankheitsbild noch der Verlauf seien in eine Kausalverbin-
dung mit dem Unfall zu dringen. Außerdem hat das SG
Dr. Sch. als sachverständigen Zeugen gehört. Dieser hat
ua ausgeführt: Es seien zwar äußere Anzeichen einer trauma-
tischen Beeinflussung vorhanden gewesen, doch habe die Krank-
heit innerhalb von 24 Stunden einen derart schnellen Ver-
lauf genommen, daß sie nicht auf einen Unfall vom Vortage
zurückgeführt werden könne. Es sei anzunehmen, daß schon
vorher eine Infektion bestanden habe. Wenn man die Richtig-
keit der schwersten Darstellung des Unfalles unterstelle,
sei dieser geeignet, bei bereits vorhandener Infektion eine
erhebliche Steigerung des Krankheitsverlaufs zu bewirken.
Ohne eine solche traumatische Beeinflussung wäre D. an der
Infektion voraussichtlich nicht gestorben.

Das SG hat durch Urteil vom 2. Oktober 1956 wie folgt ent-
schieden:

- 6 -
·
Der Bescheid vom 26. November 195A wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, daß es sich bei dem Ereignis
vom 19. Juni 1954 um einen Arbeitsunfall des Ehe-
mannes der Klägerin im Sinne des § 542 der Reichs-
versicherungserdnungordnung (RVO) handelt.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen
entsprechenden Bescheid zu erteilen und die Kosten
des Verfahrens zu tragen.
·
Das SG hat als erwiesen angesehen, daß D. von einem unbeo-
bachteten Lagerplatz eine schwere Bohle abholen wollte und
daß das Abheben oder Herausstemmen aus dem Stapel und das
Herunterfallen zu einem Schlag gegen die Geschlechtsteile
bzw. einem Einklemmen des Penis geführt hat. Im Übrigen hat
es als erwiesen angesehen, daß eine bereits vor dem 19. Juni
1954 vorhandene Pensisinfektien, die normalerweise geheilt
werden wäre, durch ein in seiner Stärke nicht erwiesenes,
aber doch recht schweres Trauma eine solche Verschlimme-
rung bewirkt habe, daß in kurzer Zeit der Tod eingetreten
sei.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung beim Landes-
sozialgericht Nordrhein—Westfalen eingelegt. Das LSG
hat ein Gutachten des Dr. Sch. vom 22. November 1954
beigezogen, in dem ua ausgeführt wird, bei der Aufnahme
seien keine sicheren Anzeichen einer Verletzung im Sinne
einer Quetschung, Prellung oder Schnittverletzung festzu-
stellen gewesen; aus dem Befund sei aber der Rückschluß zu
ziehen, daß zwar eine Verletzung stattgefunden, der Zeit-
punkt aber mindestens mehrere Tage zurückgelegen haben
müsse.

In Termin zur mündlichen Verhandlung am 14. November 1959
hat das LSG den Polizeimeister Sch. den Elektromeister
W. als Zeugen und die Ärzte Dr. Z. und Dr. Sch.
als sachverständige Zeugen vernommen. Außerdem hat es den
Oberarzt Dr. K. als Sachverständigen gehört. Dieser hat ua

- 7 -

ausgeführt, auch ohne Trauma könne es jederzeit zu einer
Infektion derart, wie sie bei D. vorgelegen haben müsse,
kommen, weil praktisch immer kleine Schleimhautdefekte am
Vorhautblatt vorhanden seien. Andererseits bestehe aber
die Möglichkeit, daß durch den Unfall mikroskopische Ver-
letzungen gesetzt worden seien, die Eintrittspforten für
die Erreger gebildet hätten. Ob das der Fall sei, könne
nachträglich nicht mehr gesagt werden und wäre nur durch
eine Obduktion mit mikroskopischer Untersuchung und bak-
teriologischem Nachweis der Erreger zu klären gewesen. Ob
der Unfall die Infektion wesentlich verschlimmert habe,
hätte gleichfalls nur durch Obduktion geklärt werden kön-
nen. Hierfür wären stärkere Gefäßquetschungen und Zer-
reißungen Voraussetzung gewesen. Der Unfall könne nicht
schwer gewesen sein. Damit sei aber nicht ausgeschlossen,
daß doch oberflächliche Verletzungen gesetzt werden seien.

Durch Urteil vom 24. November 1959 hat das LSG die Beru-
fung der Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund zurück-
gewiesen und die Revision zugelassen.

Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß sich am 19. Juni 1954
gegen 11 Uhr an der Arbeitsstelle ein Arbeitsunfall ereignet
hat, indem D. beim Herausziehen einer Bohle aus einem Bret-
terstapel auf dem Holzplatz vor der Schreinerei ein Brett
gegen das Geschlechtsteil geschlagen ist. Zur Begründung
hat das LSG unter eingehender Würdigung der Beweisergebnisse
ausgeführt, bei vernünftiger Abwägung aller Umstände, die
für und gegen das von D. selbst angegebene Unfallgeschehen
sprächen, überwögen die dafür sprechenden Erwägungen in
einer solchen Weise, daß das Unfallereignis als wahrschein-
lich geschehen angenommen werden müßte.

Im übrigen hat das LSG ausgeführt: Zu welcher Gesundheits-
schädigung der Arbeitsunfall geführt habe (schwere Penis-
infektion oder Verschlimmerung), habe sich nicht mit Wahr-
scheinlichkeit feststellen lassen. Die Infektion könne ihre

- 8 -

Entstehung und ihren Verlauf unabhängig von dem Arbeits-
unfall genommen haben; bei Mitwirkung ungewöhnlich viru-
lenter Bakterien könne sie auch auf einer durch Unfall
hervorgerufenen Verletzung beruhen, und schließlich könne
eine bereits vorhanden gewesene Infektion durch das Unfall-
ereignis derart verschlimmert werden sein, daß der rasche
weitere Verlauf und der Tod eingetreten seien. Eine Wahr-
scheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit lasse
sich nicht begründen. Die Unterlagen reichten für eine
Beurteilung nicht aus, welche Krankheitserreger für den
Verlauf und den Tod verantwortlich seien und ob der Unfall
im Bereich des Penisschafts kleinste oder schwere Verlet-
zungen gesetzt habe. Obgleich danach der ursächliche Zusam-
menhang des Todes mit dem Arbeitsunfall nicht bewiesen sei,
müsse sich die Beklagte doch so behandeln lassen, als ob
dieser Beweis erbracht sei; denn die Beklagte habe schuld-
haft verursacht, daß zur Beweisführung entscheidende und
geeignete Beweismittel, nämlich die Obduktion mit Sektions—
befund, nicht zur Verfügung stehen. Die Beklagte sei von
Amts wegen zur Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet
(§§ 1545 bis 1571 RVO). Sie habe auch eine notwendige
Obduktion von Amts wegen durchzuführen. Unterlasse sie
das, so vereitle sie die Benutzung eines wesentlichen
Beweismittels und bewirke dadurch schuldhaft die Unauf-
klärbarkeit des Sachverhalts (§§ 286, 444 der Zivilprozeß-
ordnung -ZPO~; §§ 128, 202 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG—).
Für die Beweiswürdigung könnten in einem solchen Fall Folge-
rungen zu ihren Ungunsten gezogen werden. Der Beklagten sei
durch die Anrufe der Ärzte Dr. Sch. und Dr. B. be-
kannt gewesen, daß die Hinterbliebenen einen ursächlichen
Zusammenhang zwischen Tod und Arbeitsunfall behaupten und
Hinterbliebenenansprüche geltend machen würden, und es sei
ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß dieser ursäch-
liche Zusammenhang zweifelhaft sei und nur durch eine
Obduktion geklärt werden könne. Dadurch daß sie bei dieser

-·9·-

Sachlage die Obduktion nicht habe durchführen lassen, obwohl
die Leiche für diesen Zweck bereits polizeilich beschlag-
nahmt gewesen sei, habe sie gegen ihre Aufklärungspflicht
verstoßen und ein wesentliches Beweismittel vereitelt. Sie
habe also die Unaufklärbarkeit des ursächlichen Zusammen-
hangs zwischen Tod und Arbeitsunfall schuldhaft veranlaßt.
Ob die Sektion zu einem für die Klägerin günstigen Beweis-
ergebnis geführt hätte, sei in diesem Zusammenhang nicht
von Bedeutung. Der bereits angeführte Grundsatz rechtfer-
tige es, im Wege der freien Beweiswürdigung den Beweis des
ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit dem Arbeitsunfall
als gegeben anzusehen, so daß die Hinterbliebenenansprüche
begründet seien. Die Revision sei zugelassen werden, weil
die Frage grundsätzliche Bedeutung habe, welche Rechtsfol-
gen aus der unterlassenen Obduktion zu ziehen seien.

Die Beklagte, der das Urteil des LSG am 21. März 1960 zuge-
stellt worden ist, hat dagegen am 7. April 196O Revision
eingelegt. Sie beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG und des
Urteils des SG die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Sache zur erneuten Verhandlung und Entschei-
dung an das LSG zurückzuverweisen.

Zur Begründung führt die Beklagte aus, nach dem Akteninhalt
erscheine es schon zweifelhaft, ob der Vorderrichter über-
haupt zu seiner Feststellung hinsichtlich des Unfallereig-
nisses habe kommen können. Das LSG hätte auch die von ihm
erörterten Möglichkeiten nicht als gleichwertig behandeln
dürfen. Vielmehr hätte die zweite und dritte Möglichkeit
völlig zurücktreten müssen. Vor allem aber bestehe ein
Beweiswürdigungsgrundsatz, wie in das LSG annehme, im
sozialgerichtliehen Verfahren nicht, das vom Prinzip der
objektiven Beweislast beherrscht werde. Auch im Zivilprozeß

- 10 -

bestehe ein solcher uneingeschränkter Grundsatz nicht.
§ 444 ZPO setze die Absicht voraus, das Beweismittel der
Gegenseite zu entziehen. Es komme also in der Regel auf
das arglistige Verhalten einer Partei an. Außerdem habe
der Beklagten keine Unfallanzeige vorgelegen, und der
Arbeitgeberin sei von einem Betriebsunfall nichts bekannt
gewesen. Deshalb sei vom Standpunkt der Beklagten aus
nichts zu veranlassen gewesen. Man kenne den an sich schon
so belasteten Verwaltungen der Versicherungsträger nicht
zumuten, nur auf telefonische oder schriftliche Angaben
Dritter gewissermaßen ins Blaue hinein Unfallermittlungen
vorzunehmen und dabei gar eine so einschneidende Maßnahme
wie die einer Leichenöffnung zu verlangen. Die Leiche habe
sich zudem gar nicht im Gewahrsam der Beklagten befunden,
sondern der Kreispolizeibehörde. Diejenigen, die in erster
Linie an eine Obduktion hätten denken müssen, seien die
Kläger. Sie hätten sie mindestens anregen können und sollen.

Die Kläger beantragen,

die Revision als unegründet zurückzuweisen.

Sie weisen auf EuM 22. 216 und 217 hin.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und
fristgerecht eingelegt und begründet werden und somit
zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als das Urteil
des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache an das LSG
zurückverwiesen worden ist.

Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß dem Ehemann der
Klägerin am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr ein Arbeitsunfall
zugestoßen ist, indem ihm ein Brett beim Herausziehen aus
einem Bretterstapel gegen die Geschlechtsteile schlug.

- 11 -

Die Rügen, mit denen die Revision diese tatsächlichen Fest-
stellungen angreift, sind allenfalls dazu geeignet, darzutun,
daß die Würdigung der Beweise in dieser Beziehung auch zu
einem negativen Ergebnis hätte führen können; dagegen rei-
chen sie nicht aus, um schlüssig darzutun, daß das LSG bei
der Würdigung der Beweise die Grenzen seines Rechts der
freien richterlichen Überzeugungsbildung überschritten hat
(§ 128 SGG). Diese Feststellung ist deshalb für das Revi-
sionsgericht bindend (§ i63 SGG).

Das LSG hat mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß
die Beklagte verpflichtet gewesen sei, zur Aufklärung des
Sachverhalts eine Leichenöffnung zu veranlassen. Die Aus-
führungen, mit denen die Revision diese Auffassung angreift,
enthalten keine Rügen gegen die tatsächlichen Feststellun-
gen, auf denen diese Schlußfolgerung des LSG beruht, son-
dern wenden sich gegen die Rechtsauffassung des LSG, daß
das Unterbleiben der Leichenöffnung auf eine schuldhafte
Vernachlässigung der Ermittlungspflicht der Beklagten (vgl.
§§ 1571, 1572 RVO) zurückzuführen sei. Diese Rüge der
Revision ist unbegründet. Die Beklagte wußte aus den
Telefongesprächen mit den beiden Ärzten des Dreifaltigkeits-
hospitals, daß der Zusammenhang zwischen den vom Verletzten
selbst behaupteten Unfallereignis und dem Tode außerordent-
lich zweifelhaft sei und daß die Hinterbliebenen Entschä-
digungsansprüehe geltend machen wollten. Unter diesen Um-
stünden hätte die Beklagte sofort alles tun müssen, um für
eine Aufklärung des Sachverhalts zu sorgen. Daß ihr noch
keine förmliche Unfallanzeige des Unternehmers vorlag und
der Unternehmer, wie sich später ergab, von dem Unfall
nichts wußte, enthob sie dieser Verpflichtung zur Sachauf-
klärung nicht. Sie konnte sich auch insbesondere nicht etwa
darauf verlassen, daß eine Leichenöffnung von der Kriminal-
polizei, dem Amtsgericht oder der Staatsanwaltschaft veran-
laßt würde; denn für diese Stellen war nur die Frage von

- 12 -

Bedeutung, ob Anhaltspunkte für strafbare Handlungen ande-
rer Personen gegeben seien. Das LSG ist ohne Rechtsirrtum
davon ausgegangen, daß die Beklagte verpflichtet gewesen
wäre, eine Leichenöffnung zu veranlassen.

Dagegen sind nach der Auffassung des erkennenden Senats
die Rügen berechtigt, mit denen sich die Revision gegen
die rechtlichen Schlußfolgerungen wendet, die das LSG aus
diesem Umstand gezogen hat.

Hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem
Unfallereignis vom 19. Juni 1954 und der zum Tode führen-
den Sepsis hat das LSG das Ergebnis der Beweiswürdigung
wie folgt zusammengefaßt:

(a) die Infektion könne unabhängig von dem Unfall ent-
standen und ihren Verlauf auch unabhängig von ihm
genommen haben;

(b) bei Mitwirkung von ungewöhnlich virulenten Bakterien
könne die Infektion aber auch auf einer durch den
Unfall hervorgerufenen Verletzung beruhen;

(c) eine zur Zeit des Unfalls bereits vorhandene Infek-
tion könne durch den Unfall derart verstärkt und
verschlimmert werden sein, daß der weitere rasche
Verlauf und der Tod eingetreten seien.

Die ernsthaften Möglichkeiten (b) und (c) müßten ebenso in
Erwägung gezogen werden wie die Möglichkeit (a). Eine Wahr-
scheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit lasse
sich nicht begründen. Die medizinischen Unterlagen reich-
ten nicht aus, um beurteilen zu können, welche Krankheits-
erreger den ungewöhnlichen Verlauf und raschen Eintritt des
Todes verursacht hätten und ob der Unfall kleinere oder
schwere Verletzungen gesetzt habe. Diese Feststellungen
hätten sich aber mit Sicherheit durch eine Obduktion mit
mikroskopischer Untersuchung von Gewebeschnitten und
bakteriologischem Nachweis der Erreger treffen lassen.
Anschließend hat das LSG ausdrücklich ausgeführt, auf Grund
der vorliegenden und jetzt noch möglichen Beweismittel sei

- 13 -

der ursächliche Zusammenhang des Todes mit dem Arbeitsunfall
nicht bewiesen.

Das LSG ist jedoch der Auffassung, die Beklagte müsse sich
"so behandeln lassen, als ob der Beweis des ursächlichen
Zusammenhangs zwischen Unfall und Tod erbracht" sei. Da
das LSG selbst hinsichtlich dieses ursächlichen Zusammen-
hangs keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, sich
insbesondere für keine der von ihm erörterten Möglichkei-
ten entschieden hat, sind nach der Auffassung des erkennen-
den Senats die Rechtsausführungen des LSG dahin zu verste-
hen, daß das - von der Beklagten verschuldete - Fehlen des
für die Sachaufklärung entscheidenden Beweismittels der
Leichenöffnung, eine "Umkehrung" der Beweislast zur Folge
hahe und daß infolgedessen zu Lasten der Beklagten ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und
dem Tod unterstellt werden müsse, weil das Gegenteil nicht
erweislich sei. Das trifft nach der Auffassung des erken-
nenden Senats nicht zu.

Mit der Frage, welche Bedeutung es hat, wenn der zur Sach-
aufklärung verpflichtete Versicherungsträger es unterläßt,
eine Leichenöffnung zu veranlassen, und deshalb der tat-
sächliche Sachverhalt in medizinischer Hinsicht nicht oder
nur unvollständig aufklärbar ist, hat sich bereits der
8. Senat im Urteil vom 26. Juli 1961 (SozR SGG § 128 Nr.60)
befaßt. Er hat ausgeführt, daß ein solches Verschulden
nichts an der Verteilung der objektiven Beweislast (Fest-
stellungslast) ändert, sondern nur von den Tatsachen-
Instanzen im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt
werden kann. Dieses Urteil ist von Glücklich in einer aus-
führlichen Anmerkung (Sgb 1963 S. 19) kritisch besprochen
worden. Glücklich vertritt die Meinung, daß eine vorsätz-
liche oder fahrlässige Beweisvereitelung die Beweislast
dergestalt umkehre, daß nunmehr der Gegner der zunächst
beweisbelasteten Partei die Beweislast trage.

- 14 -

Es kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Beweislast-
Regel, wenn sie, wie Glücklich wohl annimmt, für den
Zivilprozeß allgemein anerkannt wäre, auf das Verfahren
der Sozialgerichtsbarkeit übertragen werden könnte, obwohl
dieses Verfahren vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht
ist und entgegen Glücklich (aaO) nach fast allgemeiner
Ansicht keine Beweisführungslast und nur in sehr beschränk-
tem Umfang eine Behauptungslast kennt (vgl. Brackmann,
Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl., Stand Juni 1965,
S. 244 m I, mit weiteren Nachweisen auch für das Verfahren
vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten). Denn auch für
den Zivilprozeß ist die Lehre von der Umkehrung der Beweis-
last im Falle der schuldhaften Beweisvereitelung keines-
wegs allgemein anerkannt. Blomeyer (Zivilprozeßrecht, 1963
S. 369 § 73 II) nimmt zwar im Falle der schuldhaften Beweis-
vereitelung eine "Umkehr der Beweis1ast" an, auch Nikisch
(Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., S. 324 § 82 VI) vertritt diese
Auffassung. Dagegen führt Schönke (Zivilprozeßrecht), auf
dessen 2. Auflage sich Glücklich beruft, in der 7. Auflage
(S. 232 § 58 am Ende) zur Frage der schuldhaften Beweis-
vereitelung ausdrücklich aus: wenn in derartigen Fällen
von einer Umkehrung der Beweislast gesprochen werde (so RGZ
60, 152), so verdecke das den wahren Sachverhalt, daß Kraft
freier Beweiswürdigung und folglich ohne jeden Zwang der
Beweis vorbehaltlich des Gegenbeweises erbracht sei (ebenso
auch Schönke/Schroeder/Niese in der 8. Aufl. S. 264 § 58 am
Ende). Völlig eindeutig sind die Ausführungen von Rosenberg
(Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 3. Aufl., S. 559 § 114
III 3 d, S. 570 § 117 II 2; Die Beweislast, 4. Aufl., S. 153
§ 12, S. 191 § 14), aus denen sich ergibt, daß seiner Auf-
fassung nach die Beweisvereitelung keinen Einfluß auf die
Verteilung der Beweislast hat. Ebenso unmißverständlich
sind zB die Ausführungen in RGZ 128, 121, 125, während
andere Entscheidungen (zB BGHZ 6, 227; RGZ 60, 152), wie
der erkennende Senat nicht verkennt, auch die Deutung

- 15 -

zulassen, das Revisionsgerieht habe der schuldhaften Beweis-
vereitelung die Wirkung einer für das Tatsachengericht ver-
bindlichen "Umkehrung der Beweislast" zumessen wollen.

Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß die Lehre von
der Umkehrung der Beweislast im Falle der schuldhaften Be-
weisvereitlung in den Vorschriften des SGG und der ZPO keine
ausreichende Stütze findet; insbesondere läßt sie sich nach
der Auffassung des erkennenden Senats nicht aus den §§ 427,
444, 446 ZPO herleiten, die nur Vorschriften für die Beweis-
würdigung enthalten (vgl. zB auch die Anmerkungen zu diesen
Paragraphen in Stein/Jonas/Schönke/Pohle, Kommentar zur ZPO,
18. Aufl.) und die Verteilung der Beweislast ebenso unver-
ändert lassen, wie das der Fall ist, wenn das Gericht sich
bei der Beweiswürdigung der Regeln des Beweises des ersten
Anscheines (Prima—facie—Beweis, vgl. zB BSG 8, 245; 1O, 46;
l2, 242, 246; 19, 52, 54) bedient. Der erkennende Senat
stimmt mit dieser Auffassung nicht nur mit dem 8. Senat
überein, sondern auch mit dem Bundesverwaltungsgericht,
das es bereits mehrfach angelehnt hat, die Lehre von der
Umkehrung der Beweislast im Falle der Beweisvereitelung
anzuerkennen (BVerwG 1O, 27O; DVBl 1964, 759 mit weiteren
Nachweisen für das Verfahren vor den allgemeinen Verwaltungs-
gerichten).

Die rechtlichen Schlußfolgerungen daraus, daß die Unmöglich-
keit, das Ergebnis einer Leichenöffnung als Beweismittel zu
benützen, auf einem Verschulden der Beklagten beruht, sind
demnach unzutreffend und nicht geeignet, das angefochtene
Urteil zu rechtfertigen. Die Rügen der Revision hiergegen
sind begründet.

Andererseits zwingt aber der Umstand, daß das LSG ausgeführt
hat, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereig-
nis und dem Tod sei nicht erwiesen, nicht zur Klageabweisung.
Denn die Entscheidung des LSG beruht nicht auf diesem Ergeb-

- 16 -

nis der Beweiswürdigung, sondern, wie dargelegt, auf der rechts-
irrtümlichen Auffassung hinsichtlich der Verteilung der Beweis-
last und somit in tatsächlicher Beziehung auf der Feststellung,
daß das Nichtbestehen eines Zusammenhangs zwischen Tod und
Unfall gleichfalls nicht bewiesen sei. Das LSG hat auf Grund
seiner Rechtsauffassung insofern von einer vollständigen und
abschließenden Beweiswürdigung abgesehen, als es den durch das
Unterbleiben der Leichenoffnung verursachten Beweisnotstand
unberücksichtigt gelassen hat.

Der erkennende Senat stimmt mit den 8. Senat darin überein, daß
dieser von der Beklagten verschuldete Beweisnotstand vom Tat-
sachenrichter im Rahmen seines Rechts der freien richterlichen
Überzeugungsbildung (§ 128 SGG) zu berücksichtigen ist. Insbeson-
dere darf der Tatsachenrichter diesem Beweisnotstand, wie der
Senat in dem einen anders gelagerten Fall betreffenden Urteil in
BSG 19, 52, 56 ausgeführt hat (vgl. auch Brackmann aaO S. 244 )
dadurch Rechnung tragen, daß er an den Beweis der Tatsachen, auf
die sich der Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen
stellt.

Da dem Revisionsgericht eine solche ergänzende Würdigung der erho-
benen Beweise verwehrt ist, mußte das angefochtene Urteil mit den
ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückver-
wiesen werden.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisions-
verfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung
vorbehalten.

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