Ausgewählte Rechtsprechung und Rechtsentwicklung
Freitag, 8. Mai 2015
BSG, 13 BJ 207/92 vom 21.01.1993, Bundessozialgericht
BSG SozR 3-1500 § 160 Nr. 8

BUNDESSOZIALGERICHT

Beschluß

in dem Rechtsstreit

Az.: 13 BJ 207/92

Klägerin und Beschwerdegegnerin,

Prozeßbevollmächtigte

gegen

Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken,
Bayreuth 2, Wittelsbacherring 11,

Beklagte und Beschwerdeführerin.

Der 13. Senat des Bundessozialgerichts hat am 21. Januar 1993 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. G. und die Richter Dr. W.
und Dr. L. sowie den ehrenamtlichen Richter
Freiherr von B. und die ehrenamtliche Richterin
G.

beschlossen:

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil
des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2. Juni 1992 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Beschwerde-
verfahren zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

lm Ausgangsverfahren ist die Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs auf
die wiederaufgelebte Witwenrente der Klägerin streitig.

Die 1940 geborene Klägerin bezog nach dem Tode ihres ersten Ehemannes bis zu
ihrer Wiederheirat Witwenrente von der Beklagten. Die zweite Ehe wurde geschie-
den, nachdem sich die Klägerin einem anderen Mann zugewandt hatte und aus
der ehelichen Wohnung ausgezogen war. Im Scheidungsverfahren verzichteten die
Klägerin und ihr zweiter Ehemann wechselseitig auf nachehelichen Unterhalt.

Auf die der Klägerin gewährte, wiederaufgelebte Witwenrente rechnete die Be-
klagte mit Bescheid vom 7. August 1989 einen Unterhaltsanspruch der Klägerin
gegen den zweiten Ehemann an. Der nach erfolglosem Widerspruch (Wider-
spruchsbescheid der Beklagten vom 21. Februar 1990) erhobenen Klage gab das
Sozialgericht (SG) Nürnberg statt. Durch Urteil vom 30. April 1991 verpflichtete
es die Beklagte, die Witwenrente ohne Anrechnung von Unterhaltsansprüchen zu
gewähren. Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg. Nach dem Urteil des
Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 2. Juni 1992 läßt sich ein anrechen-
barer Unterhaltsanspruch der Klägerin, der hier nach § 1579 Nr 6 des Bürgerli-
chen Gesetzbuches (BGB) wegen ihres ehewidrigen Verhaltens ausgeschlossen
sei, auch nicht im Hinblick darauf unterstellen, daß die Klägerin ihn durch eigenes
Verschulden verwirkt habe. Es gebe nach Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes
1972 (RRG 1972) im Gesetz keinen Anknüpfungspunkt mehr für die Herstellung
eines Zusammenhanges zwischen ehelichem oder nachehelichem Fehlverhalten in
der zweiten Ehe und dem Anspruch auf wiederaufgelebte Witwenrente.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Beklagte im wesentlichen eine
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Die entscheidungserhebliche
Frage, ob ein wegen groben ehelichen Fehlverhaltens vor der Scheidung verwirk-
ter Unterhaltsanspruch gegen den zweiten Ehemann auf die wiederaufgelebte Wit-
wenrente nach dem ersten Ehemann angerechnet werden kann, sei klärungsbe-
dürftig.

- 3 -

II

Die Beschwerde der Beklagten ist nicht begründet.

Die Revision kann nur aus den in § 160 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)
genannten Gründen - grundsätzliche Bedeutung, Abweichung, Verfahrensman-
gel - zugelassen werden. Die Beklagte beruft sich sowohl auf eine grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache als auch auf eine Abweichung von einer Entscheidung
des Bundessozialgerichts (BSG). Damit kann sie keinen Erfolg haben.

Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist eine Rechtssa-
che, wenn sie eine Rechtsfrage grundsätzlicher Art aufwirft, die klärungsbedürftigist. Die Frage darf sich nicht unmittelbar und ohne weiteres aus dem Gesetz be-
antworten lassen oder bereits von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ent-
schieden sein (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 4). Diese Voraussetzung erfüllt die
von der Beklagten herausgestellte Frage nicht. Das BSG hat diese Frage zwar
noch nicht ausdrücklich entschieden, es sind jedoch zur Auslegung vergleichbarer
Regelungen schon höchstrichterliche Entscheidungen ergangen, die ausreichende
Anhaltspunkte zu ihrer Beantwortung geben (vgl allgemein Kummer, Die Nichtzu-
Iassungsbeschwerde, 1990, RdNr 117). Dabei ist mit dem Bundesverfassungs-
ericht (BVerfG) davon auszugehen, daß die Wiederauflebensregelung im Sozial-
versicherungsrecht mit den entsprechenden Bestimmungen im Beamten- und
Kriegsopferversorgungsrecht vergleichbar ist, weil hier das gleiche familienpoliti-
sche Problem vom Gesetzgeber übereinstimmend gelöst worden ist (vgl
BVerfGE 38, 187, 203 ff, 205). Mithin kann die zu den anderen Rechtsgebieten
vorliegende höchstrichterliche Rechtsprechung auch für die Beurteilung der An-
rechnung von (fiktiven) Unterhaltsansprüchen im Rahmen des § 1291 Abs 2
Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) herangezogen werden. Insofern ist
zu beachten, daß nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
(BVerwG) vom 25. Januar 1961 (BVerwGE 11, 350) das Witwengeld der wieder-
verheirateten Beamtenwitwe nach der Scheidung der zweiten Ehe auch dann wie-
derauflebt, wenn die Ehegatten eigens zu diesem Zweck die Scheidung betrieben
haben. In solch einem Fall dürfen selbst tatsächliche Zuwendungen des geschiede-
nen zweiten Ehemannes, auf die kein Anspruch besteht, nicht den in der Wieder-
auflebensregelung behandelten Unterhaltsansprüchen gleichgestellt und wie diese
auf das Witwengeld angerechnet werden (vgl BVerwGE 11, 350, 354). Dieser

- 4 -

Rechtsprechung hat sich das BSG bereits für den Bereich der Kriegsopferversor-
gung angeschlossen. In seinem Urteil vom 2. Oktober 1975 hat es ausgeführt,
daß der Anspruch auf Witwenversorgung seit Inkrafttreten des RRG 1972 umso
sicherer, ungefährdeter und vollständiger - nämlich ohne Anrechnung etwaiger
Unterhaltsansprüche - wiederauflebt, wenn die Ehe aus dem Alleinverschulden der
Frau geschieden worden ist (vgl BSGE 40, 260, 262 = SozR 3100 § 44 Nr 5
Seite 14). Da keine Gesichtspunkte ersichtlich sind, warum diese Beurteilung nicht
auch in der gesetzlichen Rentenversicherung Geltung beanspruchen kann, ist
insofern keine weitere höchstrichterliche Klärung erforderlich.

Auch die gerügte Abweichung des LSG von dem Urteil des BSG vom 25. Mai
1971 (BSG SozR Nr 31 zu § 1291 RVO) liegt nicht vor (vgl § 160 Abs 2 Nr 2
SGG). Denn die letztgenannte Entscheidung ist zu der alten, durch das RRG 1972
geänderten Fassung des § 1291 RVO ergangen. Zwar ist der Wortlaut der An-
rechnungsbestimmung selbst gleichgeblieben, jedoch wird deren Auslegung durch
den Wegfall der Verschuldensklausel in der Wiederauflebensregelung entscheidend
beeinflußt (vgl BSGE 40, 260, 264 = SozR 3100 § 44 Nr 5 Seite 16).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193
SGG.

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