Ausgewählte Rechtsprechung und Rechtsentwicklung
Freitag, 8. Mai 2015
BGH, II ZR 124/76 vom 19.01.1978, Bundesgerichtshof
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20, BGB § 203
Die Verjährung wird gehemmt, auch wenn die arme Partei
das Gesuch um Bewilligung des Armenrechts für die Er-
hebung der Klage zwar noch innerhalb der Verjährungs-
frist, aber so spät - auch noch am letzten Tage - bei
Gericht einreicht, daß darüber nicht mehr vor Frist-
ablauf entschieden werden kann (Abweichung von BGHZ 17,
199 und 37, 113).
BUNDESGERICHSTHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
II ZR 124/76
verkündet am 19. Januar 1978
Justizobersekretär
Als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit des Fischermeisters … K …
Klägers und Revisionsklägers,
- Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt … -
gegen
die Gesellschaft für K … und K … mbG,
gesetzliche vertreten durch den Geschäftsführer Manfred P …
Beklagte und Revisionsbeklagte,
- Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt … -
Tatbestand:
Der Fischkutter "Anneliese" des Klägers, eines
selbständigen Fischermeisters, ist am 4. März 1973
nach einer Kollosion mit MS "Hanseat III" der Beklagten
in der Lübecker Bucht gesunken. Der Kläger verlangt
Ersat eines Teils seines nicht durch Versicherung
gedeckten Schadens. Er ist der Auffassung, die Schiffs-
führung von MS "Hanseat III" habe durch ihr Verschulden
den Schiffszusammenstoß überwiegend verursacht Die
Parteien haben bis August 1974 außergerichtlich über
eine vergleichsweise Regelung verhandelt konnten sich
aber nicht über die Schadensquote einigen. Am
- 3 -
23. Oktober 1974 beantragten die vom Kläger bevoll-
mächtigten Rechtsanwälte beim Landgericht Lübeck das
Armenrechts für eine Klage über 37 061,22 DM nebst Zinsen.
Mit Schriftsatz vom 26. November 1974, der einen Tag
später bei Gericht einging, rügte die Beklagte unter
anderem die Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts,
mit dem Hinweis, daß sie ihren Sitz in Hamburg habe.
Die Anwälte des Klägers erwiderten mit Schriftsatz vom
10. Februar 1975, der am 19. Februar beim Landgericht
Lübeck eingegangen ist. Sie beantragten unter Erweiterung
des Gesuchs auf ca. 49 704,53 DM das Armenrechtsverfahren
an das Landgericht Hamburg abzugeben. Diesem Antrag hat
das Landgericht Lübeck entsprochen. Die Akten trafen am
3. März 1975 beim Landgericht Hamburg ein. Die zunächst
der Zivilkammern 10 zugeleitete Sache wurde an die Zivil-
kammer 6 abgegeben und anschließend, auf Antrag der Be-
klagten, an die Kammer für Handelssachen verwiesen. Nach-
dem die Beklagte sich auf Verjährung berufen hatte, hat
das Landgerichts durch Beschluß vom 4. Juni 1975 dem Kläger
das Armenrecht versagt. Seine Beschwerde wurde durch Be-
schluß des Oberlandesgerichts vom 18. August 1975 zurück-
gewiesen. Am 2. September 1975, der Beklagten zugestellt
am 4. September 1975, erhob der Kläger Klage mit dem Antrag,
die Beklagte zu verurteilen, 39.763,63, DM nebst 4 %
Zinsen seit dem 21. Oktober 1973 zu bezahlen.
Die Beklagte hat erneut die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Landgericht und das Oberlandesgericht haben die
Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt
der Kläger seinen Klageanspruch weiter.
- 4 -
Entscheidungsgründen:
Das Berufungsgericht hat den auf § 736 Abs. 1 HGB
gestützten Schadensersatzanspruch für verjährt und die
Klage schon aus diesem Grunde für abweisungsreif ge-
halten. Dem ist jedoch, wie die Revision zu Recht geltend
macht, nicht zu folgen.
Ansprüche dieser Art verjähren gemäß § 901 Satz 2
Nr. 2 HGB a.F. und § 902 Nr. 2 HGB i.d.F. d. Seerechts-
änderungsgesetzes vom 21. Juni 1972, BGBl I 1513 (= n. F.)
in zwei Jahren vom Ablauf des Kollosionstags
an gerechnet (§ 903 HGB). Diese Frist war am 4. März 1975,
also bevor der Kläger am 4. September 1975 Klage erhob,
abgelaufen. Die Einreichung des Armenrechtsgesuchs hat
die Verjährung nicht unterbrochen; eine dahingehende
gesetzliche Regelung besteht nicht (§ 209 BGB). Die Ver-
jährung war jedoch gehemmt (§ 203 BGB), weil der Kläger
wegen des Unvermögens, die Prozeßkosten zu tragen, während
der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch - im
Sinne jener Vorschrift - „höhere Gewalt" an der Rechts-
verfolgung gehindert war.
Das entspricht allerdings bei dem vorliegenden Sach-
verhalt nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundes-
gerichtshofes, der sich das Berufungsgericht angeschlossen
hat (BGHZ 17, 199; BGH, Urt. v. B. 5. 56 - VI ZR 58/55,
LM BGB § 254 [E] Nr. 2; v. 28. 9. 59 - III ZR 75/58,
VersR 1960, 60; v. 20. 6. 60 - III ZR 127/59, VersR 1960,
951; BGHZ 37, 113; v. 30. 9. 69 - VI ZR 54/68, DAVorm. 70,
10; v. 8. 3. 77 - VI ZR 142/75, VersR 1977, 622). Danach
soll der Umstand, daß das Gericht erst nach Fristablauf
- 5 -
entscheidet, nur dann einen Fall höherer Gewalt dar-
stellen, wenn der Berechtigte alles in seinen Kräften
Stehende getan hat, um eine rechtzeitige Bewilligung
des Armenrechts zu erreichen und damit eine Klage-
erhebung noch vor Ablauf der Verjährung zu ermöglichen.
Diese Voraussetzungen waren hier nicht erfüllt. Denn
die Beklagte, die ihren Sitz in Hamburg hat, hatte
schon mit Schriftsatz vom 26. November 1974 die örtliche
Zuständigkeit des vom Kläger zum Zwecke der Armenrechts-
bewilligung angerufenen Landgerichts Lübeck gerügt.
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers stellte jedoch
erst am 19. Februar 1975, also mehr als zwei Monate
später, beim Landgericht Lübeck den Antrag, das Armen-
rechtsverfahren an das Landgericht Hamburg abzugeben.
Nach dieser vom Kläger oder seinen Anwälten zu vertretenden
Verzögerung konnte mit einer Entscheidung des Landgerichts
Hamburg bis zum 4. März 1975 nicht mehr gerechnet werden.
An der Auffassung, die Verjährung werde nur gehemmt,
wenn die unbemittelte Partei so frühzeitig das Armenrecht
beantrage, daß darüber bei gewöhnlichem Geschäftsgang
des Gerichts noch innerhalb der Verjährungsfrist ent-
schieden und Klage erhoben werden können, kann jedoch nicht
festgehalten werden.
Im Bereich des Rechtsschutzes gebietet es der allge-
meine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung
mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), die
prozessuale Stellung von Bemittelten und Unbemittelten
weitgehend anzugleichen (BVerfGE 9, 124, 131; 10, 264,
270). Der unbemittelten Partei darf daher die Rechtsver-
folgung und -verteidigung im Vergleich zur bemittelten
- 6 -
nicht unverhältnismäßig erschwert werden (BVerfGE 2, 336,
340; 9, 124, 130, 131). Daraus hat das Bundesverfassungs-
gericht unter anderem hergeleitet, daß es gegen Art. 3
Abs. 1, 20 Abs. 1 GG verstoße, im Zivilprozeß einem unbe-
mittelten Rechtsmittelkläger, der nach Bewilligung des
Armenrechts die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag
(§ 234 Abs. 1 ZPO) versäumt hat, keine Wiedereinsetzung
zu gewähren (BVerfGE 22, 83).
Nach Ansicht des Senats sind diese Grundsätze auch
im vorliegenden Falle anzuwenden; sie erfordern es, die
Hemmung der Verjährung auch dann eintreten zu lassen, wenn
ein ordnungsgemäß begründetes und vollständiges Armen-
rechtsgesuch zwar noch innerhalb der Verjährungsfrist, aber
so spät - unter Umständen noch am letzten Tag - eingereicht
wird, daß darüber vor Fristablauf nicht mehr entschieden
werden kann.
Die gegenwärtige Rechtspraxis benachteiligt die unbe-
mittelte Partei und führt außerdem zur Rechtsunsicherheit
im Einzelfall: Einer bemittelten Partei steht der volle
Zeitraum, in dem die Verjährung läuft, für außergericht-
liche Verhandlungen und zur Vorbereitung der Klage zur
Verfügung, da sie noch am letzten Tage der Frist die Ver-
jährung durch Klageerhebung oder eine gleichstehende Maß-
nahme (§§ 209 BGB, 270 Abs. 3 n.F. ZPO) unterbrechen kann.
Für die unbemittelte Partei führt dagegen die Verpflichtung,
im Armenrechtsgesuch eine vollständige Sachdarstellung zu
geben (BGH, Urt. v. 27. 11. 1959 - VI ZR 112/59, LM BGB § 203
Nr. 6) und das Armenrecht so rechtzeitig zu beantragen,
daß darüber innerhalb der Verjährungsfrist entschieden
werden kann, zu einer Verkürzung dieser Frist. Ebenso
schwerwiegend wie dieser Nachteil ist die Unsicherheit,
mit der die arme Partei belastet wird. Dies gilt zu-
nächst für die Pflicht, das Armenrecht so rechtzeitig
zu beantragen, daß wirklich vor Ablauf der Verjährung
darüber entschieden werden kann (BGHZ 17, 199, 202).
Damit wird von der armen Partei eine Prognose verlangt,
die sie nicht zuverlässig stellen kann, weil sie nicht
alle Umstände kennt, die den Gang des Verfahrens beein-
flussen werden. Die unbemittelte Partei ist daher dem
Risiko ausgesetzt, nachträglich gesagt zu bekommen, sie
habe das Armenrechtsgesuch nicht „rechtzeitig" eingereicht.
Von Unsicherheit geprägt ist auch die Bestimmung des Zeit-
punkts für den Beginn der Hemmung. Nach der hierfür ver-
wendeten Formel tritt die Hemmung der Verjährung in dem
Augenblick ein, in dem der Kläger bei sachgemäßer Be-
handlung eine Entscheidung über sein Armenrechtsgesuch
erwarten konnte (BGHZ 17, 202; 37, 113, 122). Der Beginn
der Verjährungshemmung und damit auch ihre Dauer hängen
danach von dem unbestimmten, verschiedener Deutung zugäng-
lichen Begriff der "sachgemäßen" Behandlung des Armenrechts-
verfahrens ab. Da0 darin für die arme Partei eine Risiko
liegt, sich hinsichtlich der Dauer der Hemmung der Ver-
jährung zu "verrechnen", liegt auf der Hand. Die darge-
legten Umstände bedeuten für die arme Partei eine unver-
hältnismäßige Erschwerung der Rechtsverfolgung im Vergleich
zu der bemittelten. Darauf, daß die Belange der um das
Armenrecht nachsuchenden Partei durch die Zustellung eines
Mahnbescheids oder die Anbringung eines Gütevertrags nicht
hinreichend gewahrt sind, hat bereits das Reichsgericht
(RGZ 163, 9) hingewiesen. Bei einer am Gerechtigkeits-
gedanken orientierten Betrachtungsweise erscheint die
weitgehende Angleichung der Stellung der armen an die
der vermögenden Partei nur durch eine Regelung gewähr-
leistet, die es ersterer erlaubt, die Verjährungsfrist
in vollem Umfange zu nutzen (vgl.. auch BGHm Urt v.
4. 3. 77 -V ZR 236/75, VersR 1977, 665 u. Kollhoser,
VersR 1974, 829 zu der ähnlichen Problematik bei § 12
Abs. 3 VVG). Deshalb ist nach Auffassung des Senats
bei verfassungskonformer Anwendung des § 203 Abs. 2 BGB
eine Partei durch höhere Gewalt an der Rechtsverfolgung
verhindert, wenn sie am Tage des Ablaufs der Verjährungs-
frist infolge Armut keine Klage erheben kann, aber spätestens
in diesem Zeitpunkt das zur Behebung des Hindernisses not-
wendige Armenrechtsverfahren durch ein ordnungsgemäß be-
gründetes und vollständiges Armenrechtsgesuch eingeleitet
hat. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dann tritt die Hemmung
der Verjährung ein, und sie dauert grundsätzlich fort, bis
die arme Partei nach der Entscheidung über das Armenrechts-
gesuch bei angemessener Sachbehandlung in der Lage ist,
ordnungsgemäß Klage zu erheben. Eine solche Regelung wider-
spricht weder dem Wortlaut noch dem Sinn des Gesetzes.
Sie belastet auch nicht den Schuldner der unbemittelten
Partei in unangemessener Weise. Die dadurch in der Regel
eintretende Verlängerung der Verjährungsfrist hält sich
in vertretbarem Rahmen, und der Schuldner erfährt zur
gleichen Zeit wie bei Klageerhebung von der beabsichtigten
Rechtsverfolgung und kann sich darauf einstellen.
Für den vorliegenden Fall folgt daraus, daß die mit
der Klage geltend gemachte Schadensersatzforderung nicht
verjährt ist. Das Armenrechtsgesuch ist, da es am letzten
Tage der Verjährungsfrist dem Gericht vorlag, rechtzeitig
gestellt. Dem Kläger - der seine Armut glaubhaft gemacht
hatte - sind auch im weiteren Verlauf des Armenrechtsver-
fahrens keine Umstände, die eine Verzögerung der Armen-
rechtsentscheidung nach sich gezogen haben, als Verschulden
- 9 -
mit der Folge anzurechnen, daß von höherer Gewalt im
Sinne von § 203 Abs. 2 BGB nicht mehr gesprochen werden
könnte. Der Kläger wurde durch Verfügung des Vorsitzenden
der Zivilkammer 6 des Landgerichts Hamburg, die am
7. April 1975 an die Rechtsanwälte abgesandt worden ist,
aufgefordert, ein Armen-Attest neueren Datums vorzulegen.
Dem ist er nachgekommen, indem er am 5. Mai 1975 ein
weiteres Zeugnis zur Erlangungen einstweiliger Kosten-
befreiung eingereicht hat. Darauf, ob dieser Erledigungs-
zeitraum angemessen war, kommt es nicht an. Die Verzögerung
der Entscheidung über das Armenrechtsgesuch hätte selbst
dann nicht auf diesem Vorgang beruht, wenn das Armuts-
zeugnis etwas früher hätte vorgelegt werden können. Das
Landgericht hatte nämlich in der gleichen Verfügung die
Beklagte aufgefordert zu erklären, ob sie Verweisung an
die Kammer für Handelssachen beantragen wolle. Der Ent-
sprechende Antrag ist am 29. April 1975 beim Landgericht
eingegangen. Die Zivilkammer hat daraufhin durch Beschluß
vom 23. Mai 1975 das Verfahren an die Kammer für Handels-
sachen abgegeben. Zu dieser Zeit aber hat das neue Armuts-
zeugnis des Klägers vorgelegen. Der Umstand, daß der Kläger
nicht sogleich beim Landgericht Lübeck beantragt hat, das
Verfahren an die Kammer für Handelssachen des Landgerichts
Hamburg abzugeben, kann ihm nicht zum Nachteil gereichen.
Nach § 96 Abs. 1 GVG ist der Kläger nicht verpflichtet
zu beantragen, daß der Rechtsstreit vor der Kammer für
Handelssachen verhandelt werden solle.
Schließlich ist die Klage auch rechtzeitig nach Ab-
schluß des Armenrechtsverfahrens erhoben worden. Das Armen-
recht wurde dem Kläger durch Beschluß des Berufungsgerichts
vom 18. August 1975 endgültig versagt. Eine Ausfertigung
dieses Beschlusses ging am 21. August 1975 an die
Anwälte des Klägers ab. Mit Schriftsatz vom 1. Septem-
ber 1975, der bei Gericht am 2. September eingegangen
ist, hat der Kläger Klage erhoben. Diese ist am
4. September 1975 zugestellt worden. Der Kläger hat
also spätestens zwei Wochen, nachdem er von dem nega-
tiven Ausgang des Armenrechtsverfahrens Kenntnis erlangt
hatte, die Klage eingereicht. In Anwendung des Rechts-
gedankens von § 234 Abs. 1 ZPO ist der Partei nach
Kenntnis vom Abschluß des Armenrechtsverfahrens eben-
falls eine zumindest zweiwöchige Frist zur Vorbereitung
der Klage zuzubilligen. Ob diese im Einzelfall über-
schritten werden darf, braucht hier nicht entschieden
zu werden.
Aus all dem folgt, daß die Verjährung des Schadens-
ersatzanspruchs des Klägers bis zur Erhebung der Klage
gehemmt war. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht.
Ein Grund zur Vorlage dieser Sache an den Großen
Senat für Zivilsachen bestand nicht. Der III. und der
Vl. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes haben auf Anfrage
erklärt, daß sie an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung
nicht mehr festhalten.
S. Dr. S. F. Dr. B. B.

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BSG, 2 RU 61/60 vom 29.09.1965, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht

Az.: 2 RU 61/60

Im Namen des Volkes

29. September 1965

In dem Rechtsstreit

Verkündet am

Beklagte und Revisionsklägerin,

1. ,
2. ,

Kläger und Revisionsbeklagte,

hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts auf die
mündliche Verhandlung vom 29. September 1965 durch

Senatspräsident B.
- Vorsitzender -
Bundesrichter D. und
Bundesrichter H. ,
Bundessozialrichter Dr. S. und
Bundessozialrichter H.

für Recht erkannt:

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-
Westfalen vom 24. November 1959 wird mit den ihm
zugrunde liegenden Feststellungen aufgehohen.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Ent-
scheidung an das Landessozialgericht zurückver-
wiesen.

- 2 -

Gründe:

I

Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, der Kläger zu 2) der Sohn
des Franz D. (D.). Die Kläger beanspruchen Hinterblie-
nenenentschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung
(UV). Sie sind der Auffassung, den der Tod des D. am
22. Juni 1954 die Folge eines Arbeitsunfalls vom 19. Juni 1954
sei.

Ans dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ergeben sich ua
folgende tatsächlichen Feststellungen:

Der am 3O. März 1907 geborene D. war von Beruf gelernter
Schreiner und in einem Unternehmen beschäftigt, das der be-
klagten Berufsgenossenschaft (EG) als Mitglied angehört. Er
hatte an den Tagen vor dem 19. Juni 1954 bei dem Hausbau sei-
nes Schwagers P. laufend mitgearbeitet und am 18. Juni
1954 den Polizeimeister Schl. bei schweren Arbeiten gehol-
fen und ihm zugesagt, am nächsten und übernächsten Tag wie-
der mitzuhelfen. Weder seinem Schwager noch dem Polizeimei—
ster Sch. hatte D. Angaben über körperliche Beschwerden
gerecht. An Morgen des 19. Juni 1954 ging er wie üblich zu
seiner Arbeitsstätte, ohne über irgendwelche körperlichen
Beschwerden zu klagen. Um die Mittagszeit traf der Polizei-
meister Sch. ihn auf dem Weg von der Arbeitsstätte nach
hause. Auf die Frage, ob er am Nachmittag beim Bau wieder
helfen würde, erwiderte D., er könne leider nicht, er habe
bei der Arbeit ein Brett vor sein Geschlechtsteil bekommen
und große Schmerzen. Nachdem er zur üblichen Zeit nach Hause
gakommen war, setzte er sich an den Mittagstisch und ließ
das Essen unberührt. Seiner Ehefrau sagte er nur, er habe
einen anstrengenden Tag gehabt. Er begab sich zu Bett,
stand später wieder auf, brach aber nach zwei Minuten zusam-
men und mußte ins Bett gebracht werden. Während der Nacht

- 3 -

klagte er über große Schmerzen. Am Sonntag (20. Juni 1954)
verschlimmerte sich der Zustand derart, daß der praktische
Arzt Dr. Z. gerufen werden mußte. Diesem gab D. an,
ihm sei während der Arbeit ein Brett zwischen die Beine
gefallen und gegen das Geschlechtsteil geschlagen. Der Arzt
stellte hohes Fieber fest und veranlaßte die Einweisung in
das Dreifaltigkeitshospital in Lippstadt. Dort gab D. an,
er habe am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr vom Holzlager ein
Brett holen wollen. Die Bretter seien nachgerutscht und
dabei habe sich der Penis eingeklemmt. Dem Elektromeister
W., der mit D. auf einem Zimmer lag, erzählte D., er
habe am Samstag morgen gegen 11 Uhr einen Unfall gehabt.
Er habe von einem Stapel Bohlen eine 30 mm dicke Bohle her-
ausgezogen. Der Stapel sei ihm bis in Bauchhöhe gegangen.
Beim Fallenlassen der Bohle hätte diese mit dem Ende das
Geschlechtsteil eingeklemmt. Von Montagnachmittag an ver-
schlimmerte sich der Zustand des D. Es trat hohes Fieber
und ein Brand des Penis ein. Am Dienstag, dem 22. Juni 1954
um 9.50 Uhr ist D. gestorben.

Der Chefarzt des Dreifaltigkeitshospitals, Dr. Sch.,
teilte der Beklagten noch am 22. Juni 1954 fernmündlich
mit, daß es sehr zweifelhaft sei, ob die Penisinfektion,
die zum Tode geführt habe, auf den geschilderten Unfall-
hergang am 19. Juni 1954 zurückzuführen sei. Eine Obduktion
der Leiche sei zur Aufklärung erforderlich. Am 24. Juni 1954
teilte der gleichfalls im Dreifaltigkeitshospital tätige
Arzt Dr. B. der Beklagten fernmündlich mit, daß der
Schwager des Verstorbenen vorgesprochen und mitgeteilt habe,
die Witwe werde wegen des Arbeitsunfalls Ansprüche geltend
machen.

Die Beklagte zog die Akten der Staatsanwaltschaft bei,
Landgericht Paderborn bei, die am 17. August 1954 bei ihr
eingingen. In diesen Akten befindet sich ua ein Bericht
der Kriminalpolizei in Lippstadt vom 24. Juni 1954, in dem

- 4 -

hervorgehoben wird, daß der Witwe von der BG vermutlich
Schwierigkeiten bereitet werden würden, weil die Todes-
ursache und der Betriebsunfall ziemlich unklar seien. Aus
den Akten ergibt sich weiterhin, daß das Amtsgericht in
Lippstadt der Auffassung war, der Sachverhalt und das
Ermittlungsergebnis sprachen eindeutig für einen Betriebs-
unfall, die Schuld eines anderen sei nicht ersichtlich,
und daß die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Ermitt-
lungsverfahrens verfügt hat, weil kein Verdacht einer
strafbaren Handlung vorliege.

Die Beklagte stellte noch Ermittlungen in dem Unternehmen
an, in dem D. beschäftigt gewesen war. Diese ergaben, daß
weder den Arbeitskameraden noch den Vorgesetzten von einem
Unfall etwas bekannt war und D. auch weder den Werkssani—
täter noch den Durchgangsarzt aufgesucht hatte. Aus einer
Auskunft der Betriebskrankenkasse ergibt sich, daß D. vor
dem Unfall nicht an einem Leiden erkrankt gewesen ist,
das mit einer Penisinfektion in Zusammenhang stehen könnte.

In dem Durchgangsarztbericnt des Dr. Sch. .vom 22. Juni
1954 ist als Diagnose angegeben: "Infizierte Penisverlet-
zung mit septischer Aussaat", und ausgeführt, es werde ein
Arbeitsunfall bezweifelt, da eine Infektion nach einem
Tage nicht solche Ausmaße annehmen könne; D. habe sich
die Verletzung anderswo zugezogen; eine Überprüfung werde
für unbedingt erforderlich gehalten. In einem weiteren
Gutachten vom 20. Oktober 1954 führte Dr. Sch. ua aus,
die Angaben des Patienten seien sofort unglaubwürdig gewe-
sen: es sei schlecht vorstellbar, daß beim Herabfallen
von Brettern eine isolierte Penisverletzung auftrete; man
hätte wenigstens einige Schrammen an den Oberschenkeln
erkennen müssen; auch trete bei einer Penisverletzung
erfahrungsgemäß nicht innerhalb von Stunden eine Nekrose
auf; leider sei eine Sektion unterlassen worden.

- 5 -

Durch Bescheid vom 26. November 1954 lehnte die Beklagte den
Anspruch der Witwe und des Sohnes Franz H. auf Hinter-
bliebenenentschädigung ab. Sie begründete das unter ausführ-
licher Wiedergabe des Ermittlungsergebnisses damit, daß
sowohl das Vorliegen eines Unfallereignisses als auch der
ursächliche Zusammenhang des Todes mit einem Unfallereignis
nicht hinreichend wahrscheinlich seien.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger Klage beim Sozial-
gericht (SG) Dortmund erhoben. Dieses hat ein Gutachten von
Prof. Dr. B. (Knappschaftskrankenhaus Bottrop) vom
1O. Dezember 1955 beigezogen. Das Gutachten kommt zu dem
Ergebnis, es lasse sich keine Erklärung für die Vorfälle
finden, welche auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlich-
keit erlauben, den Unfall — bei seiner Unterstellung als
gegeben — als Ursache für die Entzündung des Penis und den
weiteren Verlauf anzuerkennen. Der Unfall sei in der durch
den Elektromeister W. wiedergegebenen Form ungeeignet,
eine Einklemmung des Penis zu verursachen, und weder das
Krankheitsbild noch der Verlauf seien in eine Kausalverbin-
dung mit dem Unfall zu dringen. Außerdem hat das SG
Dr. Sch. als sachverständigen Zeugen gehört. Dieser hat
ua ausgeführt: Es seien zwar äußere Anzeichen einer trauma-
tischen Beeinflussung vorhanden gewesen, doch habe die Krank-
heit innerhalb von 24 Stunden einen derart schnellen Ver-
lauf genommen, daß sie nicht auf einen Unfall vom Vortage
zurückgeführt werden könne. Es sei anzunehmen, daß schon
vorher eine Infektion bestanden habe. Wenn man die Richtig-
keit der schwersten Darstellung des Unfalles unterstelle,
sei dieser geeignet, bei bereits vorhandener Infektion eine
erhebliche Steigerung des Krankheitsverlaufs zu bewirken.
Ohne eine solche traumatische Beeinflussung wäre D. an der
Infektion voraussichtlich nicht gestorben.

Das SG hat durch Urteil vom 2. Oktober 1956 wie folgt ent-
schieden:

- 6 -
·
Der Bescheid vom 26. November 195A wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, daß es sich bei dem Ereignis
vom 19. Juni 1954 um einen Arbeitsunfall des Ehe-
mannes der Klägerin im Sinne des § 542 der Reichs-
versicherungserdnungordnung (RVO) handelt.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen
entsprechenden Bescheid zu erteilen und die Kosten
des Verfahrens zu tragen.
·
Das SG hat als erwiesen angesehen, daß D. von einem unbeo-
bachteten Lagerplatz eine schwere Bohle abholen wollte und
daß das Abheben oder Herausstemmen aus dem Stapel und das
Herunterfallen zu einem Schlag gegen die Geschlechtsteile
bzw. einem Einklemmen des Penis geführt hat. Im Übrigen hat
es als erwiesen angesehen, daß eine bereits vor dem 19. Juni
1954 vorhandene Pensisinfektien, die normalerweise geheilt
werden wäre, durch ein in seiner Stärke nicht erwiesenes,
aber doch recht schweres Trauma eine solche Verschlimme-
rung bewirkt habe, daß in kurzer Zeit der Tod eingetreten
sei.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung beim Landes-
sozialgericht Nordrhein—Westfalen eingelegt. Das LSG
hat ein Gutachten des Dr. Sch. vom 22. November 1954
beigezogen, in dem ua ausgeführt wird, bei der Aufnahme
seien keine sicheren Anzeichen einer Verletzung im Sinne
einer Quetschung, Prellung oder Schnittverletzung festzu-
stellen gewesen; aus dem Befund sei aber der Rückschluß zu
ziehen, daß zwar eine Verletzung stattgefunden, der Zeit-
punkt aber mindestens mehrere Tage zurückgelegen haben
müsse.

In Termin zur mündlichen Verhandlung am 14. November 1959
hat das LSG den Polizeimeister Sch. den Elektromeister
W. als Zeugen und die Ärzte Dr. Z. und Dr. Sch.
als sachverständige Zeugen vernommen. Außerdem hat es den
Oberarzt Dr. K. als Sachverständigen gehört. Dieser hat ua

- 7 -

ausgeführt, auch ohne Trauma könne es jederzeit zu einer
Infektion derart, wie sie bei D. vorgelegen haben müsse,
kommen, weil praktisch immer kleine Schleimhautdefekte am
Vorhautblatt vorhanden seien. Andererseits bestehe aber
die Möglichkeit, daß durch den Unfall mikroskopische Ver-
letzungen gesetzt worden seien, die Eintrittspforten für
die Erreger gebildet hätten. Ob das der Fall sei, könne
nachträglich nicht mehr gesagt werden und wäre nur durch
eine Obduktion mit mikroskopischer Untersuchung und bak-
teriologischem Nachweis der Erreger zu klären gewesen. Ob
der Unfall die Infektion wesentlich verschlimmert habe,
hätte gleichfalls nur durch Obduktion geklärt werden kön-
nen. Hierfür wären stärkere Gefäßquetschungen und Zer-
reißungen Voraussetzung gewesen. Der Unfall könne nicht
schwer gewesen sein. Damit sei aber nicht ausgeschlossen,
daß doch oberflächliche Verletzungen gesetzt werden seien.

Durch Urteil vom 24. November 1959 hat das LSG die Beru-
fung der Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund zurück-
gewiesen und die Revision zugelassen.

Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß sich am 19. Juni 1954
gegen 11 Uhr an der Arbeitsstelle ein Arbeitsunfall ereignet
hat, indem D. beim Herausziehen einer Bohle aus einem Bret-
terstapel auf dem Holzplatz vor der Schreinerei ein Brett
gegen das Geschlechtsteil geschlagen ist. Zur Begründung
hat das LSG unter eingehender Würdigung der Beweisergebnisse
ausgeführt, bei vernünftiger Abwägung aller Umstände, die
für und gegen das von D. selbst angegebene Unfallgeschehen
sprächen, überwögen die dafür sprechenden Erwägungen in
einer solchen Weise, daß das Unfallereignis als wahrschein-
lich geschehen angenommen werden müßte.

Im übrigen hat das LSG ausgeführt: Zu welcher Gesundheits-
schädigung der Arbeitsunfall geführt habe (schwere Penis-
infektion oder Verschlimmerung), habe sich nicht mit Wahr-
scheinlichkeit feststellen lassen. Die Infektion könne ihre

- 8 -

Entstehung und ihren Verlauf unabhängig von dem Arbeits-
unfall genommen haben; bei Mitwirkung ungewöhnlich viru-
lenter Bakterien könne sie auch auf einer durch Unfall
hervorgerufenen Verletzung beruhen, und schließlich könne
eine bereits vorhanden gewesene Infektion durch das Unfall-
ereignis derart verschlimmert werden sein, daß der rasche
weitere Verlauf und der Tod eingetreten seien. Eine Wahr-
scheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit lasse
sich nicht begründen. Die Unterlagen reichten für eine
Beurteilung nicht aus, welche Krankheitserreger für den
Verlauf und den Tod verantwortlich seien und ob der Unfall
im Bereich des Penisschafts kleinste oder schwere Verlet-
zungen gesetzt habe. Obgleich danach der ursächliche Zusam-
menhang des Todes mit dem Arbeitsunfall nicht bewiesen sei,
müsse sich die Beklagte doch so behandeln lassen, als ob
dieser Beweis erbracht sei; denn die Beklagte habe schuld-
haft verursacht, daß zur Beweisführung entscheidende und
geeignete Beweismittel, nämlich die Obduktion mit Sektions—
befund, nicht zur Verfügung stehen. Die Beklagte sei von
Amts wegen zur Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet
(§§ 1545 bis 1571 RVO). Sie habe auch eine notwendige
Obduktion von Amts wegen durchzuführen. Unterlasse sie
das, so vereitle sie die Benutzung eines wesentlichen
Beweismittels und bewirke dadurch schuldhaft die Unauf-
klärbarkeit des Sachverhalts (§§ 286, 444 der Zivilprozeß-
ordnung -ZPO~; §§ 128, 202 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG—).
Für die Beweiswürdigung könnten in einem solchen Fall Folge-
rungen zu ihren Ungunsten gezogen werden. Der Beklagten sei
durch die Anrufe der Ärzte Dr. Sch. und Dr. B. be-
kannt gewesen, daß die Hinterbliebenen einen ursächlichen
Zusammenhang zwischen Tod und Arbeitsunfall behaupten und
Hinterbliebenenansprüche geltend machen würden, und es sei
ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß dieser ursäch-
liche Zusammenhang zweifelhaft sei und nur durch eine
Obduktion geklärt werden könne. Dadurch daß sie bei dieser

-·9·-

Sachlage die Obduktion nicht habe durchführen lassen, obwohl
die Leiche für diesen Zweck bereits polizeilich beschlag-
nahmt gewesen sei, habe sie gegen ihre Aufklärungspflicht
verstoßen und ein wesentliches Beweismittel vereitelt. Sie
habe also die Unaufklärbarkeit des ursächlichen Zusammen-
hangs zwischen Tod und Arbeitsunfall schuldhaft veranlaßt.
Ob die Sektion zu einem für die Klägerin günstigen Beweis-
ergebnis geführt hätte, sei in diesem Zusammenhang nicht
von Bedeutung. Der bereits angeführte Grundsatz rechtfer-
tige es, im Wege der freien Beweiswürdigung den Beweis des
ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit dem Arbeitsunfall
als gegeben anzusehen, so daß die Hinterbliebenenansprüche
begründet seien. Die Revision sei zugelassen werden, weil
die Frage grundsätzliche Bedeutung habe, welche Rechtsfol-
gen aus der unterlassenen Obduktion zu ziehen seien.

Die Beklagte, der das Urteil des LSG am 21. März 1960 zuge-
stellt worden ist, hat dagegen am 7. April 196O Revision
eingelegt. Sie beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG und des
Urteils des SG die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Sache zur erneuten Verhandlung und Entschei-
dung an das LSG zurückzuverweisen.

Zur Begründung führt die Beklagte aus, nach dem Akteninhalt
erscheine es schon zweifelhaft, ob der Vorderrichter über-
haupt zu seiner Feststellung hinsichtlich des Unfallereig-
nisses habe kommen können. Das LSG hätte auch die von ihm
erörterten Möglichkeiten nicht als gleichwertig behandeln
dürfen. Vielmehr hätte die zweite und dritte Möglichkeit
völlig zurücktreten müssen. Vor allem aber bestehe ein
Beweiswürdigungsgrundsatz, wie in das LSG annehme, im
sozialgerichtliehen Verfahren nicht, das vom Prinzip der
objektiven Beweislast beherrscht werde. Auch im Zivilprozeß

- 10 -

bestehe ein solcher uneingeschränkter Grundsatz nicht.
§ 444 ZPO setze die Absicht voraus, das Beweismittel der
Gegenseite zu entziehen. Es komme also in der Regel auf
das arglistige Verhalten einer Partei an. Außerdem habe
der Beklagten keine Unfallanzeige vorgelegen, und der
Arbeitgeberin sei von einem Betriebsunfall nichts bekannt
gewesen. Deshalb sei vom Standpunkt der Beklagten aus
nichts zu veranlassen gewesen. Man kenne den an sich schon
so belasteten Verwaltungen der Versicherungsträger nicht
zumuten, nur auf telefonische oder schriftliche Angaben
Dritter gewissermaßen ins Blaue hinein Unfallermittlungen
vorzunehmen und dabei gar eine so einschneidende Maßnahme
wie die einer Leichenöffnung zu verlangen. Die Leiche habe
sich zudem gar nicht im Gewahrsam der Beklagten befunden,
sondern der Kreispolizeibehörde. Diejenigen, die in erster
Linie an eine Obduktion hätten denken müssen, seien die
Kläger. Sie hätten sie mindestens anregen können und sollen.

Die Kläger beantragen,

die Revision als unegründet zurückzuweisen.

Sie weisen auf EuM 22. 216 und 217 hin.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und
fristgerecht eingelegt und begründet werden und somit
zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als das Urteil
des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache an das LSG
zurückverwiesen worden ist.

Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß dem Ehemann der
Klägerin am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr ein Arbeitsunfall
zugestoßen ist, indem ihm ein Brett beim Herausziehen aus
einem Bretterstapel gegen die Geschlechtsteile schlug.

- 11 -

Die Rügen, mit denen die Revision diese tatsächlichen Fest-
stellungen angreift, sind allenfalls dazu geeignet, darzutun,
daß die Würdigung der Beweise in dieser Beziehung auch zu
einem negativen Ergebnis hätte führen können; dagegen rei-
chen sie nicht aus, um schlüssig darzutun, daß das LSG bei
der Würdigung der Beweise die Grenzen seines Rechts der
freien richterlichen Überzeugungsbildung überschritten hat
(§ 128 SGG). Diese Feststellung ist deshalb für das Revi-
sionsgericht bindend (§ i63 SGG).

Das LSG hat mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß
die Beklagte verpflichtet gewesen sei, zur Aufklärung des
Sachverhalts eine Leichenöffnung zu veranlassen. Die Aus-
führungen, mit denen die Revision diese Auffassung angreift,
enthalten keine Rügen gegen die tatsächlichen Feststellun-
gen, auf denen diese Schlußfolgerung des LSG beruht, son-
dern wenden sich gegen die Rechtsauffassung des LSG, daß
das Unterbleiben der Leichenöffnung auf eine schuldhafte
Vernachlässigung der Ermittlungspflicht der Beklagten (vgl.
§§ 1571, 1572 RVO) zurückzuführen sei. Diese Rüge der
Revision ist unbegründet. Die Beklagte wußte aus den
Telefongesprächen mit den beiden Ärzten des Dreifaltigkeits-
hospitals, daß der Zusammenhang zwischen den vom Verletzten
selbst behaupteten Unfallereignis und dem Tode außerordent-
lich zweifelhaft sei und daß die Hinterbliebenen Entschä-
digungsansprüehe geltend machen wollten. Unter diesen Um-
stünden hätte die Beklagte sofort alles tun müssen, um für
eine Aufklärung des Sachverhalts zu sorgen. Daß ihr noch
keine förmliche Unfallanzeige des Unternehmers vorlag und
der Unternehmer, wie sich später ergab, von dem Unfall
nichts wußte, enthob sie dieser Verpflichtung zur Sachauf-
klärung nicht. Sie konnte sich auch insbesondere nicht etwa
darauf verlassen, daß eine Leichenöffnung von der Kriminal-
polizei, dem Amtsgericht oder der Staatsanwaltschaft veran-
laßt würde; denn für diese Stellen war nur die Frage von

- 12 -

Bedeutung, ob Anhaltspunkte für strafbare Handlungen ande-
rer Personen gegeben seien. Das LSG ist ohne Rechtsirrtum
davon ausgegangen, daß die Beklagte verpflichtet gewesen
wäre, eine Leichenöffnung zu veranlassen.

Dagegen sind nach der Auffassung des erkennenden Senats
die Rügen berechtigt, mit denen sich die Revision gegen
die rechtlichen Schlußfolgerungen wendet, die das LSG aus
diesem Umstand gezogen hat.

Hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem
Unfallereignis vom 19. Juni 1954 und der zum Tode führen-
den Sepsis hat das LSG das Ergebnis der Beweiswürdigung
wie folgt zusammengefaßt:

(a) die Infektion könne unabhängig von dem Unfall ent-
standen und ihren Verlauf auch unabhängig von ihm
genommen haben;

(b) bei Mitwirkung von ungewöhnlich virulenten Bakterien
könne die Infektion aber auch auf einer durch den
Unfall hervorgerufenen Verletzung beruhen;

(c) eine zur Zeit des Unfalls bereits vorhandene Infek-
tion könne durch den Unfall derart verstärkt und
verschlimmert werden sein, daß der weitere rasche
Verlauf und der Tod eingetreten seien.

Die ernsthaften Möglichkeiten (b) und (c) müßten ebenso in
Erwägung gezogen werden wie die Möglichkeit (a). Eine Wahr-
scheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit lasse
sich nicht begründen. Die medizinischen Unterlagen reich-
ten nicht aus, um beurteilen zu können, welche Krankheits-
erreger den ungewöhnlichen Verlauf und raschen Eintritt des
Todes verursacht hätten und ob der Unfall kleinere oder
schwere Verletzungen gesetzt habe. Diese Feststellungen
hätten sich aber mit Sicherheit durch eine Obduktion mit
mikroskopischer Untersuchung von Gewebeschnitten und
bakteriologischem Nachweis der Erreger treffen lassen.
Anschließend hat das LSG ausdrücklich ausgeführt, auf Grund
der vorliegenden und jetzt noch möglichen Beweismittel sei

- 13 -

der ursächliche Zusammenhang des Todes mit dem Arbeitsunfall
nicht bewiesen.

Das LSG ist jedoch der Auffassung, die Beklagte müsse sich
"so behandeln lassen, als ob der Beweis des ursächlichen
Zusammenhangs zwischen Unfall und Tod erbracht" sei. Da
das LSG selbst hinsichtlich dieses ursächlichen Zusammen-
hangs keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, sich
insbesondere für keine der von ihm erörterten Möglichkei-
ten entschieden hat, sind nach der Auffassung des erkennen-
den Senats die Rechtsausführungen des LSG dahin zu verste-
hen, daß das - von der Beklagten verschuldete - Fehlen des
für die Sachaufklärung entscheidenden Beweismittels der
Leichenöffnung, eine "Umkehrung" der Beweislast zur Folge
hahe und daß infolgedessen zu Lasten der Beklagten ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und
dem Tod unterstellt werden müsse, weil das Gegenteil nicht
erweislich sei. Das trifft nach der Auffassung des erken-
nenden Senats nicht zu.

Mit der Frage, welche Bedeutung es hat, wenn der zur Sach-
aufklärung verpflichtete Versicherungsträger es unterläßt,
eine Leichenöffnung zu veranlassen, und deshalb der tat-
sächliche Sachverhalt in medizinischer Hinsicht nicht oder
nur unvollständig aufklärbar ist, hat sich bereits der
8. Senat im Urteil vom 26. Juli 1961 (SozR SGG § 128 Nr.60)
befaßt. Er hat ausgeführt, daß ein solches Verschulden
nichts an der Verteilung der objektiven Beweislast (Fest-
stellungslast) ändert, sondern nur von den Tatsachen-
Instanzen im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt
werden kann. Dieses Urteil ist von Glücklich in einer aus-
führlichen Anmerkung (Sgb 1963 S. 19) kritisch besprochen
worden. Glücklich vertritt die Meinung, daß eine vorsätz-
liche oder fahrlässige Beweisvereitelung die Beweislast
dergestalt umkehre, daß nunmehr der Gegner der zunächst
beweisbelasteten Partei die Beweislast trage.

- 14 -

Es kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Beweislast-
Regel, wenn sie, wie Glücklich wohl annimmt, für den
Zivilprozeß allgemein anerkannt wäre, auf das Verfahren
der Sozialgerichtsbarkeit übertragen werden könnte, obwohl
dieses Verfahren vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht
ist und entgegen Glücklich (aaO) nach fast allgemeiner
Ansicht keine Beweisführungslast und nur in sehr beschränk-
tem Umfang eine Behauptungslast kennt (vgl. Brackmann,
Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl., Stand Juni 1965,
S. 244 m I, mit weiteren Nachweisen auch für das Verfahren
vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten). Denn auch für
den Zivilprozeß ist die Lehre von der Umkehrung der Beweis-
last im Falle der schuldhaften Beweisvereitelung keines-
wegs allgemein anerkannt. Blomeyer (Zivilprozeßrecht, 1963
S. 369 § 73 II) nimmt zwar im Falle der schuldhaften Beweis-
vereitelung eine "Umkehr der Beweis1ast" an, auch Nikisch
(Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., S. 324 § 82 VI) vertritt diese
Auffassung. Dagegen führt Schönke (Zivilprozeßrecht), auf
dessen 2. Auflage sich Glücklich beruft, in der 7. Auflage
(S. 232 § 58 am Ende) zur Frage der schuldhaften Beweis-
vereitelung ausdrücklich aus: wenn in derartigen Fällen
von einer Umkehrung der Beweislast gesprochen werde (so RGZ
60, 152), so verdecke das den wahren Sachverhalt, daß Kraft
freier Beweiswürdigung und folglich ohne jeden Zwang der
Beweis vorbehaltlich des Gegenbeweises erbracht sei (ebenso
auch Schönke/Schroeder/Niese in der 8. Aufl. S. 264 § 58 am
Ende). Völlig eindeutig sind die Ausführungen von Rosenberg
(Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 3. Aufl., S. 559 § 114
III 3 d, S. 570 § 117 II 2; Die Beweislast, 4. Aufl., S. 153
§ 12, S. 191 § 14), aus denen sich ergibt, daß seiner Auf-
fassung nach die Beweisvereitelung keinen Einfluß auf die
Verteilung der Beweislast hat. Ebenso unmißverständlich
sind zB die Ausführungen in RGZ 128, 121, 125, während
andere Entscheidungen (zB BGHZ 6, 227; RGZ 60, 152), wie
der erkennende Senat nicht verkennt, auch die Deutung

- 15 -

zulassen, das Revisionsgerieht habe der schuldhaften Beweis-
vereitelung die Wirkung einer für das Tatsachengericht ver-
bindlichen "Umkehrung der Beweislast" zumessen wollen.

Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß die Lehre von
der Umkehrung der Beweislast im Falle der schuldhaften Be-
weisvereitlung in den Vorschriften des SGG und der ZPO keine
ausreichende Stütze findet; insbesondere läßt sie sich nach
der Auffassung des erkennenden Senats nicht aus den §§ 427,
444, 446 ZPO herleiten, die nur Vorschriften für die Beweis-
würdigung enthalten (vgl. zB auch die Anmerkungen zu diesen
Paragraphen in Stein/Jonas/Schönke/Pohle, Kommentar zur ZPO,
18. Aufl.) und die Verteilung der Beweislast ebenso unver-
ändert lassen, wie das der Fall ist, wenn das Gericht sich
bei der Beweiswürdigung der Regeln des Beweises des ersten
Anscheines (Prima—facie—Beweis, vgl. zB BSG 8, 245; 1O, 46;
l2, 242, 246; 19, 52, 54) bedient. Der erkennende Senat
stimmt mit dieser Auffassung nicht nur mit dem 8. Senat
überein, sondern auch mit dem Bundesverwaltungsgericht,
das es bereits mehrfach angelehnt hat, die Lehre von der
Umkehrung der Beweislast im Falle der Beweisvereitelung
anzuerkennen (BVerwG 1O, 27O; DVBl 1964, 759 mit weiteren
Nachweisen für das Verfahren vor den allgemeinen Verwaltungs-
gerichten).

Die rechtlichen Schlußfolgerungen daraus, daß die Unmöglich-
keit, das Ergebnis einer Leichenöffnung als Beweismittel zu
benützen, auf einem Verschulden der Beklagten beruht, sind
demnach unzutreffend und nicht geeignet, das angefochtene
Urteil zu rechtfertigen. Die Rügen der Revision hiergegen
sind begründet.

Andererseits zwingt aber der Umstand, daß das LSG ausgeführt
hat, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereig-
nis und dem Tod sei nicht erwiesen, nicht zur Klageabweisung.
Denn die Entscheidung des LSG beruht nicht auf diesem Ergeb-

- 16 -

nis der Beweiswürdigung, sondern, wie dargelegt, auf der rechts-
irrtümlichen Auffassung hinsichtlich der Verteilung der Beweis-
last und somit in tatsächlicher Beziehung auf der Feststellung,
daß das Nichtbestehen eines Zusammenhangs zwischen Tod und
Unfall gleichfalls nicht bewiesen sei. Das LSG hat auf Grund
seiner Rechtsauffassung insofern von einer vollständigen und
abschließenden Beweiswürdigung abgesehen, als es den durch das
Unterbleiben der Leichenoffnung verursachten Beweisnotstand
unberücksichtigt gelassen hat.

Der erkennende Senat stimmt mit den 8. Senat darin überein, daß
dieser von der Beklagten verschuldete Beweisnotstand vom Tat-
sachenrichter im Rahmen seines Rechts der freien richterlichen
Überzeugungsbildung (§ 128 SGG) zu berücksichtigen ist. Insbeson-
dere darf der Tatsachenrichter diesem Beweisnotstand, wie der
Senat in dem einen anders gelagerten Fall betreffenden Urteil in
BSG 19, 52, 56 ausgeführt hat (vgl. auch Brackmann aaO S. 244 )
dadurch Rechnung tragen, daß er an den Beweis der Tatsachen, auf
die sich der Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen
stellt.

Da dem Revisionsgericht eine solche ergänzende Würdigung der erho-
benen Beweise verwehrt ist, mußte das angefochtene Urteil mit den
ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückver-
wiesen werden.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisions-
verfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung
vorbehalten.

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BSG, 2 RU 38/96 vom 27.05.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT



Im Namen des Volkes



Verkündet am
27. Mai 1997



Urteil



in dem Rechtsstreit



Az: 2 RU 38/96



Klägerin und Revisionsbeklagte,
Prozeßbevollmächtigte:



gegen
Bau-Berufsgenossenschaft Hamburg,
Holstenwall 8-9, 20355 Hamburg,
Beklagte und Revisionsklägerin,
Prozeßbevollmächtigter:



Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung
vom 27. Mai 1997 durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. K. , die
Richter Dr. B. und K. sowie die ehrenamtlichen
Richter B. und L.



für Recht erkannt:



Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landes-
sozialgerichts vom 7. August 1996 aufgehoben.



Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurück-
verwiesen.

-2-



Gründe:



I



In dem Rechtsstreit um Gewährung von Witwenrente streiten die Beteiligten, ob der Tod
des Ehemannes der Klägerin Folge einer Berufskrankheit (BK) der Nr 4104 der Anlage 1
zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) ist.



Der im Jahre 1944 geborene Ehemann der Klägerin (Versicherter) war nach seiner Aus-
bildung in der Zeit von September 1959 bis Oktober 1963 zum Klempner und Installateur
bis März 1971 in diesem Beruf als Geselle tätig. Nach einer Fortbildung zum Bautechniker
in der Zeit von April 1971 bis September 1972 war er im Bedachungs- und Fassadenbau
bis Juli 1976 als Bauleiter, anschließend bis Juli 1984 als Bauleiter und Abteilungsleiter,
von August 1984 bis Juni 1986 als Niederlassungsleiter, von August 1986 bis August
1987 als Vertriebsleiter sowie ab September 1987 als Oberbau- und Außendienstleiter be-
schäftigt. Während seiner Tätigkeit als Klempner hatte er asbesthaltige Materialien zu be-
arbeiten. Im Bedachungs- und Fassadenbau wurden vorwiegend Bitumen, Asbestzement-
und Betonsteinprodukte verarbeitet.



Im März 1988 trat beim Versicherten ein Doppelbildersehen mit Kopfschmerzen auf. Des-
wegen wurde er im Allgemeinen Krankenhaus B. stationär behandelt. Dabei wurde
ein fortgeschrittenes metastasiertes Bronchialkarzinom diagnostiziert.


Am 4. Mai 1988 zeigte das Krankenhaus der Beklagten an, daß beim Versicherten der
Verdacht auf das Vorliegen einer BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO bestehe. Das
daraufhin mit Schreiben vom 26. Mai 1988 an den Chefarzt der neurologischen Abteilung
des Krankenhauses gerichtete Ersuchen, im Falle des Ablebens des Versicherten vor-
sorglich eine Sektion durchzuführen, wurde mit dem Hinweis zurückgewiesen, derartige
Mitteilungen in Zukunft zu unterlassen.



Die Beklagte zog die medizinischen Unterlagen der Landesversicherungsanstalt (LVA)
der Freien und Hansestadt Hamburg bei und ermittelte im Anschluß an eine schriftliche
Auskunft des Versicherten bei seinen früheren Arbeitgebern über Art und Dauer seiner
Beschäftigungen sowie welchen Einwirkungen er dabei ausgesetzt war. Aus den Berich-
ten des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Beklagten vom 20. Oktober und
21. Dezember 1988 ergab sich ua, daß der Versicherte im September 1988 verstorben
war. Die Beklagte zog die Krankenblätter des Allgemeinen Krankenhauses B.
und der Reha-Klinik D. über die Behandlungen des Versicherten bei.


Am 30. Januar 1989 unterrichtete die Klägerin die Beklagte telefonisch, daß ihr Ehemann
am 17. September 1988 verstorben sei. Es habe eine Erdbestattung stattgefunden. Mit

- 3 -



Schreiben vom 19. Juli 1989 teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß zur Feststellung ei-
ner BK eine Obduktion erforderlich sei und fragte zugleich an, ob - sofern eine solche
nicht bereits durchgeführt worden sei - die Klägerin einer Exhumierung und Untersuchung
des Leichnams ihres Ehemannes zustimme. Diese teilte mit, daß eine Obduktion nicht
vorgenommen worden sei; sie sei nicht sicher, ob sie einer Exhumierung zustimmen
solle, da ihr Ehemann bereits vor zehn Monaten verstorben sei. Nach Ablauf einer
eingeräumten Bedenkzeit erklärte die Klägerin mit ihrer am 11. August 1989 bei der
Beklagten eingegangenen Erklärung ihr Einverständnis mit einer Exhumierung und
Untersuchung des Leichnams ihres Ehemannes.


Der Arzt für innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. S. teilte auf Anfrage
der Beklagten mit, daß eine Exhumierung sinnlos sei, weil seit dem Ableben des Versi-
cherten mehr als sechs Monate vergangen seien. Nach Einholung eines Gutachtens von
Dr. S. vom 18. April 1990 sowie einer Stellungnahme des Staatlichen Gewerbearz-
tes der Freien und Hansestadt Hamburg vom 1. Juli 1990 lehnte es die Beklagte ab, der
Klägerin Hinterbliebenenleistungen aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes zu gewähren.
Nach den ärztlichen Feststellungen könne das Vorliegen einer Asbestose nicht wahr-
scheinlich gemacht werden. Es bestehe nach dem ermittelten Sachverhalt allenfalls die
Möglichkeit einer beruflichen Krebsentstehung. Die anspruchsbegründenden Tatsachen
seien trotz umfangreicher Ermittlungen nicht bewiesen (Bescheid vom 21. August 1990
idF des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1991).


Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung eines Gutachtens mit ergänzender Stellung-
nahme von dem Arzt für innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. L. vom
18. Februar 1993/12. Oktober 1993 die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Dezember
1993).


Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Einholung eines Gutachtens des Arztes für in-
nere Medizin und Sozialmedizin Prof. Dr. W. vom 1. April 1996 das Urteil des SG
aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren
(Urteil vom 7. August 1996). Der Tod des Versicherten sei auf eine BK der Nr 4104 der
Anlage 1 der BKVO zurückzuführen. Zwar stehe nicht fest, daß der Versicherte während
seiner beruflichen Tätigkeit den Einwirkungen von Asbestfaserstaub in einem Umfang von
25 Faserjahren ausgesetzt gewesen sei. Auch die weiteren Tatbestandsalternativen einer
BK nach der Nr 4104 stünden wegen fehlender Röntgen-, computertomographischer und
feingeweblicher Untersuchungsbefunde nicht fest. Schließlich sei auch nachträglich keine
Obduktion durchgeführt worden. Der medizinische Sachverhalt könne insoweit im Nach-
hinein nicht mehr aufgeklärt werden. Nach allem steht zwar fest, daß der Versicherte an
einem Lungenkrebs verstorben sei, nicht aber, daß bei dem Versicherten eine Asbest-
staublungenerkrankung oder eine durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura
vorgelegen habe. Dies schließe jedoch nicht die Feststellung aus, daß der Versicherte in-

- 4 -



folge einer BK nach der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO verstorben sei. Wegen der be-
sonderen Umstände des Falles reiche es zur Anspruchsbegründung aus, daß bei dem
Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorgelegen habe. Denn die Beweislage sei
auf das Verhalten der Beklagten zurückzuführen. Sie habe schuldhaft versäumt, den me-
dizinischen Sachverhalt aufzuklären. Durch das Verhalten der Beklagten sei die Klägerin
in einen Beweisnotstand geraten. Diesen Umständen sei bei den Anforderungen an den
Nachweis der anspruchsbegündenden Tatsachen Rechnung zu tragen. Es sei zwar keine
Umkehr der Beweislast anzunehmen. Wenn der beweisbelastete Beteiligte durch das
schuldhafte Verhalten des Gegners in einen Beweisnotstand gerate, könne das Gericht
aber dem dadurch Rechnung tragen, daß es an den Nachweis der Tatsachen, auf die
sich der Beweisbelastete beziehe, weniger hohe Anforderungen stelle. Im vorliegenden
Falle reiche deshalb lediglich die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Asbestose aus.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens gehe das LSG davon aus, daß der Versi-
cherte möglicherweise an einer Minimalasbestose erkrankt gewesen sei. Der Versicherte
sei über eine Reihe von Jahren mit der Verarbeitung von Asbest befaßt gewesen. Das sei
die wesentliche Voraussetzung für das Entstehen einer Asbestose. Damit seien die Vor-
aussetzungen für die Bejahung einer BK iS der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO erfüllt.
Dem stehe auch nicht die Annahme entgegen, daß der Versicherte nach Aktenlage Rau-
cher gewesen sei.



Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte, daß das LSG zu Unrecht
die fehlenden bzw nicht festgestellten Tatbestände der BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur
BKVO meine dadurch ersetzen zu können, daß es der Beklagten eine schuldhafte Be-
weisverhinderung anlaste. Die Begründung des LSG laufe im Ergebnis darauf hinaus, daß
es zu Lasten der Beklagten eine Umkehr der Beweislast vorgenommen habe. Diese Fol-
gerung sei aber mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) unvereinbar. Im
vorliegenden Fall habe entgegen der Auffassung des LSG eine schuldhafte Beweisverei-
telung durch die Beklagte nicht vorgelegen. Selbst wenn die Beklagte sofort tätig gewor-
den wäre und die erforderlichen Genehmigungen eingeholt hätte, hätte die Obduktion erst
nach einem Zeitraum von fünf bis sechs Monaten nach dem Ableben des Versicherten
durchgeführt werden können. Das LSG gehe aber selbst davon aus, daß eine Obduktion
spätestens "bis zu sechs Monaten" nach dem Tode hätte durchgeführt werden müssen,
um eine Asbestose oder eine asbestbedingte Veränderung der Pleura nachweisen zu
können. Unabhängig davon begegne die Beweisführung des LSG durchgreifenden Be-
denken. Es unterstelle, daß bei dem Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorge-
legen habe. Alsdann gewähre das LSG der Klägerin eine weitere Beweiserleichterung
aufgrund des Beweisnotstandes und sehe die Möglichkeit des Vorhandenseins einer As-
bestose, die es mangels konkreter Nachweise und Anhaltspunkte selbst unterstellt habe,
als ausreichend an. Das LSG komme also im Ergebnis entgegen der Rechtsprechung
des BSG zu einer Umkehr der Beweislast. Das LSG habe daher nicht nur die
Rechtsprechung des BSG, sondern auch die nicht vorhandenen Tatsachen verfälscht, um

- 5 -



zu dem von ihm gewünschten Ergebnis zu kommen. Das LSG hätte auch berücksichtigen
müssen, daß der Versicherte ein starker Raucher gewesen sei und nach seinen eigenen
Angaben 20 Zigarillos pro Tag geraucht habe.



Die Beklagte beantragt,



das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. August 1996
aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts
Itzehoe vom 16. Dezember 1993 zurückzuweisen.



Die Klägerin beantragt,



die Revision zurückzuweisen.



Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Entgegen der Ansicht der Beklagten habe
das LSG keineswegs eine Umkehr der Beweislast vorgenommen. Unverständlich sei
auch der Vortrag der Beklagten darüber, daß eine schuldhafte Beweisvereitelung durch
sie nicht vorgelegen habe.



II



Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuhe-
ben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzu-
verweisen ist. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über den
Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung
zu entscheiden.



Der Anspruch der Klägerin richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversiche-
rungsordnung (RVO), da die von ihr geltend gemachte BK ihres Ehemannes vor dem In-
krafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) am 1. Januar 1997
eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes , § 212
SGB VII).



Der Anspruch auf Witwenrente besteht gemäß § 589 Abs 1 RVO "bei" Tod durch Arbeits-
unfall. Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein Unfall, den ein Versicherter bei
einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Ar-
beitsunfall gilt nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind die Krankheiten,
welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung bezeichnet und die sich ein Versi-
cherter bei einer versicherten Tätigkeit zugezogen hat.



Das LSG hat die Voraussetzungen für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente im vorlie-
genden Rechtsstreit als erfüllt angesehen, weil der Tod des Versicherten auf eine BK der

- 6 -



Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO zurückzuführen sei. Das LSG hat dabei auf die BK der
Nr 4104 idF der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992
(BGBl I, S 2343) abgestellt, die nach Art 2 Abs 1 dieser Verordnung am 1. Januar 1993 in
Kraft getreten ist. Nach der Rückwirkungsklausel des Art 2 Abs 2 dieser Verordnung
könnte sie jedoch nur angewandt werden, wenn der Versicherungsfall erst nach dem
31. März 1988 eingetreten ist. Dies war vorliegend aber nicht der Fall, weil sich der Versi-
cherte bereits ab dem 22. März 1988 wegen des Bronchialkarzinoms in stationärer Be-
handlung befand. Es kann daher hier ungeprüft bleiben, ob die Einwirkung einer kumulati-
ven Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren nachgewie-
sen ist. Somit ist die frühere Fassung der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO maßgebend.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO vom 22. März 1988
(BGBl I, S 400) oder deren Vorgängerin, die BKVO idF der Änderungsverordnung vom
8. Dezember 1976 (BGBl I, S 3329), anzuwenden ist, da der hier einschlägige Tatbe-
stand, Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) in Verbindung mit Lungenkrebs, der
BK der Nr 4104 im Wortlaut zwar verändert wurde, inhaltlich aber keine Änderungen
erfahren hat. Nach der Fassung der BK der Nr 4104 der Anlage 1 der BKVO vom
22. März 1988 zählt als BK "Lungenkrebs in Verbindung mit
Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder mit durch Asbeststaub verursachter
Erkrankung der Pleura".


Die Voraussetzungen der Nr 4104 in der hier maßgebenden Fassung stehen nach An-
sicht des LSG nicht fest, weil wegen fehlender Röntgen-, computertomographischer oder
feingeweblicher Befunde nicht festgestellt werden kann, daß bei dem Versicherten eine
Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder eine durch Asbeststaub verursachte Er-
krankung der Pleura vorlag. Auch eine Obduktion oder rechtzeitig durchgeführte Exhu-
mierung und Untersuchung des Leichnams, wodurch eine Klärung, ob eine Asbeststaub-
erkrankung vorgelegen hat, möglich gewesen wäre, sei nicht durchgeführt worden. We-
gen der besonderen Umstände des Falles reiche es zur Anspruchsbegründung aus, daß
bei dem Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorgelegen habe. Denn die Beweis-
lage sei auf das Verhalten der Beklagten zurückzuführen, die es schuldhaft versäumt ha-
be, den medizinischen Sachverhalt aufzuklären.


Die Ausführungen, mit denen die Beklagte sich gegen die Auffassung des LSG wendet,
das Unterbleiben der Obduktion bzw der rechtzeitigen Exhumierung und Untersuchung
des Leichnams des Versicherten sei auf eine schuldhafte Vernachlässigung ihrer Ermitt-
lungspflicht (§ 20 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuches ) zurückzuführen, sind
unbegründet. Sie hat nach den Feststellungen des LSG bereits im Oktober 1988 und spä-
ter noch einmal im Dezember 1988 erfahren, daß der Versicherte im September 1988
verstorben war, ohne unverzüglich Ermittlungen hinsichtlich des medizinischen Sachver-
halts anzustellen. Der Beklagten oblag es im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht auch
festzustellen, ob Rechtsnachfolger iS des § 56 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) und

- 7 -



Hinterbliebene iS des § 589 RVO vorhanden waren. Schon deshalb ist der Hinweis der
Revision unbeachtlich, der Beklagten seien Angehörige des Versicherten nicht bekannt
gewesen.


Vor allem übersieht die Beklagte, daß der Vorwurf des LSG, ihre Pflicht zur Amtsermitt-
lung dahingehend, ob beim Versicherten eine Asbeststaublungenerkrankung bzw eine
durch Asbeststaub verursachte Erkrankung des Zwerchfelles vorlag, verletzt zu haben,
sich auch auf den Zeitraum vor dem Tode des Versicherten bezieht. Nach den Feststel-
lungen des LSG war der Beklagten bereits seit dem 4. Mai 1988 durch die Anzeige des
Allgemeinen Krankenhauses B. bekannt, daß beim Versicherten der Verdacht des
Vorliegens einer BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO bestand, ohne daß von ihr - vor
allem in Hinblick auf den ihr bekannten Gesundheitszustand des Versicherten - unver-
züglich die erforderlichen medizinischen Untersuchungen und Begutachtungen veranlaßt
wurden. Hinzu kommt, daß im Falle rechtzeitiger Ermittlungen der Klägerin ggf für das
Feststellungsverfahren über ihre Hinterbliebenenansprüche die Rechtsvermutung des
§ 589 Abs 2 Satz 2 RVO zugute gekommen wäre. Auch diese mögliche Rechtsvermutung
der Klägerin wurde durch das Verhalten der Beklagten vereitelt.


Dagegen sind nach der Auffassung des erkennenden Senats die Rügen der Revision be-
rechtigt, mit denen sie sich gegen die Schlußfolgerungen wendet, die das LSG aus dem
von der Beklagten verschuldeten Beweisnotstand der Klägerin gezogen hat. Das LSG
geht entsprechend der Rechtsprechung des BSG (BSGE 24, 25; 41, 297, 300; BSG SozR
Nr 60 zu § 128 SGG) und der Literatur (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 103 RdNrn 18,
19; § 128 RdNr 18; Bley in Gesamt-Komm, § 128 SGG Anm 4a ff; Krasney/Udsching,
Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, III, RdNrn 29, 159) von dem Grund-
satz aus, daß bei einem Beweisnotstand, auch wenn er auf einer fehlerhaften Beweiser-
hebung oder sogar auf einer Beweisvereitelung durch denjenigen beruht, dem die Uner-
weislichkeit der Tatsachen zum prozessualen Vorteil gereicht, keine Umkehr der Beweis-
last eintritt. Vielmehr sind die Tatsachengerichte in einem derartigen Fall berechtigt, im
Rahmen der vielfältigen Möglichkeiten der Beweiswürdigung (s ua Baumgärtel, Beweis-
lastpraxis im Privatrecht, 1996, S 152 ff) an den Beweis der Tatsachen, auf die sich der
Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen zu stellen (BSGE 24, 25). An die-
ser, auch vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) geteilten Rechtsauffassung
(BVerwGE 10, 270) hält der Senat trotz der beachtlichen abweichenden Ausführungen
von Keller (SGb 1995, 474) fest. Auch Keller geht zutreffend und in Übereinstimmung mit
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) davon aus, einem Beweisnotstand
jedenfalls zunächst einmal im Rahmen der Beweiswürdigung Rechnung zu tragen. Die
Fälle, in denen nach der Rechtsprechung des BGH eine Beweislastumkehr zu prüfen ist
(vgl Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, Band 1, 2. Aufl 1991, § 823 II RdNr 51, § 823
Anhang C II RdNrn 33, 64 und Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 267 ff,
297), unterscheiden sich wesentlich von denen, die dem vorliegenden Fall entsprechen (s

- 8 -



auch Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 266, RdNr 453). Insbesondere
kommt es weder im Rahmen der Amtsermittlungspflicht der Sozialleistungsträger (s
BVerwGE 10, 270, 272) noch grundsätzlich für die geltend gemachten materiell-
rechtlichen Ansprüche der Versicherten darauf an, ob einem der Beteiligten - oder in der
gesetzlichen Unfallversicherung dem Arbeitgeber - ein Verschulden trifft (vgl Baumgärtel
aaO § 823 Anhang C II RdNr 33; s auch BGH NJW 1985, 1774, 1775 und 1992, 754,
755). Eine gegenüber der Berücksichtigung des Beweisnotstandes im Rahmen der Be-
weiswürdigung sichere Handhabung bietet auch eine Beweislastumkehr nicht, deren Ein-
tritt ebenfalls nicht generell bei fehlerhafter Beweiserhebung oder Beweisvereitelung, son-
dern in diesen Fällen je nach den Umständen des Einzelfalls flexibel gestaltet sein
(Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 266 RdNr 453) und als letzte der sich
an die Beweiswürdigung anschließenden Maßnahmen eintreten soll (s auch BGHZ 72,
132, 139; Baumgärtel Handbuch aaO § 823 II RdNr 51, § 823 Anhang C II RdNr 64 und
Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 297 RdNr 508).


Die ständige Rechtsprechung des BSG, die sich im Ergebnis nicht zwangsläufig von de-
nen der Gegenmeinung und der Rechtsprechung des BGH unterscheiden muß, vermag
auch bei Beweisnotstand den in diesem Zusammenhang vom Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) betonten Grundsätzen - insbesondere des fairen Verfahrens und der Waffen-
gleichheit - wirksam zu beachten (s BVerfGE 52, 131, 153, 158; 54, 148, 157; s auch
BGHZ aaO; BVerfG DVBl 1991, 154; Reinhardt NJW 1994, 93). Es bleibt dem Tatsa-
chengericht im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung überlassen, je nach
den Besonderheiten des maßgebenden Einzelfalls schon einzelne Beweisanzeichen, im
Extremfall ein Indiz ausreichen zu lassen für die Feststellung einer Tatsache oder der dar-
aus abgeleiteten Bejahung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.
Hätte das LSG im Hinblick auf den Beweisnotstand der Klägerin aufgrund der gesamten
Umstände des vorliegenden Falles die Voraussetzungen der BK Nr 4104 und die Wahr-
scheinlichkeit des Kausalzusammenhangs zwischen dieser BK und dem Tod des Versi-
cherten bejaht, so wäre dies revisionsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden gewe-
sen.



Die demgegenüber vom LSG aus den angeführten Grundsätzen gezogene rechtliche
Schlußfolgerung, daß schon die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Asbestose beim
Versicherten ausreiche, ist unzutreffend (s auch BGH NJW 1990, 1721). Denn die Be-
fugnis der Tatsachengerichte, im Falle eines unverschuldeten Beweisnotstands ange-
sichts der konkreten Umstände des Einzelfalles an den Beweis weniger hohe Anforde-
rungen zu stellen, basiert auf dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
(§ 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ). Dieser Grundsatz bezieht sich nur auf
die zu würdigenden Tatsachen; er schließt nicht die Befugnis ein, das Beweismaß zu ver-
ringern oder frei darüber zu entscheiden, ob die Gewißheit erforderlich oder die Wahr-
scheinlichkeit ausreicht oder sogar die Möglichkeit genügt, damit eine Tatsache als fest-

- 9 -



gestellt oder der Kausalzusammenhang als gegeben angesehen werden kann. Die zu-
grunde zu legenden Beweismaßstäbe sind anders als die Beweiswürdigung im engeren
Sinn revisionsgerichtlich nachprüfbar (vgl Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Aufl
1994, § 108 VwGO RdNr 5).


Das LSG ist aufgrund seiner Rechtsauffassung von einem anderen Beweismaßstab bei
der Beurteilung des Kausalzusammenhangs ausgegangen und hat darauf seine Beweis-
würdigung ausgerichtet. Dem Revisionsgericht ist eine eigene Würdigung der Beweise
verwehrt. Deshalb mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneu-
ten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

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BSG, 2 RU 18/85 vom 10.04.1986, Bundessozialgericht
SG Bremen S 11 J 117/82 vom 11.04.1984
LSG Bremen L 1 J 15/84 vom 13.12.1984
BSG 2 RU 15/85 vom 30.04.1986, BSGE 60, 87 - 96

Bundessozialgericht

2 RU 15/85

Im Namen des Volkes

Verkündet am

30. April 1986

in dem Rechtsstreit

Klägerin und Revisionsbeklagte,

Prozeßbevollmächtigter

gegen

1.

Beklagte,

2.

Beklagter und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

beigeladen:

l.

Prozeßbevollmächtigter:

2.

- 2 -

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche
Verhandlung am 30. April 1986

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Beklagten zu 2) wird das Teilurteil
des Landessozialgerichts Bremen vom 13. Dezember 1984
geändert, soweit der Beklagte zu 2) zur Zahlung eines Be-
trages in Höhe von 297,10 DM für den Monat Juni 1981 an die
Klägerin verurteilt worden ist.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialge-
richts Bremen vom 11. April 1984 wird auch insoweit zu-
rückgewiesen, als sie die Klage gegen den Beigeladenen zu 2)
für den Monat Juni 1981 betrifft.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Streitig ist, ob die Beklagten von den der Beigeladenen zu 1)
zustehenden Renten Teilbeträge auf Grund eines Pfändungs- und

- 3 -

Uberweisungsbeschlusses an die klagende Bank abzuführen haben,
obwohl die Beigeladene zu 1) zuvor zwei Abtretungserklärungen
hinsichtlich des pfändbaren Teils der ihr zustehenden Rentenan-
sprüche unterschrieben hatte.

Die Beigeladene zu 1) bezieht als Witwe des durch einen Arbeits-
unfall am 25. Mai 1971 verstorbenen Versicherten H.
G. sowohl eine Witwenrente von der Beklagten zu 1) (: LVA
für das Saarland) als auch von dem Beklagten zu 2) (: GUV für das
Saarland); die Höhe der von der Beklagten zu 1) bezogenen Wit-
wenrente betrug - nach dem Stand vom 1. Januar 1981 - 237,10 DM
monatlich, die Höhe der von dem Beklagten zu 2) bezogenen Wit-
wenrente - ebenfalls nach dem Stand vom 1. Januar 1981 -
1.104,80 DM monatlich. Die Kinder der Beigeladenen zu 1) M.
geb. am 5. Juni 1966, und C. , geb. am 9. Dezember 1970,
bezogen Waisenrenten, und zwar von der Beklagten zu 1) in der
Gesamthöhe von 305,80 DM monatlich sowie von dem Beklagten zu 2)
in der Gesamthöhe von 1.104,80 DM monatlich (Stand: 1. Januar
1981).

Unter dem Datum vom 28. Mai 1979 unterzeichnete die Beigeladene
zu 1) eine formularmäßige Abtretungserklärung, mit der sie zur
Sicherung eines ihr von der Beigeladenen zu 2) gewährten Kredits
den pfändbaren Teil ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Ansprüche
gegen den Beklagten zu 2) auf Zahlung der ihr zustehenden Rente
bzw Pension gemäß § 53 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner
Teil - (SGB I) unwiderruflich an die Beigeladene zu 2) abtrat.
Hiervon unterrichtete die Beigeladene zu 2) den Beklagten zu 2)

- 4 -

mit Schreiben vom 13. Juli 1979. Außer dieser Erklärung befindet
sich in den Akten des Beklagten zu 2) eine weitere von der Bei-
geladenen zu 1) unterzeichnete, wörtlich gleichlautende formu-
larmäßige Abtretungserklärung - ebenfalls vom 28. Mai 1979 -, in
der ein Schuldner jedoch nicht bezeichnet ist.

Mit Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß des Amtsgerichts Saar-
brücken vom 18. Februar 1981, der der Beklagten zu 1) am
25. Februar 1981 und dem Beklagten zu 2) am M. März 1981 zuge-
stellt wurde, pfändete die Klägerin wegen einer Forderung in Höhe
von 21.778,37 DM zuzüglich Zinsen und Kosten die gegenüber den
Beklagten bestehenden Rentenansprüche der Beigeladenen zu 1). In
dem Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß ordnete das Amtsgericht
gemäß § 850c Abs 4 der Zivilprozeßordnung (ZPO) an, daß die Kin-
der der Beigeladenen zu 1), M. und C. , bei der Berech-
nung des pfändbaren Teils des Einkommens nicht zu berücksichtigen
seien; außerdem verfügte es zugleich die Zusammenrechnung der
gepfändeten Renten gemäß § 850e Nr 2 und 2a ZPO. Die Beklagten
verständigten sich daraufhin am 5. März 1981 dahingehend, daß
die Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung weiterhin
in voller Höhe an die Beigeladene zu 1) auszuzahlen und der
gesamte pfändbare Teil aus der Witwenrente der Unfallversicherung
zu entnehmen sei. Durch einen weiteren Beschluß vom 3. Juni
1981, welcher der Beklagten zu 1) am 15. Juni 1981 und dem Be-
klagten zu 2) am 12. Juni 1981 zugestellt wurde, änderte das
Amtsgericht den Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß dahingehend
ab, daß der Beigeladenen zu 1) von den zusammengerechneten Renten
in Anlehnung an die Sozialhilferichtlinien gemäß § 54 Abs 3 SGB I

- 5 -

ein unpfändbarer Betrag in Höhe von 1.000,-- DM monatlich ver-
bleiben sollte.

Der Beklagte zu 2) zahlte daraufhin auf Grund der ihm vorliegen-
den Abtretungserklärungen vom 28. Mai 1979 ab Juni 1981 an die
Beigeladene zu 2) einen Betrag in Höhe von 3A1,90 DM monatlich
aus, und zwar unter Berücksichtigung der Anordnungen des Pfän-
dungs- und Uberweisungsbeschlusses sowie des Beschlusses vom
3. Juni 1981. Der Beigeladenen zu 1) verblieben danach von den
zusammengerechneten Renten in der Gesamthöhe von 1.341,90 DM ab
Juni 1981 ihre gesamte Witwenrente aus der Rentenversicherung in
Höhe von 237,10 DM monatlich sowie ein Teil ihrer Witwenrente aus
der Unfallversicherung in Höhe von 762,90 DM monatlich, insgesamt
der vom Amtsgericht Saarbrücken festgesetzte unpfändbare Betrag
in Höhe von 1.000,-- DM monatlich. Zahlungen auf Grund des
Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses an die Klägerin lehnte der
Beklagte zu 2) durch seine Schreiben vom 27. Mai, 14. Juli und
27. November 1981 ab.

Das Sozialgericht (SG) Bremen hat die hiergegen gerichtete Klage
auf Auszahlung der auf Grund des Pfändungs- und Uberweisungsbe—
schlusses pfändbaren Rentenbeträge abgewiesen (Urteil vom
11. April 198U). Durch Teilurteil hat das Landessozialgericht
(LSG) Bremen auf die Berufung der Klägerin das erstinstanzliche
Urteil abgeändert und den Beklagten zu 2) verurteilt, an die
Klägerin für den Monat Juni 1981 297,10 DM als pfändbaren Betrag
zu zahlen. Im übrigen hat es die Klage gegen den Beklagten zu 2)
bezüglich des Monats Juni 1981 und die Klage gegen die Beklagte

- 6 -

zu 1) in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 13. Dezember
1984). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Von den
Renten des Monats Juni 1981 seien nach dem Pfändungs- und Über-
weisungsbeschluß (vom 18. Februar 1981) sowie dem Beschluß vom
3. Juni 1981 der über 1.000,-- DM hinausgehende Teil, insgesamt
341,90 DM, pfändbar. Die zeitlich früher vorgenommene Abtretung
genieße gegenüber der späteren Pfändung zwar Vorrang, dieser
Vorrang setze sich aber nur in Höhe von 44,80 DM zugunsten der
Beigeladenen zu 2) durch. Rechtsgrundlage der Abtretung sei § 53
Abs 3 SGB I. § 53 Abs 2 Nr 2 SGB I sei schon deshalb nicht anzu-
wenden, weil es an ausdrücklichen Feststellungen der Beklagten
fehle, daß die Übertragung der Rentenanteile im wohlverstandenen
Interesse der Beigeladenen zu 1) liege. wirksam abgetreten sei
nur der gegenüber dem Beklagten zu 2) bestehende Rentenanspruch,
der gemäß § 53 Abs 3 SGB I iVm § 8500 ZPO in der ab 1. Januar
1981 geltenden Fassung sowie der dazugehörigen Tabelle des § 850c
Abs 3 ZPO unter Berücksichtigung der Unterhaltsgewährung der
Beigeladenen zu 1) für ihre beiden Kinder in Höhe von 44,80 DM
pfändbar und somit abtretbar gewesen sei. Der Beklagte zu 2)
müsse an die Klägerin den Differenzbetrag von 297,10 DM zwischen
dem gepfändeten (= 341,90 DM) und dem abgetretenen Betrag (:
44,80 DM) abführen. Nicht wirksam abgetreten sei dagegen der
Rentenanspruch der Beigeladenen zu 1) gegenüber der Beklagten
zu 1). Die von der Beigeladenen zu 1) unterzeichnete Abtretungs-
erklärung, in der ein Drittschuldner nicht benannt sei, verstoße
gegen das Bestimmtheitsgebot, zumal die Forderung gegen die Be-
klagte zu 1) bereits bestanden habe und insoweit individuali-
sierbar gewesen sei. Der Rentenanspruch gegenüber der Beklagten

- 7 -

zu 1) sei im übrigen ohnehin in vollem Umfang unpfändbar und so-
mit unabtretbar gewesen, weil dieser unter dem damals unpfändba-
ren Grundbetrag in Höhe von 559,-- DM monatlich gelegen habe. Die
Zusammenrechnung der beiden Renten wie auch die Nichtberücksich-
tigung der beiden Kinder der Beigeladenen zu 1) für die Berech-
nung des unpfändbaren Teils des Einkommens wirke nur zugunsten
der Klägerin, nicht der Beigeladenen zu 2). Es fehle insbesondere
eine Verweisungsvorschrift, nach der eine solche Zusammenrechnung
verschiedener Einkünfte bzw die Nichtberücksichtigung unter-
haltsberechtigter Personen auch etwa vorhandenen Abtretungsgläu-
bigern zugute komme. Selbst wenn ein Abtretungsgläubiger ein den
§§ 8500 Abs U und 850e Nrn 2 und 2a ZPO entsprechendes Antrags-
recht haben sollte, fehle es an einem entsprechenden Antrag der
Beigeladenen zu 2). Zudem beeinträchtige die Erhöhung des pfänd-
baren Betrages zugunsten der vorrangigen Abtretungsgläubiger den
Schutz des Schuldners, den die §§ 53 ff SGB I im Auge hätten.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte zu 2) hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er rügt die
Verletzung von Bundesrecht und begründet dies zunächst damit, daß
die Klage wegen Verstoßes gegen § 54 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG) unzulässig sei. Die Klägerin sei in der Lage gewesen, im
einzelnen das pfändbare Renteneinkommen ziffernmäßig anzugeben.

Auch komme vorliegend nicht eine Leistungsklage, sondern eine
Anfechtungsklage in Betracht, da es sich bei seinen Schreiben vom
27. Mai und 14. Juli 1981 um Verwaltungsakte gehandelt habe.

Die Pfändung der Klägerin auf Grund des Pfändungs- und Überwei-
sungsbeschlusses sei im übrigen ins Leere gegangen. Nach dem

- 8 -

Prioritätsprinzip gehe eine zeitlich frühere Abtretung einer
späteren Pfändung vor. Im Gegensatz zur Auffassung des LSG liege
eine wirksame Abtretung auch der gegenüber der Beklagten zu 1)
bestehenden Rentenansprüche der Beigeladenen zu 1) vor. Maßgeb-
lich hierfür sei allein der Wille der Parteien des Abtretungs-
Vertrages. Da die Abtretung gemäß § 398 des Bürgerlichen Gesetz-
buches (BGB) nicht an eine bestimmte Form gebunden sei, sei
hierfür auf alle Umstände abzustellen. Die Tatsache, daß die
Beigeladene zu 1) neben der Abtretungserklärung bezüglich der
Rentenansprüche gegenüber dem Beklagten zu 2) eine weitere Ab-
tretungserklärung unterzeichnet habe, habe nur den Sinn, weitere
Rentenleistungen an die Beigeladene zu 2) abzutreten. Hierfür
komme es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH)
allein darauf an, ob die abgetretene Forderung genügend indi-
vidualisierbar sei, wofür die Bezeichnung des Drittschuldners in
der schriftlichen Urkunde nicht erforderlich sei. Die Wirksamkeit
der Abtretung sei nach § 53 Abs 3 SGB I zu beurteilen. Diese Re-
gelung bezwecke ebenso wie die des § 54 SGB I vor allem den
Schutz des Leistungsempfängers davor, durch die Abtretung oder
Pfändung sozialhilfebedürftig zu werden. Die Frage der Sozial-
hilfebedürftigkeit werde aber auch bei einer Abtretung nicht wie
jede einzelne Sozialleistung gesondert ermittelt, sondern richte
sich danach, ob dem Sozialleistungsempfänger insgesamt genug zum
Leben bleibe. Unabhängig von einem konkreten Antrag der Beige-
ladenen zu 2) habe der Beklagte zu 2) daher die Arbeitseinkommen
und Sozialleistungen zusammenzurechnen. Die Wirkung der Zusam-
menrechnung gemäß § 850e Nr 2a ZPO trete also unabhängig davon
ein, ob ein späterer Pfandgläubiger im Verfahren vor dem Voll-

- 9 -

streckungsgericht einen entsprechenden Antrag stelle oder nicht.

Dies gelte ebenso für die Nichtberücksichtigung der unterhalts-
berechtigten Kinder gemäß § 8500 Abs 4 ZPO. Der Beklagte zu 2)
habe sich im Rahmen seiner Prüfung nach § 53 Abs 3 SGB I insofern
an die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts halten können,
weil hierdurch die tatsächlichen Umstände iS des § 850c Abs 4 ZPO
zutreffend berücksichtigt worden seien.

Der Beklagte zu 2) beantragt,

das Urteil des LSG Bremen vom 13. Dezember
198M aufzuheben und die Berufung der Klägerin
zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision des Beklagten zu 2) zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, daß die Schreiben des Beklagten zu
2) vom 27. Mai und 1A. Juli 1981 keine Verwaltungsakte, sondern
lediglich Anfragen an die Klägerin seien. Die somit allein in
Betracht kommende Leistungsklage, zu deren Stellung das SG an-
stelle einer Feststellungsklage zudem ausdrücklich aufgefordert
habe, sei trotz fehlender genauer Bezifferung des geforderten
Geldbetrages hinreichend konkretisiert und damit zulässig. Zudem
sei nicht nachgewiesen, daß die Abtretung der Rentenansprüche der
Beigeladenen zu 1) zugunsten der Beigeladenen zu 2) bereits am
26. Mai 1979 wirksam geworden sei. Die von der Beigeladenen zu
1) unterzeichneten Abtretungserklärungen tragen zwar das Datum
vom 28. Mai 1979, es sei aber nicht erkennbar, ob und wann dié

- 10 -

Beigeladene zu 2) diese Abtretungserklärungen angenommen habe. Da
die Beigeladene zu 2) ihren Sitz in Koblenz habe, die Abtre-
tungserklärungen jedoch in Saarbrücken unterschrieben worden
seien, hätten diese als einseitiges Angebot zu wertenden Erklä-
rungen nach § 147 Abs 2 BGB nur innerhalb einer Zeitspanne von
einer Woche oder mehr angenommen werden können. Ein nicht recht-
zeitig angenommenes Angebot stelle rechtlich ein nullum dar.

Diese zeitlich unklaren Verhältnisse seien insbesondere deshalb
von Bedeutung, weil die Beigeladene zu 1) auch ihr (der Klägerin)
gegenüber die Rentenansprüche abgetreten habe. Diese Abtretungs-
erklärung, die sich auf dem von der Beigeladenen zu 1) am
1. Juni 1979 unterzeichneten Kreditantrag befinde, sei von ihr
am 15. Juni 1979 angenommen worden. Die ihr (der Klägerin) ge-
genüber vorgenommene Abtretung sei somit am 15. Juni 1979 und
damit zu einem Zeitpunkt wirksam geworden, als die Abtretungen
zugunsten der Beigeladenen zu 2) noch nicht wirksam gewesen
seien.

Der Beklagte zu 2) hat zur Frage der Wirksamkeit des zwischen den
Beigeladenen zu 1) und 2) geschlossenen Abtretungsvertrages mit
Schriftsatz vom 24. Juni 1985 Stellung genommen. Dieser Ab-
tretungsvertrag sei am 28. Mai 1979, dem Tage der Unterzeichnung
zustande gekommen. Für die Beigeladene zu 2) sei in Saarbrücken
ein Vertreter tätig gewesen, so daß es nicht auf deren Ge-
schäftssitz in Koblenz ankomme. Dieser Vertreter habe der Beige-
ladenen zu 1) sowohl ein Darlehen gewähren als auch mit dieser
Verträge über die Abtretung von Rentenansprüchen schließen kön-
nen.

- 11 -

Die Beklagte zu 1) beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladenen zu 1) und 2) stellen keinen Antrag.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die
Schriftsätze vom 23. April 1985, 8. Mai 1985, 12. Juni 1985,
22. Juni 1985 und 5. Juli 1985 Bezug genommen.

II

Die zulässige Revision des Beklagten zu 2) ist begründet.
Die Klägerin begehrt mit der von ihr erhobenen Klage von den Be-
klagten zu 1) und 2) in Ausführung des Pfändungs- und Überwei-
sungsbeschlusses vom 18. Februar 1981 sowie des Beschlusses vom
3. Juni 1981 Zahlung des pfändbaren Teils der Renteneinkommen
ier Beigeladenen zu 1).

Da nur der Beklagte zu 2) Revision eingelegt hat, hat der Senat
auch nur über das Urteil des LSG zu entscheiden, soweit es die
gegen den Beklagten zu 2) gerichtete Klage betrifft. Das LSG hat
hierüber gemäß § 202 SGG iVm § 301 ZPO durch Teilurteil ent-
schieden, indem es über einen Teil des geltend gemachten An-
spruchs, nämlich nur für den Monat Juni 1981 entschieden und die
Entscheidung für den übrigen Zeitraum dem Schlußurteil vorbehal-
ten hat. Gegenstand der revisionsrechtlichen Prüfung ist daher

- 12 -

nur der Klageanspruch gegen den Beklagten zu 2) für den Monat
Juni 1981. Der von der Klägerin gegenüber dem Beklagten zu 2)
geltend gemachte weitergehende Anspruch für den übrigen Zeitraum
ist noch in der Berufungsinstanz anhängig und damit der Prüfung
durch den erkennenden Senat entzogen.

Das LSG hat zutreffend den Rechtsweg zu den Gerichten der So-
zialgerichtsbarkeit bejaht. Die Klägerin macht die Ansprüche der
Beigeladenen zu 1) auf die Hinterbliebenenrenten aus der ge-
setzlichen Renten- und Unfallversicherung im eigenen Namen gel-
tend, soweit sie ihr aufgrund der Pfändung zur Einziehung über-
wiesen sind. Da die Rechtsnatur eines Anspruchs durch seine
Pfändung und Überweisung nicht geändert wird und der Streit um
Rente aus der gesetzlichen Unfall- oder Rentenversicherung eine
öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der
Sozialversicherung iS des § 51 Abs 1 SGG ist, ist der Sozial-
rechtsweg gegeben (vgl ua BSGE 18, 76, 78; 53, 182, 183; SozR
1200 § 5A Nr 6; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung,
10. Auflg, S 187u).

Die von der Klägerin erhobene echte Leistungsklage ist gemäß § 54
Abs 5 SGG zulässig. Hiernach kann die Verurteilung zu einer Lei-
stung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt
werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Ein sol-
cher Fall liegt jedenfalls dann vor, wenn - wie hier - zwischen
den Beteiligten nicht streitig ist, ob und in welcher Höhe der
Schuldnerin (: Beigeladene zu 1) Rentenleistungen aus der ge-
setzlichen Renten- und Unfallversicherung zustehen, sondern le-

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diglich die Frage umstritten ist, ob und ggf welcher Teil der
Sozialleistungen aufgrund der Pfandung an die Pfändungsgläubige-
rin auszuzahlen ist. Bei dieser Sachlage bedurfte es keiner er-
neuten Regelung durch einen Verwaltungsakt, so daß vor Erhebung
der echten Leistungsklage auf Zahlung des pfändbaren Betrages der
Witwenrenten die Durchführung eines Vorverfahrens nicht erfor-
derlich wer (BSG 30zR 1200 § 5M Nr 5 S b, 7; BSGE 18, 76, 77 f).

Hieran ändern auch die beiden Schreiben des Beklagten zu 2) vom
27. Mai und 14. Juli 1482 nichts. Zwar ist es für die Wertung
einer Verwaltungshandlung als Verwaltungsakt unerheblich, ob die
Behörde zu seinem Erlaß befugt gewesen ist oder ob sie im kon-
kreten Fall überhaupt hoheitlich tätig werden durfte. Für das
Vorliegen eines Verwaltungsakts reicht es aus, daß der äußeren
Erscheinungsform nach eine hoheitliche Maßnahme zur Regelung ei-
nes Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts vorliegt.

Entscheidend hierfür ist, daß das Verwaltungshandeln seinem ln-
halt nach die Merkmale des § 31 SGB X erfüllt und erkennbar den
Willen der Benörde ausdrückt, auf dem Gebiet des öffentlichen
Rechts einen Einzelfall verbindlich zu regeln (vgl ua BSGE 15,
7b, 78 mwN; 19, 123, 124; Schneider-Danwitz in RVO/SGB-Gesamt-
Kommentar, Stand Dezember 1981, § 31 SGB X Anm 7 mwN;
Schröder-Printzen/Engelmann, SGB X, 1981, § 31 Anm 1,2). In
diesem Sinne ist der Beklagte zu 2) gegenüber der Klägerin jedoch
nicht tätig geworden. Die beiden Schreiben vom 27. Mai und
14. Juli 1981 sind - im Gegensatz zur Auffassung der Revision -
nicht als Verwaltungsakte zu werten, de sie ihrem Inhalt nach
nicht die Voraussetzungen des § 31 BGB X erfüllen. Das Schreiben
vom 27. Mai 1981 beinhaltet lediglich eine Darstellung des

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Rechtsstandpunktes des Beklagten zu 2), mit dem das Zahlungsbe-
gehren der Klägerin abgelehnt wurde. Mit dem weiteren Schreiben
vom 14. Juli 1981 wiederholt der Beklagte zu 2) unter Bezugnahme
auf sein vorhergehendes Schreiben vom 27. Mai 1981 lediglich
diesen ablehnenden Rechtsstandpunkt. Da somit ein Verwaltungsakt
des Beklagten zu 2) nicht erforderlich war und auch nicht vor-
liegt, war die Durchführung eines Vorverfahrens und mithin die
Erhebung einer Anfechtungsklage nicht notwendig; die Klägerin hat
daher hier zutreffend eine Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG
erhoben.

Entgegen der Auffassung des Beklagten zu 2) ist diese Leistungs-
klage zulässig, obwohl die Klägerin ihren Antrag nicht im ein-
zelnen beziffert hat. Zwar gilt auch im sozialgerichtlichen Ver-
fahren als Zulässigkeitsvoraussetzung das Erfordernis eines be-
stimmten Klageantrages (Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl 1981, § 92
Anm 5); hieraus folgt jedoch nicht, daß bei einer auf eine Geld-
leistung gerichteten Klage der geforderte Geldbetrag genau be-
ziffert werden müßte (Meyer-Ladewig, aaO, § 92 Anm 5; anderer
Ansicht wohl Bley in RVO/SGB-Gesamtkomm, Stand Juli 1983, § 54
SGG Anm 11c). Dieser in anderen Rechtsgebieten anerkannte Grund-
satz (vgl für die Zivilgerichtsbarkeit ua BGH NJW 1982, 340f mwN;
für die Verwaltungsgerichtsbarkeit BVerwGE 12, 189 und Hess VGH
Hess VGRspr 1977, 62, 63; Eyermann/Fröhler, VwGO, 8. Aufl 1980,
§ 82 Rdn 4; Kopp, VwG0, 7. Auflage 1986, § 82 Rdn 10), nach dem
dem Bestimmtheitsgebot jedenfalls dann genügt ist, wenn neben
einer hinreichend genauen Darlegung des anspruchsbegründenden
Sachverhalts wenigstens die ungefähre Höhe des verlangten Be-

- 15 -

trages angegeben wird, gilt auch im sozialgerichtlichen Verfah-
ren, zumal § 130 SGG bei einer auf eine Geldleistung gerichteten
echten Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs 5 SGG die Verurtei-
lung dem Grunde nach erlaubt, und zwar ohne daß - wie nach § 111
VwGO und auch § 304 ZPO erforderlich - der Anspruch dem Grunde
und der Höhe nach streitig ist. Aus der Befugnis zum Erlaß eines
Grundurteils nach § 130 SGG ergibt sich konsequenterweise, daß
ein entsprechender, hierauf gerichteter, nicht bezifferter Kla-
geantrag zulässig ist.

Die danach zulässige Leistungsklage ist hinsichtlich des gegen-
über dem Beklagten zu 2) geltend gemachten Klageanspruchs für den
Monat Juni 1981 jedoch unbegründet. Das LSG hat den Beklagten
zu 2) zu Unrecht zur Zahlung von 297,10 DM für den Monat Juni
1981 verurteilt.

Dies ergibt sich aus den Wirkungen der hier vorliegenden nach-
einander erfolgten Abtretung und Pfändung der Rentenansprüche der
Beigeladenen zu 1). Hat ein Leistungsberechtigter seine Sozial-
leistungsansprüche an einen Dritten abgetreten, so gilt im Falle
des Zusammentreffens dieser Abtretung mit einer zeitlich nach-
folgenden Pfändung das Prioritätsprinzip, soweit es sich bei dem
Abtretungsgläubiger und dem Pfändungsgläubiger - wie hier bei der
Beigeladenen zu 2) und der Klägerin - nicht um bevorrechtigte
Unterhaltsberechtigte handelt (vgl Brackmann aaO S 738 m; von
Maydell in GK-SGB I, 2. Aufl 1981, § 53 Rz 41; Heinze in
Bochumer Kommentar, SGB AT, 5 53 Rz 40; SGB I, Allgemeiner Teil,
BfA/VDR, 6. Aufl 1983, § 53 Anm 8.3). Ist also ein Anspruch auf

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Sozialleistungen nach dem SGB zunächst in den Grenzen des § 860c
ZPO abgetreten, so kommt bei einer nachfolgenden Pfändung der
Pfändungsgläubiger nur insoweit zum Zuge, als die Sozialleistung
von der vorausgegangenen Abtretung nicht erfaßt war. Gemäß § 398
Satz 2 BGB wird nämlich der Zessionar mit der Abtretung einer
Forderung eines Schuldners neuer Gläubiger des Drittschuldners,
so daß die Forderung nicht mehr zum Vermögen des Schuldners
gehört (Stöber, Forderungspfändung, 7. Auflage 1984, Rdnr 764,
1248; BAGE 41, 297, 300; OLG Hamm Rechtspfleger 1978, 186), dh,
die Klägerin als nachrangige Pfändungsgläubigerin kann mit ihrer
Pfändung nur insoweit Erfolg haben, als die Witwenrentenansprüche
der Beigeladenen zu 1) nicht wirksam an die Beigeladene zu 2)
abgetreten sind. Die Beigeladene zu 1) hat aber von der ihr für
den Monat Juni 1981 zustehenden Witwenrente aus der gesetzlichen
Unfallversicherung einen Betrag - wie unten noch näher darzulegen
ist - in Höhe von 378,70 DM wirksam an die Beigeladene zu 2) ab-
getreten.

Zutreffend hat das LSG die Wirksamkeit der Abtretung der Witwen-
rentenansprüche nicht nach Maßgabe des § 53 Abs 2 Nr 2 SGB I,
sondern nach § 53 Abs 3 SGB I beurteilt. Danach können Ansprüche
auf laufende Geldleistungen, die - wie die Witwenrenten der Bei-
geladenen zu 1) - der Sicherung des Lebensunterhalts dienen, in
anderen Fällen übertragen und verpfändet werden, soweit sie den
für Arbeitseinkommen geltenden unpfändbaren Betrag übersteigen.

§ 53 Abs 2 Nr 2 SGB I, wonach Ansprüche auf Geldleistungen über-
tragen und verpfändet werden können, wenn der zuständige Lei-
stungsträger feststellt, daß die Übertragung und Verpfändung im

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wohlverstandenen Interesse des Berechtigten liegt, ist hier schon
deshalb nicht einschlägig, weil es an einer entsprechenden Fest-
stellung des wohlverstandenen Interesses durch die Beklagte zu 1)
und den Beklagten zu 2) fehlt, die zudem durch Verwaltungsakt zu
erfolgen hat (allg Ansicht vgl ua BSG SozR 1200 § 53 Nr 2 S 0;
Hauck/Haines, SGB I, K § 53 Rz 8 aE., Heinze in Bochumer Kom-
mentar, SGB AT, § 53 Rz 21). Die Beigeladene zu 1) konnte somit
ihre gegenüber den Beklagten zu 1) und 2) bestehenden Witwen-
rentenansprüche an die Beigeladene zu 2) gemäß § 53 Abs 3 SGB I
wirksam nur innerhalb der für Arbeitseinkommen geltenden Pfän-
dungsgrenzen abtreten. Die Pfändbarkeit von Arbeitseinkommen er-
gibt sich aus § 850c Abs 1 ZPO in der hier anzuwendenden Fassung
des Artikels 1 Nr 6 des M. Gesetzes zur Änderung der Pfändungs-
freigrenzen vom 28. Februar 1978 (BGBl I S 333) sowie der maß-
gebenden Tabelle zu § 8500 Abs 3 ZPO (: Anlage zu § 850c ZPO idF
des Art 1 Nr 9 des M. Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfrei-
grenzen, Umbenennung mit Wirkung vom 1. Januar 1981 in Anlage 2
durch Art 1 Nr 13 des Gesetzes über die Prozeßkostenhilfe vom
13 Tuni 1980 — BGBl I S 677). Der pfändungsfreie Betrag ist
dabei, sofern — wie hier - verschiedene Ansprüche gegen ver-
schiedene Schuldner abgetreten werden, für jeden Anspruch geson-
dert nach § 850c ZPO zu ermitteln (Stein/Jonas/Münzberg, ZPO,
20. Aufl aaO, § 850e Rdnr 19, 32; s. auch Grunsky in ZIP 1983,
908, 909).

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat die Beigeladene
zu 1) am 28. Mai 1979 hinsichtlich ihres gegenüber dem Beklagten
zu 2) bestehenden Witwenrentenanspruches eine formularmäßige Ab-

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tretungserklärung zu Gunsten der Beigeladenen zu 2) unterzeich-
net. Hiervon hat die Beigeladene zu 2) den Beklagten zu 2) mit
Schreiben vom 13. Juli 1979 in Kenntnis gesetzt, so daß davon
auszugehen ist, daß die Abtretungserklärung der Beigeladenen zu
1) spätestens zu diesem Zeitpunkt von der Beigeladenen zu 2) an-
genommen (vgl §§ 147 bis 152 BGB) und somit der zwischen den
Beigeladenen zu 1) und 2) geschlossene Abtretungsvertrag eben-
falls spätestens zu diesem Zeitpunkt wirksam geworden ist. Dies
hat zur Folge, daß die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfall-
versicherung von der Beigeladenen zu 1) an die Beigeladene zu 2)
vorrangig vor der im Jahre 1981 und damit zeitlich späteren
Pfändung durch die Klägerin abgetreten worden ist. Hiervon ist
das LSG im angefochtenen Urteil auch zu Recht ausgegangen. Die
diesbezüglichen tatsächlichen Feststellungen des LSG sind mit
zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angegriffen wor-
den und damit für den Senat bindend (§ 163 SGG).

Der Wirksamkeit steht auch nicht entgegen, daß auf der in den
Akten des Beklagten zu 2) befindlichen Abtretungserklärung die
Unterschrift der Beigeladenen zu 1) — worauf die Klägerin im Re-
visionsverfahren hinweist — nicht beglaubigt ist. Die Beglau-
bigung der Unterschrift ist nur eine auf dem Abtretungsformular
vorgesehene Möglichkeit der Absicherung der Unterschriftslei-
stung. Dem Abtretungsvertrag sind keine Anhaltspunkte zu ent-
nehmen, daß seine Wirksamkeit von diesem gesetzlich nicht vor-
geschriebenen Formerfordernis abhängig sein soll.

Die Klägerin hält zwar die Vorrangigkeit der Abtretung zu Gunsten

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der Beigeladenen zu 2) für zweifelhaft und führt hierzu in ihrer
Revisionserwiderung aus, daß die Beigeladene zu 1) am 1. Juni
1979 ihr gegenüber die Rentenansprüche ebenfalls abgetreten habe
und diese Abtretung aufgrund ihrer Annahmeerklärung vom 15. Juni
1979 zu einem Zeitpunkt wirksam geworden sei, als die Abtretung
vom 28. Mai 1979 zu Gunsten der Beigeladenen zu 2) mangels Vor-
liegen einer entsprechenden Annahmeerklärung noch nicht wirksam
gewesen sei. Hierin könnte die Rüge mangelnder Sachaufklärung
(§ 103 SGG) zu sehen sein. Derartige Verfahrensrügen können zwar
auch vom Revisionsbeklagten im Wege der sogenannten Gegenrüge bis
zum Schluß der mündlichen Verhandlung vorgebracht werden (BSG
SozR 1500 § 16A Nr 2H mwN; Meyer-Ladewig, aaO, § 170 RdNr A mwN),
jedoch entsprechen die Ausführungen der Klägerin nicht den Er-
fordernissen des § 166 Abs 2 Satz 3 SGG. Hierfür hätte die Klä-
gerin die den Verfahrensmangel vermeintlich begründenden Tat-
sachen substantiiert darlegen müssen, wozu insbesondere dieje-
nigen Gründe gehören, aufgrund derer sich das LSG von seinem
sachlich—rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt sehen müssen,
weitere Ermittlungen zur Sachverhaltsaufklärung anzustellen und
in welcher Hinsicht derartige Ermittlungen unterlassen worden
sind (vgl BSG SozR 2200 § 160a Nr 3M mwN; SozR Nr ÖH zu § 102
SGG; SozR Nr 1A zu § 103 SGG). Da das Rangverhältnis zwischen der
Abtretung zu Gunsten der Beigeladenen zu 2) und dem von der Klä-
gerin erwirkten Pfändungs— und Uberweisungsbeschluß und somit der
zeitliche Vorrang der Abtretung vor der Pfändung nicht umstritten
war, hätte die Klägerin diesbezüglich näher darlegen müssen,
welche Umstände das LSG hätten veranlassen müssen, den genauen
Zeitpunkt der Annahme der Abtretungserklärung der Beigeladenen zu

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1) durch die Beigeladene zu 2) zu ermitteln und ob die Beige-
ladene zu 1) noch eine weitere Abtretungserklärung, und zwar zu
Gunsten der Klägerin unterschrieben hätte. Die Tatsache des Vor-
handenseins einer weiteren Abtretungserklärung der Beigeladenen
zu 1) vom 1. Juni 1979 zu Gunsten der Klägerin, die aufgrund der
zeitlichen Nähe zu der Abtretung vom 28. Mai 1979 für die zeit-
liche Rangfolge der verschiedenen Abtretungen und der Pfändung
von Bedeutung sein könnte, hat die Klägerin erst im Revisions-
verfahren vorgebracht, obwohl ihr diese Tatsache als weitere Ab-
tretungsgläubigerin von Anfang an bekannt gewesen ist, so daß sie
diese spätestens im Berufungsverfahren hätte vorbringen können.

Im Revisionsverfahren ist derartiges neues Tatsachenvorbringen
nur unter den Voraussetzungen des § 163 SGG zu berücksichtigen,
die hier aber nicht gegeben sind.

Ausgehend von diesem vom LSG festgestellten und für den Senat
somit maßgebenden Sachverhalt hat das LSG zu Unrecht die für den
Monat Juni 1981 von dem Beklagten zu 2) zu gewährende Witwenrente
von 1.104,80 DM lediglich in Höhe eines Betrages von 44,80 DM
als pfändbar und damit abtretbar angesehen. Das LSG ist bei der
Bemessung des unpfändbaren Betrages von einer Unterhaltsgewährung
der Beigeladenen zu 1) an ihre beiden Kinder im Sinne des § 850c
Abs 1 Unterabs 2 ZPO ausgegangen; es hat hierbei jedoch nicht
dargelegt, woraus sich ein Unterhaltsanspruch der beiden Kinder
M. und C. gegenüber ihrer Mutter, der Beigeladenen zu
1), ergibt, denn nur aufgrund eines Unterhaltsanspruchs gelei-
stete Zahlungen sind im Rahmen dieser Vorschrift beachtlich.

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§ 850c Abs 1 ZPO stellt hinsichtlich der Bemessung des unpfänd-
baren Teils des Einkommens auf den gesetzlichen Unterhalt ab.

Ausgehend von einem unpfändbaren Grundbetrag von seinerzeit
559,00 DM (§ 850c Abs 1 Unterabs 1 ZPO in der oa anzuwendenden
Fassung) richtet sich die Höhe des unpfändbaren Teils des Ein-
kommens des weiteren danach, ob der Schuldner, dh hier die Bei-
geladene zu 1), eine Unterhaltsverpflichtung hat. Der pfändungs-
freie Teil des Einkommens erhöht sich dabei nach § 850c Abs 1
Unterabs 2 ZPO, wenn der Schuldner ua einem Verwandten, wozu
eheliche oder nichteheliche (§§ 1615a ff BGB) Kinder etc gehören,
kraft Gesetzes unternaltspflichtig ist und tatsächlich Unterhalt
gewährt (vgl ua BAG AP Nr 2 mwN und AP Nr 3 zu § 850c ZPO). Lei-
stungen an Verwandte, die sich selbst unterhalten können, sind
daher gemäß § 1602 Abs 1 BGB nicht zu berücksichtigen (Stein/
Jonas/Münzberg, aa0, § 850c RdNr 15; Baumbach/Lauterbach/
Albers/Hartmann, ZPO, 44. Aufl, § 850c Anm 2 A).

Die Unterhaltspflichten zwischen Eltern und ihren Kindern ergeben
sich aus § 1601 BGB. Danach sind Verwandte in gerader Linie ver-
pflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Eine "abstrakte" Un-
terhaltsverpflicntung allein aufgrund einer bestimmten familien-
rechtlichen Beziehung reicht aber hierfür nicht aus. Die Pflicht
zur Gewährung von Unterhalt ergibt sich erst aus den konkreten
Lebens- und Einkommensverhältnissen des zum Unterhalt Berechtig-
ten und des hierzu Verpflichteten. Auf den vorliegenden Fall be-
zogen bedeutet dies, daß die Kinder der Beigeladenen zu 1) un-
terhaltsbedürftig (§ 1602 Abs 1 BGB) und die Beigeladene zu 1)
zur Gewährung des Unterhalts leistungsfähig (S 1603 BGB) gewesen

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sein müssen. Nach § 1602 Abs 1 BGB ist unterhaltsberechtigt, wer
außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Bei Verwandten in
gerader Linie ist diese Voraussetzung gegeben, wenn ein der Le-
bensstellung der Bedürftigen entsprechender Unterhalt nicht ge-
sichert ist, wenn sie also nicht in der Lage sind, ihren ange-
messenen Unterhalt selbst zu bestreiten (§ 1610 Abs 1 BGB).

Die Beigeladene zu 1) bezog nach den bindenden Feststellungen des
LSG (§ 163 SGG) im Juni 1981 Witwenrenten von der Beklagten zu 1)
und dem Beklagten zu 2) in einer Gesamthöhe von 1.341,90 DM.

Ihre beiden 10 und 15-jährigen Kinder C. und M. erhiel-
ten zur selben Zeit von der Beklagten zu 1) und dem Beklagten zu
2) zusammen Halbwaisenrenten in der Gesamthöhe von 1.410,60 DM,
so daß auf jedes einzelne Kind hiervon die Hälfte, dh ein Betrag
von 705,30 DM entfiel. Angesichts dieser den beiden Kindern zur
Verfügung stehenden monatlichen Einkünfte waren sie nicht unter-
haltsbedürftig im Sinne des § 1602 Abs 1 BGB.

Der Betrag des angemessenen Unterhalts bestimmt sich nach den
Umständen des Einzelfalles (BSG SozR 2200 § 596 Nr 10). Da deren
Feststellung häufig recht schwierig ist, hat die Praxis der Zi-
vilgerichte eine Anzahl von Tabellen und Leitlinien entwickelt,
um die unbestimmten Rechtsbegriffe der "Lebensstellung" und des
"angemessenen" Unterhalts praktikabel zu machen. Für eine solche
Pauschalierung treten die meisten Oberlandesgerichte ein. Eine
besonders weite Verbreitung bei den Familiengerichten haben
hierbei die in der sogenannten Düsseldorfer Tabelle festgelegten
Unterhaltsrichtlinien gefunden (vgl hierzu Gesamtüberblick bei

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Kalthoener/Büttner, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts,
3. Aufl 1985, S 3 ff), die auch in die sozialrechtliche Praxis
Eingang gefunden haben (vgl ua zuletzt Urteil des 7. Senats des
BSG vom 23. Oktober 1985 - 7 RAr 32/8M -; BSG SozR 2200 5 596
Nr 10; BSGE 57, 59, 70; 57, 77, 81, s. aber auch Gernhuber
SGb 1985, 523). Auch der Bundesgerichtshof geht in seiner Rech-
sprechung davon aus, daß bei der Bemessung des angemessenen
Unterhalts Richtsätze und Leitlinien zugrunde gelegt werden kön-
nen, die auf die gegebenen Verhältnisse abgestimmt sind und der
Lebenserfahrung entsprechen, soweit nicht im Einzelfall besondere
Umstände eine Abweichung bedingen; er hat hierbei bislang die in
der Düsseldorfer Tabelle enthaltenen unterhaltsrechtlichen
Grundsätze nicht beanstandet (vgl zB BGHZ 70, 151, 155; FamRZ
1979, 692, 693; 1982, 365, 366).

Da gemäß § 1606 Abs 3 Satz 1 BGB beide Elternteile ihren Kindern
anteilig nach ihren Erwerbs- und Vvermögensverhältnissen haften
und nach der Wertentscheidung des Gesetzes in § 1606 Abs 3 Satz 2
BGB jedenfalls während der Minderjährigkeit der Kinder davon
auszugehen ist, daß die finanziellen Leistungen des Vaters und
die Betreuung der Kinder durch die Mutter im allgemeinen als
gleichwertig anzusehen sind (BGH NJW 1981, 168, 170; BGHZ 70,
151, 159f), geben die Tabellenwerte auch nur den nälftigen Le-
bensbedarf wieder (Kalthoener/Büttner, aaO, RdNr 286). Nach dem
Tode eines Elternteils, entweder des barleistungspflichtigen oder
des die Kinder betreuenden, richtet sich daher der Unterhalts-
anspruch der Kinder in Höhe des vollen Bedarfs C: doppelter Ta-
bellensatz: Bar- und Betreuungsunterhalt) gegen den überlebenden

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Elternteil (BGH NJW 1981, 168, 170; Kalthoener/Büttner, aaO,
RdNr 287).

Auf den derart ermittelten Unterhaltsanspruch eines Berechtigten
sind dessen eigene Einkünfte anzurechnen. Zwar müssen minder-
jährige unverheiratete Kinder nach § 1602 Abs 2 BGB den Stamm
ihres Vermögens nicht zum eigenen Unterhalt verwenden, dies gilt
jedoch nicht für Einkünfte jeder Art einschließlich von ihnen
bezogener Sozialleistungen. Eine einem ehelichen Kind nach dem
Tode eines Elternteils gewährte Waisenrente aus der gesetzlichen
Renten- oder Unfallversicherung mindert oder beseitigt somit
dessen Unterhaltsbedürftigkeit und dementsprechend auch dessen
Unterhaltsanspruch (BGH NJW 1981, 168, 169 mwN; Kalthoener/Bütt-
ner, aaO, RdNr 286; Köhler, Handbuch des Unterhaltsrechts,
6. Aufl, RdNr 67; Sorgel/Lange, Kommentar zum BGB, 11. Aufl,
§ 1602 RdNr 6; Köhler in Münchener Kommentar zum BGB, 1978,
§ 1602 RdNr 17). Da - wie bereits ausgeführt - sich nach dem Tode
eines Elternteils der Unterhaltsanspruch in Höhe des vollen Be-
darfs gegen den überlebenden Elternteil richtet, kommt diesem
auch die Minderung der Unterhaltsbedürftigkeit durch die Waisen-
rente in voller Höhe zugute (BGH NJW 1981, 168, 170). Unter Zu-
grundlegung der Düsseldorfer Tabelle nach dem hier maßgebenden

Stand vom 1. Januar 1980 (vgl NJW 1980, 107; 1981, 963) ergeben
sich aufgrund des Renteneinkommens der Beigeladenen zu 1) in Höhe
von insgesamt 1.341,90 DM für den Monat Juni 1981 Unterhalts-
bedarfsbeträge von 456,00 DM für das Kind C. (: doppelter
Satz der Tabelle A "Kindesunterhalt" entsprechend der zum dama-
ligen Zeitpunkt - Juni 1981 - maßgebenden Altersstufe vom 7. bis

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zur Vollendung des 12. Lebensjahres sowie der Einkommensgruppe
1) sowie 540,00 DM für das Kind M. (= doppelter Satz der Ta-
belle A "Kindesunterhalt" entsprechend der zum damaligen Zeit-
punkt - Juni 1981 - maßgebenden Altersstufe vom 13. bis zur
Vollendung des 18. Lebensjahres sowie der Einkommensgruppe 1).

Auf diese Unterhaltsbedarfsbeträge sind die den beiden Kindern
der Beigeladenen zu 1) gewährten Waisenrenten in Höhe des jeweils
auf das einzelne Kind entfallenen Anteils von 705,30 DM voll an-
zurechnen. Da diese Einkünfte die Unterhaltsbedarfsbeträge über-
steigen, fehlt es insoweit an der Unterhaltsbedürftigkeit der
beiden Kinder der Beigeladenen zu 1).

Da somit eine Unterhaltsverpflichtung der Beigeladenen zu 1)
mangels Unterhaltsbedürftigkeit ihrer Kinder nicht bestand, war
die von dem Beklagten zu 2) zu gewährende Witwenrente des Monats
Juni 1981 nach § 8500 Abs 1 iVm der Tabelle zu § 850c Abs 3 ZP0
(= pfändbarer Betrag bei Unterhaltspflicht für null Personen -,
jeweils in der oa anzuwendenden Fassung) in Höhe eines Betrages
von 378,70 DM pfändbar und damit abtretbar. Die Beigeladene zu 1)
hat daher ihre gegen den Beklagten zu 2) bestehenden Rentenan-
sprüche wirksam und - wie ausgeführt — auch vorrangig von der
zeitlich späteren Pfändung durch die Klägerin in Höhe eines Be-
trages von 378,70 DM abgetreten. Daß in dem Beschluß des Amts-
gerichts vom 3. Juni 1981 ein höherer unpfändbarer Betrag fest-
gestellt ist, berührt die für die Abtretung maßgebende Berechnung
des pfändbaren Betrages nicht, da der Beschluß nur die Pfändung
betrifft.

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Aufgrund der wirksamen und vorrangigen Abtretung des gegenüber
dem Beklagten zu 2) bestehenden Witwenrentenanspruches in Höhe
eines Betrages von 378,70 DM war - wie bereits dargelegt - dies-
bezüglich nicht mehr die Beigeladene zu 1), sondern die Beige-
ladene zu 2) Gläubigerin des Beklagten zu 2), so daß die Pfändung
der Klägerin aufgrund des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses
vom 18. Februar 1981 ins Leere ging, da hiernach sowie dem er-
gänzenden Beschluß vom 3. Juni 1981 lediglich ein Betrag von
insgesamt 341,90 DM und damit weniger als der abgetretene Betrag
von 378,70 DM pfändbar war.

Es kann daher hier dahingestellt bleiben, welche Wirkungen die
mit dem Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß des Amtsgerichts
Saarbrücken vom 18. Februar 1981 gleichzeitig erlassenen Be-
schlüsse nach den §§ 850c und 850 e Nrn 2 und 2a ZPO sowie der
Beschluß vom 3. Juni 1981 in bezug auf die Abtretungsgläubige-
rin, dh die Beigeladene zu 2), entfalten, da dies jedenfalls
hinsichtlich des hier allein streitigen Anspruchs der Klägerin
gegen den Beklagten zu 2) für den Monat Juni 1981 nicht ent-
scheidungserheblich ist. Ein höherer Betrag als der bereits vor-
rangig von der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversiche-
rung abgetretene Betrag in Höhe von 378,70 DM ist nämlich nach
den genannten Beschlüssen - wie ausgeführt - für den Monat Juni
1981 nicht pfändbar.

Es kann daher darüber hinaus auch dahingestellt bleiben, ob trotz
fehlender Schuldnerbenennung in der weiteren Abtretungserklärung
vom 28. Mai 1979 auch die von der Beklagten zu 1) zu zahlende

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Witwenrente wirksam an die Beigeladene zu 2) abgetreten ist oder
ob entsprechend der Auffassung des LSG mangels Bestimmtheit des
Abtretungsvertrages eine wirksame Abtretung der Witwenrente aus
der gesetzlichen Rentenversicherung nicht vorliegt, da selbst bei
einer Unwirksamkeit der Abtretung der Witwenrente aus der ge-
setzlichen Rentenversicherung - wie ausgeführt - der Klägerin
jedenfalls von der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallver-
sicherung kein pfändbarer Betrag mehr zur Verfügung stehen würde.

Nach den Beschlüssen des Vollstreckungsgerichts käme allenfalls
die Pfändbarkeit der von der Beklagten zu 1) zu gewährenden Wit-
wenrente in Betracht. Hierüber hat der Senat jedoch nicht zu
entscheiden. Das Urteil des LSG, mit dem der Beklagte zu 2) zur
Zahlung von 297,10 DM verurteilt, die Klage gegen die Beklagte zu
1) jedoch in vollem Umfang abgewiesen worden ist, ist nämlich nur
von dem Beklagten zu 2) mit der Revision angefochten worden. Die
Klägerin dagegen hat keine Revision eingelegt. Das angefochtene
Urteil ist daher einer Nachprüfung durch das Revisionsgericht nur
insoweit zugänglich, als es sich um die von dem Revisionskläger
(= Beklagter zu 2) angegriffene Verurteilung zur Zahlung von
297,10 DM als pfändbaren Betrag handelt. Hinsichtlich der Klage-
abweisung gegenüber der Beklagten zu 1) ist das Urteil des LSG
zwischen den Beteiligten bindend geworden, da es diesbezüglich
weder von der Klägerin noch der Beklagten zu 1) bzw den Beigela-
denen angegriffen und auch eine Anschlußrevision innerhalb eines
Monats nach Zustellung der Revisionsbegründungsschrift nicht
eingelegt worden ist (BSGE 44, 184).

Da das SG somit im Ergebnis zutreffend die Klage gegen den Be-

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klagten zu 2) betreffend den Monat Juni 1981 abgewiesen hat, war
das angefochtene Urteil insoweit zu ändern und die Berufung gegen
das Urteil des SG betreffend den Zeitraum Juni 1981 zurückzuwei-
sen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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BSG, 2 BU 15/91 vom 09.08.1991, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT
2 BU 15/91

BESCHLUSS

in dem Rechtsstreit

Kläger, Antragsteller
und Beschwerdeführer,
gesetzlich vertreten durch seinen Pfleger ... ,
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt ...,

gegen

Bayerischer Gemeindeunfallversicherungsverband,
München 40, Ungererstraße 71,
Beklagter, Antragsgegner
und Beschwerdegegner.

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat am 9. August 1991
durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. K. sowie
Richter W. und Dr. B.
beschlossen:

Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Nichtzu-
lassungsbeschwerde vor dem Bundessozialgericht Prozeßkosten-
hilfe zu bewilligen und ihm Rechtsanwalt M..... beizuordnen,
wird abgelehnt.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision
im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Oktober
1990 wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe :

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Pflege oder Pfle-
gegeld wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 23. März 1979.
Den Antrag des Klägers, ihm Pflegegeld zu gewähren, lehnte der
Beklagte ab, weil der Kläger nicht infolge des Arbeitsunfalls,
sondern durch seine paranoide Schizophrenie hilflos sei
(formloses Schreiben vom 4. Februar 1986, Widerspruchsbescheid
vom 10. Februar 1987). Vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg und
dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger eben-
falls keinen Erfolg gehabt (Urteile vom 19. Juli 1988, berich-
tigt am 6. Oktober 1988 - S 2 U 57/87 - und vom 24. Oktober 1990
- L 2 U 204/88 -) .

Sein Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe für das Ver-
fahren der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundessozialgericht
(BSG) war abzulehnen; die nicht in zulässiger Form begründete
Beschwerde war zu verwerfen.

Prozeßkostenhilfe kann dem Kläger allein deshalb nicht gewährt
werden, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinrei-
chende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Sozialgerichtsgesetz -
SGG- iVm § 114 Abs 1 Satz 1 Zivilprozeßordnung idF des Gesetzes
über die Prozeßkostenhilfe vom 13. Juni 1980 - BGBl I 677 -).
Zulassungsgründe iS des § 160 Abs 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das
LSG ist unzulässig. Die dazu gegebene Begründung entspricht

- 3 -

nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 SGG festgelegten
gesetzlichen Form. Nach der ständigen Rechtsprechung erfordert
§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG, daß die Zulassungsgründe schlüssig
dargetan werden (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 34, 47, 54, 58). Daran
fehlt es der Beschwerde. Der Beschwerdeführer hat keinen der in
§ 160 Abs 2 SGG genannten Zulassungsgründe formgerecht bezeichnet
oder dargelegt. In seiner Beschwerdebegründung erwähnt er noch
nicht einmal eine einzige Vorschrift des SGG für das Verfahren
der Nichtzulassungsbeschwerde.

Zur Begründung der Grundsätzlichkeit einer Rechtssache iS des
§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG muß erläutert werden, daß und warum in dem
angestrebten Revisionsverfahren eine Rechtsfrage erheblich sein
würde, die über den Einzelfall hinaus allgemeine Bedeutung hat
(BSG SozR 1500 § 160a Nr 39). Der Beschwerdebegründung fehlt es
sowohl an der konkreten Formulierung einer Rechtsfrage als auch an
der schlüssigen Darlegung, warum das angedeutete Rechtsproblem
klärungsbedürftig ist.

Eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG hat der Beschwerde-
führer nicht schlüssig bezeichnet, weil er die Entscheidung des
BSG, von der die Entscheidung des LSG abweichen soll, nicht mit
Datum und Aktenzeichen genau bezeichnet hat und auch die Angabe
fehlt, mit welchem tragenden Rechtssatz der angefochtenen
Entscheidung das LSG von welcher genau bezeichneten tragenden
rechtlichen Aussage eine Entscheidung des BSG abgewichen sein
soll (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14).

- 4 -

Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefoch-
tene Entscheidung beruhen kann. Auch daran fehlt es der Be-
schwerdebegründung.

Zweck des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde ist es nicht,
das Urteil eines LSG daraufhin zu überprüfen, ob das materielle
Recht zutreffend angewandt worden ist. Deshalb kann der Kläger
in diesem Verfahren nicht mit dem Argument gehört werden, das
LSG habe den Grundsatz der Subsidiarität sozialhilferechtlicher
Leistungen grundlegend verkannt.


Aus den oben angeführten prozeßrechtlichen Gründen ist es dem
Senat verwehrt, zu dieser materiell-rechtlichen Frage Stellung
zu nehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung
des § 193 SGG.

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BSG, 1 RK 23/96 vom 18.02.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: 1 RK 23/96

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Schwäbisch Gmünder Ersatzkasse,
73529 Schwäbisch Gmünd, Gottlieb-Daimler-Straße 19,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung
am 18. Februar 1997 durch den Präsidenten von W. ,
die Richter S. und Dr. D. sowie die ehrenamtliche
Richterin D. und den ehrenamtlichen Richter H.
für Recht erkannt:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom
26. September 1996 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

Der 1938 geborene Kläger leidet an einer Niereninsuffizienz, derentwegen er sich seit
Dezember 1993 zwei- bis dreimal wöchentlich einer Dialysebehandlung unterziehen muß.

Für die Fahrten zwischen seiner Wohnung in Wilhelmshaven und dem Dialysezentrum in
Jever benötigt er ein Taxi. Die beklagte Ersatzkasse übernahm aufgrund der Härtefallre-
gelung des § 62 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) für 1994 den die Bela-
stungsgrenze übersteigenden Teil der notwendigen Fahrkosten. Eine darüber hinausge-
hende, generelle Kostenübernahme nach Maßgabe des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V lehnte
sie ab, weil die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt seien (Bescheid vom
9. März 1994; Widerspruchsbescheid vom 9. September 1994).

Klage und Berufung des Klägers sind ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht
(LSG) hat im Urteil vom 26. September 1996 ausgeführt, auf § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4
SGB V lasse sich der geltend gemachte Anspruch nicht stützen. Diese Bestimmung sehe
bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung eine Kostenübernahme nur für den
Fall vor, daß dadurch eine an sich gebotene vollstationäre oder teilstationäre Kranken-
hausbehandlung vermieden werde. Dialysebehandlungen würden aber regelmäßig ambu-
lant durchgeführt, so daß der angesprochene Gesichtspunkt bei ihnen nicht zum Tragen
komme. Da die Regelung in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V vom Gesetzgeber bewußt eng
gefaßt worden sei, scheide auch eine analoge Anwendung der Bestimmung auf andere,
vom Wortlaut nicht erfaßte Tatbestände aus. Das Gleichbehandlungsgebot des Art 3
Abs 1 Grundgesetz (GG) werde durch die Nichteinbeziehung der Dialysebehandlungen in
die gesetzliche Regelung nicht verletzt.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, die Dialyse müsse im Hinblick auf den damit
verbundenen zeitlichen, personellen und medizinisch-technischen Aufwand einer teilsta-
tionären Behandlung gleichgesetzt werden. Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebiete,
daß bei Dialysepatienten ebenso wie bei anderen Schwerkranken die mit der medizini-
schen Versorgung in Zusammenhang stehenden Fahrkosten von der Krankenkasse ge-
tragen werden.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. September 1996 und

des Sozialgerichts Oldenburg vom 25. Oktober 1995 aufzuheben und die Beklagte

unter Abänderung des Bescheides vom 9. Mai 1994 in der Gestalt des Wider-

- 3 -

spruchsbescheides vom 9. September 1994 zu verurteilen, ihm den Eigenanteil an
den Fahrkosten zu Dialysebehandlungen ab April 1994 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Zwischen den Beteiligten besteht Übereinstimmung, daß die Beklagte die Kosten des
Klägers für Fahrten zur Dialysebehandlung nach der Härtefallregelung des § 62 Abs 1
SGB V insoweit zu tragen hat, als sie die dort festgelegte individuelle Belastungsgrenze
übersteigen. Eine darüber hinausgehende, generelle Übernahme dieser Kosten, wie sie
der Kläger begehrt, läßt das geltende Recht nicht zu. Die klageabweisenden Urteile der
Vorinstanzen sind deshalb zu bestätigen.

Zu der Frage, ob und inwieweit die durch eine Krankenbehandlung verursachten Fahrko-
sten zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, trifft das Ge-
setz eine differenzierende Regelung: Nach der Grundnorm des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V
sind diese Kosten von der Krankenkasse nur bei bestimmten, in der Vorschrift genannten
Sachverhalten zu tragen, während sie im übrigen dem Verantwortungsbereich des Versi-
cherten zugerechnet werden. Demgegenüber hat die Kasse nach § 60 Abs 2 Satz 2
SGB V unabhängig von der Art der Leistung einzutreten, wenn die Kosten den Versicher-
ten unzumutbar belasten würden, sei es, daß er wegen seines geringen Einkommens
überhaupt keine Eigenleistungen erbringen kann (§ 61 SGB V) oder daß die entstehen-
den Aufwendungen eine von der Einkommenshöhe abhängige Grenze der zumutbaren
Eigenbelastung überschreiten (§ 62 SGB V). Gemäß § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V übernimmt
die Krankenkasse die einen Betrag von 20,00 DM je Fahrt übersteigenden Fahrkosten bei
Fahrten zu einer stationären Behandlung (Nr 1), bei Rettungsfahrten (Nr 2), bei Kranken-
transporten (Nr 3) sowie bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung einschließ-
lich einer Behandlung nach § 115a oder § 115b SGB V, wenn dadurch eine an sich ge-
botene vollstationäre oder teilstationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt
wird oder diese nicht ausführbar ist (Nr 4).

Da die Dialysebehandlungen des Klägers ambulant durchgeführt werden und keinen
qualifizierten Krankentransport iS der Nr 3 erfordern, kommt als Grundlage des geltend
gemachten Anspruchs allein § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in Betracht. Wie das LSG
zutreffend ausgeführt hat, sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift jedoch nicht erfüllt;

- 4 -

denn die Dialyse gehört nicht zu den Leistungen, durch die eine "an sich gebotene"
stationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird. Der Senat braucht
nicht zu entscheiden, ob mit dieser Wendung nur Ausnahmefälle erfaßt werden sollen, in
denen eine aus medizinischer Sicht eigentlich notwendige stationäre Behandlung aus be-
sonderen Gründen ambulant vorgenommen wird (so wohl Krauskopf, Soziale Krankenver-
sicherung und Pflegeversicherung, Stand Juni 1996, § 60 SGB V RdNr 16), oder ob dar-
unter, wofür die Einbeziehung der Leistungen nach § 115b SGB V spricht, auch solche
Behandlungen fallen, die zwar bisher (noch) überwiegend stationär erbracht werden,
grundsätzlich aber auch ambulant durchführbar sind und durchgeführt werden. Nachdem
Dialysebehandlungen regelmäßig ambulant erbracht werden und allenfalls beim Auftreten
von Komplikationen eine stationäre Aufnahme nach sich ziehen, werden sie vom Rege-
lungsgehalt des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in keinem Fall erfaßt.

Mit Recht hat es das LSG auch abgelehnt, § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zur
Dialysebehandlung analog anzuwenden. Eine Erstreckung des Anwendungsbereichs der
Vorschrift auf weitere, nicht ausdrücklich genannte Fälle einer ambulanten Behandlung
käme nur in Betracht, wenn die getroffene Regelung gemessen an den mit ihr verfolgten
Zielen unvollständig wäre und durch die Einbeziehung ähnlicher, vom Gesetzeszweck
ebenfalls erfaßter Sachverhalte ergänzt werden müßte. Für die Annahme einer solchen
planwidrigen Gesetzeslücke ist indessen nach dem Inhalt der Vorschrift und der ihr
zugrundeliegenden Regelungsabsicht kein Raum.

Bereits die Tatsache, daß das Gesetz die Übernahme der durch eine medizinische
Behandlung verursachten Fahrkosten durch die Krankenkasse auf bestimmte, genau
umschriebene Sachverhalte beschränkt und den Versicherten im übrigen in § 60 Abs 2
Satz 2 SGB V auf die Härteklauseln der §§ 61 und 62 SGB V verweist, macht deutlich,
daß die Regelung Ausnahmecharakter hat und die privilegierten Tatbestände abschlie-
ßend erfassen will. Dies wird durch die Rechtsentwicklung bestätigt. Während der
frühere, am 31. Dezember 1988 außer Kraft getretene § 194 Abs 1 Reichsversicherungs-
ordnung (RVO) noch generell die Erstattung der im Zusammenhang mit einer Leistung
der Krankenkasse erforderlichen Fahr-, Verpflegungs- und Übernachtungskosten ein-
schließlich eines notwendigen Gepäcktransports vorgesehen hatte, hat das Gesundheits-
Reformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477) die Ansprüche auf Reise-
kostenerstattung drastisch eingeschränkt. Seither werden nur noch Fahrkosten und auch
diese nur in besonderen Fällen übernommen. Die Fahrkosten zu einer ambulanten
Behandlung hat der Versicherte grundsätzlich selbst zu tragen. Ausgenommen hiervon
waren nach der ursprünglichen, auf dem GRG beruhenden Fassung des § 60 Abs 2
Satz 1 SGB V nur Rettungsfahrten zum Krankenhaus und Krankentransporte in einem
speziellen Krankentransportfahrzeug. Der Gesetzgeber war der Auffassung, daß
einerseits die starke, durch eine weitgehend unkritische Verordnung von Krankenfahrten
seitens der Ärzte und Krankenhäuser mitverursachte Kostenbelastung der Kranken-

- 5 -

kassen finanziell nicht länger vertretbar, andererseits angesichts des hohen Grades der
Motorisierung und des zumindest im städtischen Bereich dichten Netzes öffentlicher Ver-
kehrsmittel eine umfassende Kostenübernahme auch nicht zwingend geboten sei
(Regierungsentwurf zum GRG, BR-Drucks 200/88 S 186 Begr zu § 68). Das
Gesundheits-Strukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S 2266) hat den
Katalog der zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung zählenden
Fahrkosten um den Tatbestand des jetzigen § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V erweitert,
ohne das der Vorschrift zugrundeliegende Regel-Ausnahmeprinzip aufzugeben. Ange-
sichts dessen ist nicht zweifelhaft, daß die Aufzählung der für eine Kostenerstattung in
Frage kommenden Fälle abschließend sein soll.

Der Annahme einer unbeabsichtigten Regelungslücke als Voraussetzung für eine analoge
Anwendung des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zu Dialysebehandlungen steht
aber vor allem der aus der Entstehungsgeschichte ersichtliche Zweck dieser Vorschrift
entgegen. Im Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. vom 5. No-
vember 1992 (BT-Drucks 12/3608 S 82) ist ihre Einführung damit begründet worden, daß
dadurch Anreize zur Vermeidung oder Verkürzung einer stationären Behandlung geschaf-
fen werden sollten. Im Unterschied zu den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V ge-
nannten Sachverhalten, bei denen die überdurchschnittliche Höhe der zu erwartenden Ko-
sten den Grund für die Ausnahmeregelung abgibt, ging es bei den Behandlungsfällen
nach Nr 4 darum, das Ziel einer Verlagerung von Leistungen aus dem stationären in den
ambulanten Bereich nicht durch eine Schlechterstellung der ambulanten Behandlungsal-
ternativen bei der Fahrkostenerstattung zu gefährden. Mit Blick auf diese gesetzgeberi-
sche Absicht sind Dialysebehandlungen den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V aufgeführ-
ten Behandlungen von vornherein nicht vergleichbar, so daß es insoweit an einem analo-
giefähigen Tatbestand fehlt. Diese Konsequenz ist im Gesetzgebungsverfahren aus-
drücklich gesehen und gebilligt worden. Der Ausschuß für Gesundheit des Deutschen
Bundestages, auf dessen Beschlußempfehlung vom 7. Dezember 1992 (BT-Drucks
12/3930 S 17) der endgültige Text der Vorschrift zurückgeht, hat in seinem Bericht vom
8. Dezember 1992 (BT-Drucks 12/3937 S 12) wörtlich ausgeführt: "Für Leistungen, die
grundsätzlich ambulant erbracht werden (zB Dialysebehandlungen) bringt die Neurege-
lung keine Änderung gegenüber dem bisherigen Recht, da bei solchen Behandlungen
stationäre oder teilstationäre Krankenhauspflege nicht erforderlich ist und damit auch
nicht vermieden werden kann." Das Problem der Fahrkosten bei Dialysebehandlungen
und allgemein bei ambulanten Dauer- oder Serienbehandlungen war dem Gesetzgeber
demnach bekannt und sollte bewußt nicht in dem von der Revision befürworteten Sinne
einer Einbeziehung dieser Leistungen in die Kostenerstattungsregelung gelöst werden.

Zu Unrecht beruft sich der Kläger für seinen Rechtsstandpunkt auf den Gleichbehand-lungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG. Abgesehen davon, daß die gesetzliche Regelung
gegen den erklärten Willen des Gesetzgebers auch im Wege einer ver-

- 6 -

fassungskonformen Auslegung nicht auf Fahrten zu Dialysebehandlungen erstreckt
werden könnte (vgl dazu BVerfGE 8, 28, 34; 70, 35, 63 f mwN; Hesse, Grundzüge des
Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl, RdNr 80), gibt es für die
Privilegierung der in § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V genannten Tatbestände hinreichende
sachliche Gründe. Daß Dialysebehandlungen auf der einen und die in § 60 Abs 2 Satz 1
Nr 4 SGB V aufgeführten ambulanten Leistungen auf der anderen Seite in bezug auf die
Erstattung von Fahrkosten unterschiedlich behandelt werden, ist angesichts des mit der
genannten Vorschrift verfolgten Zwecks sachgerecht. Der Umstand, daß die Dialyse
wegen der Häufigkeit und der Zeitdauer der Behandlung sowie des erforderlichen perso-
nellen und medizinisch-technischen Aufwands einer teilstationären Behandlung vergleich-
bar sein mag, zwingt auch nicht dazu, sie hinsichtlich der Übernahme von Fahrtkosten
einer stationären Therapie iS des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V gleichzusetzen. Anders
als in den Fällen des § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V, in denen es darum geht, den
Versicherten von dem Risiko einer einmaligen hohen Kostenbelastung freizustellen,
verteilen sich die - in der Summe unter Umständen ebenfalls hohen - Fahrkosten bei
Dialysebehandlungen regelmäßig über einen längeren Zeitraum. Insoweit wird jedoch
durch die Regelung in § 62 Abs 1 SGB V sichergestellt, daß die finanzielle Ge-
samtbelastung des Versicherten durch Fahrkosten sowie Zuzahlungen zu Arznei-,
Verband- und Heilmitteln längerfristig nicht über einen zumutbaren Eigenanteil hinaus an-
wächst. Im Hinblick auf diese Unterschiede und bei Berücksichtigung der
Härtefallregelung ist die Differenzierung zwischen Fahrten zur stationären Behandlung auf
der einen und den auf lange Sicht vergleichbar kostenaufwendigen Fahrten zu einer
ambulanten Langzeitbehandlung auf der anderen Seite verfassungsrechtlich nicht zu be-
anstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

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BSG, 1 RK 23/95 vom 09.12.1997, Bundessozialgericht
BUNDESSOZIALGERICHT

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: 1 RK 23/95

Kläger und Revisionsbeklagter,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Barmer Ersatzkasse,

Untere Lichtenplatzer Str. 100-102, 42289 Wuppertal,

Beklagte und Revisionsklägerin.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom
9. Dezember 1997 durch die Richter S. - Vorsitzender - , Dr. D.
und Dr. S. sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. B.
und B.

für Recht erkannt:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-
Westfalen vom 27. Juli 1995 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 9. September
1994 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

- 2 -

Gründe:

I

Der 1987 geborene Kläger leidet an einer Phenylketonurie, einer angeborenen Störung
des Eiweißstoffwechsels, bei der die Aminosäure Phenylalanin vom Körper nicht abge-
baut werden kann. Die Krankheit erfordert eine Diät, deren Grundlage phenylalaninfreie
Eiweißersatzpräparate bilden. Daneben müssen haushaltsübliche Getreideprodukte wie
Mehl, Brot, Backwaren, Teigwaren, Gebäck und Pasteten durch eiweißarme Spezialnah-
rungsmittel aus dem Reformhaus ersetzt werden.

Die beklagte Ersatzkasse, bei welcher der Kläger über seine Mutter krankenversichert ist,
trägt die Kosten für die als Arzneimittel eingestuften Eiweißersatzpräparate. Die Über-
nahme der Kosten für die eiweißarmen Nahrungsmittel lehnte sie dagegen mit Bescheid
vom 28. März 1989 (Widerspruchsbescheid vom 21. August 1989) ab, weil die Kranken-
versicherung für die Beschaffung von Lebensmitteln des täglichen Bedarfs auch dann
nicht aufzukommen habe, wenn aus Krankheitsgründen eine besondere, kostenaufwen-
digere Ernährung vonnöten sei.

Während das Sozialgericht (SG) die dagegen gerichtete Klage abgewiesen hat, hat das
Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, dem Kläger die durch die notwendige
eiweißarme Ernährung entstandenen Mehrkosten im Verhältnis zu den Kosten der Ernäh-
rung eines gesunden gleichaltrigen Versicherten zu erstatten (Urteil vom 27. Juli 1995).

Es hat ausgeführt: Lebensmittel seien zwar im Regelfall auch dann keine Arznei- oder
Heilmittel, wenn ihnen über den allgemeinen Ernährungszweck hinaus eine spezifische
Heilwirkung zukomme, wie dies bei den eiweißarmen Getreideprodukten der Fall sei. Et-
was anderes müsse jedoch ausnahmsweise gelten, wenn der Versicherte auf die beson-
dere Ernährung angewiesen und ihm die Beschaffung der teureren Spezialnahrungsmittel
unter Abwägung mit den Interessen der Solidargemeinschaft wirtschaftlich nicht zumutbar
sei. Letzteres sei hier der Fall gewesen, denn die Mutter des Klägers habe zeitweise von
Sozialhilfe gelebt und die zusätzlichen Mittel für die Krankenkost in Höhe von mindestens
100,-- DM pro Monat nicht aufbringen können.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Der Krankenbe-
handlungsanspruch umfasse nach § 27 Abs 1 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch
(SGB V) die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, nicht aber die Be-
reitstellung von Mitteln des allgemeinen Lebensbedarfs. Für Mehraufwendungen, welche
durch eine besondere krankheitsbedingte Lebensführung entstünden, habe die Kranken-
versicherung grundsätzlich keinen Ersatz zu leisten, es sei denn, daß ausdrücklich etwas
anderes geregelt sei. Hiervon könne nicht je nach den Umständen des Einzelfalles abge-
wichen werden. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Versicherten sei schon vom

- 3 -

Ansatz her kein geeigneter Gradmesser für die Leistungsverpflichtung eines Trägers der
gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Juli 1995 aufzu-
heben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold
vom 9. September 1994 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Mehraufwendungen für besondere
krankheitsverträgliche Nahrungsmittel seien typische Folgekosten der Krankheit und mit-
hin dem Risikobereich der Krankenversicherung zuzurechnen. Dies rechtfertige es, sie
jedenfalls dann der Krankenkasse aufzubürden, wenn der Versicherte mit der Aufbrin-
gung der zusätzlichen Mittel wirtschaftlich überfordert sei.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Wiederherstellung der klageabwei-
senden Entscheidung erster Instanz.

Nach dem Tenor des angefochtenen Urteils hat das Berufungsgericht nur über die Er-
stattung der bei Erlaß des Urteils bereits entstandenen Kosten entschieden. Es hat damit
das Klagebegehren, das auf Übernahme der durch die eiweißarme Ernährung bedingten
Mehraufwendungen ohne zeitliche Begrenzung gerichtet war, nicht ausgeschöpft. Da nur
die Beklagte Revision eingelegt hat, ergeben sich daraus jedoch keine prozessualen Fol-
gerungen. In der Sache selbst kann der Auffassung des LSG nicht gefolgt werden. Der
Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der durch den Verzehr eiweißarmer Spezial-
nahrungsmittel entstandenen krankheitsbedingten Mehrkosten.

Als Rechtsgrundlage des vom LSG angenommenen Erstattungsanspruchs kommt nur
§ 13 Abs 3 (früher Abs 2) SGB V in Betracht. Danach hat die Krankenkasse, wenn sie
eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu
Unrecht abgelehnt hat, dem Versicherten die für die Beschaffung der Leistung aufgewen-
deten Kosten zu erstatten. Da der Kostenerstattungsanspruch an die Stelle eines an sich
gegebenen Sachleistungsanspruchs tritt, kann er nur bestehen, soweit die selbstbe-
schaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, welche die gesetzlichen Kran-
kenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben. Das ist bei den im Streit
befindlichen Diätnahrungsmitteln nicht der Fall.

- 4 -

Die von der Krankenkasse zu gewährende Krankenbehandlung umfaßt neben der ärztli-
chen Behandlung ua nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V die Versorgung mit Arznei-,
Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Diätnahrungsmittel sind keine Heilmittel iS der genannten
Vorschrift, weil sie zum Verzehr und nicht zur äußeren Einwirkung auf den Körper be-
stimmt sind (zum Begriff des Heilmittels vgl BSGE 28, 158, 159 f = SozR Nr 30 zu § 182
RVO Bl Aa 28; BSGE 46, 179, 182 = SozR 2200 § 182 Nr 32 S 62; BSG SozR 3-2200
§ 182 Nr 11 S 47 f). Als Arzneimittel dürfen sie nach den Arzneimittelrichtlinien des Bun-
desausschusses der Ärzte und Krankenkassen (AMRL) von den an der vertragsärztlichen
Versorgung teilnehmenden Ärzten nicht verordnet werden (vgl Nr 17.1 Buchst i AMRL
vom 31. August 1993 - BAnz 1993 Nr 246; ebenso früher: Nr 21 Buchst i AMRL vom
19. Juni 1978 - Beilage zum BAnz 1978 Nr 235). Sie sind damit von der Anwendung zu
Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Die auf der Grundlage
des § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V erlassenen AMRL regeln als untergesetzliche Rechts-
normen den Umfang und die Modalitäten der Arzneimittelversorgung mit verbindlicher
Wirkung sowohl für die Vertragsärzte und die Krankenkassen als auch für die Versicher-
ten (allgemein zur Rechtsqualität und Tragweite der Richtlinien der Bundesausschüsse
der (Zahn)Ärzte und Krankenkassen: Senatsurteil vom 16. September 1997 - 1 RK 32/95,
zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Das Verordnungsverbot für Diätle-
bensmittel und Krankenkost hält sich im Rahmen der dem Bundesausschuß der Ärzte
und Krankenkassen erteilten Rechtsetzungsermächtigung. Zwar bezieht sich diese Er-
mächtigung nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur auf den Erlaß
von Vorschriften zur Sicherung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen
Arzneimittelversorgung und gibt dem Bundesausschuß nicht die Befugnis, selbst Inhalt
und Grenzen des Arzneimittelbegriffs festzulegen (BSGE 66, 163, 164 = SozR 3-2200
§ 182 Nr 1 S 2; BSGE 67, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 4; BSGE 72, 252, 255
= SozR 3-2200 § 182 Nr 17 S 81 f). Der Regelung in Nr 17.1 Buchst i AMRL liegt indes-
sen kein vom Gesetz abweichender Arzneimittelbegriff zugrunde. Sie zieht mit dem Aus-
schluß von Diätnahrungsmitteln aus der vertragsärztlichen Versorgung lediglich die recht-
liche Konsequenz daraus, daß derartige Produkte keine Arzneimittel im krankenversiche-
rungsrechtlichen Sinne sind.

Der Begriff des Arzneimittels wird im SGB V selbst nicht erläutert. Nach der Definition des
Arzneimittelgesetzes (AMG), die im wesentlichen mit dem allgemeinen Sprachgebrauch
übereinstimmt, sind darunter Substanzen zu verstehen, deren bestimmungsgemäße Wir-
kung darin liegt, Krankheitszustände zu erkennen, zu heilen, zu bessern, zu lindern oder
zu verhüten (vgl § 2 Abs 1 AMG idF der Bekanntmachung vom 19. Oktober 1994 - BGBl I
3018). Die in Rede stehenden eiweißarmen Getreideprodukte dienen demgegenüber in
erster Linie der Ernährung. Sie treten an die Stelle haushaltsüblicher Back- und Teigwa-
ren, deren Verzehr dem Kläger wegen ihrer krankheitsverschlimmernden Wirkung versagt
ist. Ihre durch den vorrangigen Verwendungszweck begründete Eigenschaft als Nah-

- 5 -

rungs- bzw Lebensmittel (vgl § 1 Abs 1 Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz idF
der Bekanntmachung vom 9. September 1997 - BGBl I 2390) verlieren sie nicht dadurch,
daß sie speziell zu dem Zweck hergestellt werden, eine auf die Krankheit abgestimmte
Ernährungsweise zu ermöglichen. Als Lebensmittel sind sie, wie § 2 Abs 3 Nr 1 AMG
ausdrücklich klarstellt, keine Arzneimittel. Sie gehören damit auch nicht zur Arzneimittel-
versorgung als Teil der Krankenbehandlung. Dabei kann offenbleiben, ob der Arzneimit-
telbegriff des SGB V in jeder Hinsicht mit demjenigen des AMG übereinstimmt
(verneinend: BSGE 67, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 4; BSG SozR 3-2200 § 182
Nr 11 S 46; bejahend: Schlenker, DOK 1987, 236 ff; ders, SGb 1988, 473 ff). Darauf
kommt es nicht an, weil jedenfalls in dem hier interessierenden Punkt der Unterscheidung
und Abgrenzung zwischen Arzneimitteln auf der einen und Nahrungsmitteln auf der ande-
ren Seite keine Abweichung besteht.

Eine Ausweitung des Arzneimittelbegriffs durch Einbeziehung von Diät- oder Krankenkost
widerspräche der begrenzten Aufgabenstellung der gesetzlichen Krankenversicherung.

Diese verfolgt nicht das Ziel, den Versicherten vor krankheitsbedingten Nachteilen umfas-
send zu schützen. Bei der Vielzahl von Auswirkungen, die eine Krankheit auf die Le-
bensführung des Betroffenen haben kann, wäre das Krankenversicherungsrisiko nicht
sachgerecht begrenzbar, wenn es sich auf alle durch die Krankheit veranlaßten Aufwen-
dungen erstrecken würde. Die Leistungspflicht der Krankenkassen ist deshalb, soweit das
Gesetz nichts anderes vorschreibt, auf Maßnahmen beschränkt, die gezielt der Krank-
heitsbekämpfung dienen. Mehrkosten und andere Nachteile und Lasten, die der Versi-
cherte im täglichen Leben wegen der Krankheit hat, sind der allgemeinen Lebenshaltung
zuzurechnen und nicht von der Krankenkasse zu tragen (vgl BSGE 42, 16, 18 f = SozR
2200 § 182 Nr 14 S 30 f; BSGE 42, 229, 231 = SozR 2200 § 182b Nr 2 S 3; BSGE 53,
273, 275 = SozR 2200 § 182 Nr 82 S 161 f). Das gilt grundsätzlich auch für Mehraufwen-
dungen, die durch eine besondere, krankheitsangepaßte Ernährungsweise entstehen
(BSG SozR 2200 § 182 Nr 88 S 183; BSGE 63, 99, 100 = SozR 2200 § 182 Nr 109 S 234;
vgl zur identischen Risikoabgrenzung im Beihilferecht des öffentlichen Dienstes: OVG
Rheinland-Pfalz, Der öffentliche Dienst 1995, 291; VGH Baden-Württemberg, Zeitschrift
für Beamtenrecht 1985, 255; im sozialen Entschädigungsrecht: BSGE 64, 1 = SozR 3100
§ 11 Nr 17; im Sozialhilferecht: BverwG Buchholz 427.3 § 276 LAG Nr 15).

Dementsprechend hat der 3. Senat des BSG schon zum früheren Recht der Reichsversi-
cherungsordnung (RVO) entschieden, daß Lebensmittel, auch soweit ihnen über ihren
generellen Ernährungszweck hinaus eine spezifische krankheitsheilende, krankheitslin-
dernde oder verschlimmerungshemmende Wirkung zukommt, keine Arzneimittel im Sinne
des Leistungsrechts der Krankenversicherung sind (Urteil des 3. Senats vom 18. Mai
1978 - BSGE 46, 179, 182 = SozR 2200 § 182 Nr 32 S 82).

Dieser Rechtsstandpunkt ist entgegen der Ansicht des LSG nicht dadurch relativiert wor-
den, daß derselbe Senat in späteren Entscheidungen zu § 182 Abs 1 RVO die Auffassung

- 6 -

vertreten hat, eine Krankenkost könne von der Krankenkasse ausnahmsweise gewährt
werden, wenn zu der Heilwirkung der Kost für den einzelnen Versicherten noch beson-
ders gravierende Umstände, insbesondere eine unzumutbar hohe finanzielle Belastung
durch die im Vergleich zu üblichen Lebensmitteln teureren Diätpräparate, hinzuträten
(Urteile vom 23. März 1983 - SozR 2200 § 182 Nr 88 S 183 und vom 23. März 1988 -
BSGE 63, 99, 100 = SozR 2200 § 182 Nr 109 S 234; ähnlich für andere Gegenstände des
allgemeinen Lebensbedarfs: BSGE 65, 154, 157 = SozR 2200 § 368e Nr 13 S 35; BSGE
67, 36, 37 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 3). Damit ist nicht zum Ausdruck gebracht worden,
daß beim Vorliegen derartiger Umstände die Krankenkost zum Arzneimittel wird. Die Re-
vision weist mit Recht darauf hin, daß die Arzneimitteleigenschaft einer Substanz durch
den Verwendungszweck bestimmt wird und nichts mit der wirtschaftlichen Leistungsfähig-
keit des Versicherten zu tun hat. Andernfalls könnte ein und dasselbe Produkt je nach der
Situation des Erkrankten einmal Arzneimittel sein und ein anderes Mal nicht. Die ange-
führten Entscheidungen haben nicht den Arzneimittelbegriff modifiziert, sondern vielmehr
das Spektrum der im Gesetz vorgesehenen Leistungen erweitert. Das war nach früherem
Recht nicht ausgeschlossen; denn § 182 Abs 1 Nr 1 RVO enthielt, wie das Wort
"insbesondere" im Einleitungssatz der Vorschrift verdeutlicht, keine abschließende Auf-
zählung der als Krankenpflege zu gewährenden Leistungen und ließ damit Raum für eine
Ausweitung des Leistungskatalogs. Insofern konnte die Gewährung der Krankenkost in
den genannten Ausnahmefällen als eine besondere Leistung der Krankenpflege neben
den in § 182 Abs 1 Nr 1 RVO ausdrücklich genannten Leistungsarten angesehen werden.

Diese Möglichkeit ist mit dem Inkrafttreten des SGB V am 1. Januar 1989 entfallen. Der
jetzige § 27 Abs 1 Satz 2 SGB V regelt den Umfang der Krankenbehandlung bewußt ab-
schließend (Begründung zum Entwurf des Gesundheitsreformgesetzes, BT-Drucks
11/2237 S 170). Die Krankenkassen sind damit grundsätzlich auf die in der Vorschrift ge-
nannten Leistungen beschränkt; außerhalb etwaiger Modellvorhaben nach § 63 Abs 2
SGB V können neue Leistungsarten nur vom Gesetzgeber eingeführt werden (Höfler in
Kasseler Kommentar, § 27 SGB V RdNr 58; von Maydell in Gemeinschaftskommentar
zum SGB V § 27 RdNr 77). Die bisherige Rechtsprechung, auf die das LSG seine Ent-
scheidung gestützt hat, kann deshalb für das geltende Recht nicht aufrechterhalten wer-
den.

Mit der Aussage, daß Lebensmittel, auch wenn es sich um Diät- oder Krankenkost han-
delt, keine Leistungen der Krankenversicherung sind, weicht der Senat von der Rechts-
auffassung ab, die dem Urteil des für die knappschaftliche Krankenversicherung zustän-
digen 8. Senats des BSG vom 27. September 1994 - 8 RKn 9/92 (USK 94110) zugrunde
liegt. Der 8. Senat hat dort auch für das neue Recht daran festgehalten, daß ein Lebens-
mittel (im konkreten Fall ein handelsübliches Heilwasser) ausnahmsweise zum Arznei-
mittel werden könne, wenn zu der Heilwirkung besonders gravierende Umstände, etwa
eine unzumutbare finanzielle Belastung des Versicherten, hinzukämen. Einer Anfrage
gemäß § 41 Abs 3 SGG wegen der insoweit bestehenden Divergenz bedarf es gleichwohl

- 7 -

nicht, weil vorliegend ein Anspruch des Klägers auch bei Zugrundelegung der Rechtsauf-
fassung des 8. Senats zu verneinen wäre. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil
vom 10. Mai 1995 (SozR 3-2500 § 33 Nr 15) entschieden, daß krankheitsbedingte Mehr-
kosten beim Kauf von Gegenständen des allgemeinen Lebensbedarfs nur dann als
"besonders gravierender Umstand" gewertet werden können, wenn bei den betreffenden
Gütern der Teil der Herstellungskosten überwiegt, der allein auf die therapeutische Wir-
kung des Mittels zurückzuführen ist. Nur dann trete die Bedeutung als Gebrauchsgegen-
stand für den Versicherten in den Hintergrund, so daß eine Beteiligung der Krankenkasse
an den Aufwendungen zu rechtfertigen sei. Ausgehend hiervon würde eine Leistungs-
pflicht der Beklagten auch auf dem Boden der früheren Rechtsprechung ausscheiden,
weil die vom Kläger benötigten Back- und Teigwaren, wie sich aus den von ihm vorge-
legten und bei den Akten befindlichen Preislisten ersehen läßt, durchweg weniger als
doppelt so teuer sind wie gleichartige haushaltsübliche Produkte.

Nach alledem konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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BSG, 1 RA 63/70 vom 11.11.1971, Bundessozialgericht
Bundessozialgericht

Az. 1 RA 63/70

Verkündet
am 11 November
1971,
Amtsinspektor
als Urk. Beamter
d. Gesch.Stelle

Im Namen des Volkes

Urteil
in dem Rechtsstreit
Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte;

gegen

Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Berlin 54,

Ruhrstraße 2,

Beklagte und Revisionsbeklagteo

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die
mündliche Verhandlung vom 11 November 1971 durch

Präsident Prof. Dr. W.
- Vorsitzender -,
Bundesrichter Dr. S. ,
Bundesrichter S. ,
Bundessozialrichter M. und
Bundessozialrichter B.

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des
Landessozialgerichts Niedersachsen vom 42 Dezember
1969 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung
an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

- 2 -

Gründe

I

Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der
Angestelltenversicherung. Die Beklagte lehnte seine "form-
losen Anträge" vom 15. November und 17. November 1965 durch
Bescheid vom 18. April 4967 ab, weil der Kläger es trotz
mehrfacher Aufforderung unterlassen habe, die für die
Rentengewährung erforderlichen Antragsvordrucke auszu-
füllen und einzureicheno Das Sozialgericht (SG) Braun-
schweig hat durch Urteil vom 15. Januar 1968 die gegen den
Bescheid gerichtete Klage abgewiesen.

Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger unter Ver-
wendung eines Antragsvordrucks der Bundesversicherungsan-
stalt für Angestellte (BfA) am 48. Oktober 1968 Rente be-
antragte Die Beklagte hat auch diesen Antrag durch Bescheid
vom 1. Oktober 1969 angelehnt, weil die für die Rentenge-
währung erforderlichen Voraussetzungen nicht hätten geklärt
werden können.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Ur-
teil vom 12. Dezember 1969 die Berufung des Klägers zurück-
gewiesen und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten
vom 1. Oktober 1969 abgewiesen. Es hat die Revision nicht
zugelassen.

Der Kläger hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegte
Er rügt vor allem Verletzung des § 103 des Sozialgerichts-
gesetzes (SGG) im Verfahren des LSG. Er beantragt, ihm
die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Ver-
säumung der Revisionsfrist und Revisionsbegründungsfrist
zu gewähren, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des
SG Braunschweig vom 15. Januar 1968 und die Bescheide der

- 3 -

Beklagten vom 18. April 1967 und vom 10. Oktober
1969 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen, hilfsweise, das ange-
fochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu ver-
werfen, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen.

II

Die Revision des Klägers ist zulässig und insofern begründet,
als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das
LSG zurückzuverweisen is.

Dem Kläger ist auf seinen Antrag gemäß § 67 iVm §§ 165, 153
SGG gegen die Versäumung der Revisionseinlegungs- und Revisione-
begründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu ge-
währen, nachdem er innerhalb eines Monats nach Zustellung des
Beschlusses über die Bewilligung des Armenrechts die Revision
eingelegt und begründet hat.

Obgleich das LSG die Revision nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1
SGG zugelassen hat, ist Sie nach § 162 Abs. 4 Nr. 2 SGG statt-
haft, weil die Revision ordnungsgemäß als wesentlichen Mangel
im Verfahren des Berufungsgerichts Verletzung des § 103 SGG
rügt, der auch vorliegt (BSG 1, 150).

In den Gründen seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht
ausgeführt, nach § 204 des Angestelltenversicherungsgesetzes
(AVG) iVm § 1613 Abs. 5 Satz 1 der Reichsversicherungs-
ordnung (RVO) habe die Beklagte den Sachverhalt aufzuklären.
Das bedinge aber eine Mitwirkung des Antragstellers, wie sich
aus § 1613 Abs. 1 Satz 2 RVO ergebe, Da der Kläger sich

- 4 -

beharrlich weigere, an dieser notwendigen Aufklärung des Sache
verhalts mitzuwirken, indem er zunächst kein Antragsformular
eingesandt und später eine Untersuchung verweigert habe, habe
die Beklagte mit Recht den Rentenantrag abgelehnt, weil sie
nicht in der Lage gewesen sei, den Sachverhalt aufzuklären.
Zur Beurteilung der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit des Klägers
sei die Einholung eines ärztlichen Gutachtens über seinen
Gesundheitszustand unerläßlich gewesene Die im Versorgungs-
verfahren vorgenommenen Untersuchungen seien für die Frage der
Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit im Rentenverfahren nicht
zugrunde zu legen, da hier andere Gesichtspunkte Geltung
hätten. Alle von dem Kläger im Laufe des Verfahrens gemachten
Ausführungen lägen neben der Sache und hätten mit der recht-
lichen Beurteilung des hier zu entscheidenden Falles, nämlich
ob die Beklagte mit Recht den Antrag auf Rente abgelehnt habe
oder nicht, nichts zu tun.

Das LSG hat damit seiner Pflicht nicht genügt, gemäß § 105 SGG
den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen.

Dem LSG lagen die Versicherunkarten des Klägers vor, Sie
reichten - wie der Tatbestand des angefochtenen Urteils auch
zeigt - aus, das Versicherungsleben des Klägers und die Tätig-
keiten festzustellen und zu beurteilen, in denen er versiche-
rungspflichtig beschäftigt gewesen ist,

ln der Regel ist der Versicherte verpflichtet, bei der Beweis-
erhebung über seine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit sich von
dem ihm bezeichneten Arzt untersuchen zu lassen, soweit die
vorgesehenen Untersuchungen zumutbar sind, Er braucht sich
schon einer solchen Untersuchung nicht zu unterziehen, wenn
er sich für seine Weigerung auf einen triftigen Grund berufen
kann (vgl. hierzu BSG 20, 166, 168). Hierzu sind in dem an-
gefochtenen Urteil keine Feststellungen getroffen.


- 5 -

Verweigert der Versicherte die ärztliche Untersuchung ohne be-
rechtigten Grund, so darf ohne die für erforderlich gehaltene
Untersuchung nach Lage der im übrigen ausreichend geklärten
Akten nur entschieden werden, wenn er nachweislich die Auf-
forderung zur Untersuchung erhalten hat und ihm die Folgen
einer unbegründeten Weigerung angedroht sind. Es ist jedoch
nicht zulässig, allein wegen der Weigerung des Versicherten,
sich untersuchen zu lassen, in jedem Falle von vornherein auf
jede Beweiserhebung zu verzichten und auch den Versuch zu unter-
lassen, ein Gutachten nach Lage der bereits vorhandenen ärzt-
lichen Untersuchungsbefunde und Gutachten zu erstellen, deren
Beiziehung möglich gewesen wäre, oder ohne die behandelnden
Ärzte des Versicherten bzw. die von ihm selbst angegebenen
Ärzte anzuhören (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversiche-
rung, Bde III so 672 sowie Bd; II so 244 k VII). Das Bundes-
sozialgericht (BSG) hat bereits ausgesprochen, daß das Gericht
seine Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, wenn es, ohne
festzustellen, ob es für die Erstattung eines weiteren Gut-
achtens einer erneuten Untersuchung des Beschädigten bedarf,
allein wegen der Weigerung des Beschädigten, sich erneut unter-
suchen zu lassen, von der Einholung eines Gutachtens über medi-
zinische Fragen absieht (BSG in SozR Nr. 43 zu § 103 SGG).'

In dem vorliegenden Fall hat der Kläger seinem Schreiben vom
29. Dezember 1966 an die BfA eine auszugsweise Abschrift des
Bescheides des Versorgungsamts (VersorgA) Braunschweig vom
13. Dezember 1966 über die von diesem anerkannten Schädi-
gungsfolgen beigefügte Das LSG hätte ohne Beiziehung der
Akten des VersorgA die Sachaufklärung nicht als erschöpft an-
sehen dürfen. Das LSG hätte prüfen müssen, ob sich die Er-
werbsunfähigkeit des Klägers aus den ärztlichen Befunden und
Beurteilungen ergeben konnte, die sich in den Strafakten und
in den Akten des VersorgA befinden, worauf der Kläger sich
berufen hat (Bl 2 und 8 LSG-Akten).

- 6 -

Schließlich hat sich der Kläger zum Beweis für seine Erwerbs-
unfähigkeit — so müssen seine Ausführungen in seiner Klage-
schrift (Bl 5 und 8 LSG-Akten) aufgefaßt werden — auf die
Stellungsnahmen der Ärzte Dr. K und Dr. G II,
beide in Goslar, bezogene Er hat sich bereit erklärt,
Dr. G II von der ärztlichen Schweigepflicht zu ent-
binden. Er hat des weiteren ärztliche Bescheinigungen des
Dr. Guischard (Lungenfacharzt) vom 24. Januar 1967 und des
Dr. K (praktischer Arzt) vom 21. Januar 1967 in Abschrift
vorgelegt (Bl 22 LSG-Akten). In seinem Schriftsatz vom
4. Januar 1968 hat er nochmals erklärt, daß das LSG von

Dr. G II ein Gutachten erhalten könne, wenn ein ent-
sprechender Auftrag erteilt werde (Bl 54 LSG-Akten).

Es ist nicht auszuschließen, daß anhand der in den Akten des
VersorgA und in den Strafakten vorhandenen ärztlichen Befunde
und Gutachten Rückschlüsse zur Feststellung der Erwerbsun-
fähigkeit des Klägers gezogen werden können. Es ist des
weiteren möglich, daß die vom Kläger angegebenen Ärzte für die
Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit ausreichende Beweise hätten
vorbringen können. Das LSG hätte im Rahmen seiner Pflicht,
den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, diese möglichen
Beweise erheben müssen. Der gerügte Mangel einer Verletzung
des § 103 SGG liegt mithin im Verfahren des LSG vor.

Da die Revision schon aus diesem Grunde gemäß § 162 Abs. 1
Nr. 2 SGG statthaft ist, bedarf es keiner weiteren Prüfung,
ob auch die weiteren, von der Revision vorgebrachten Ver-
fahrensrügen durchgreifen.

Die hiernach zulässige Revision ist auch begründet, da nicht
auszuschließen ist, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis ge-
langt wäre, wenn es gesetzmäßig verfahren wären Das ange-
fochtene Urteil ist deshalb aufzuheben. Dem Berufungsgericht
muß zunächst Gelegenheit gegeben werden, die erforderlichen Er-

- 7 -

mittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts durchzuführen.
Hierfür muß die Sache gemäß § 170 Abs. 2 SGG an das LSG zu-
rückverwiesen werden.

Bei seiner das Verfahren abschließenden Entscheidung wird des
LSG auch über die Erstattung von außergerichtlichen Kosten
des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

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BVerfG, 1 BvR 535/07 vom 30.03.2007, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BVR 535/07 -

In dem Verfahren
über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn B...

— Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Matthias Altfeld,
Konstanzer Straße 62, 10707 Berlin —

gegen a) den Beschluss des Landessozialgerichts
Berlin—Brandenburg
vom 22. Januar 2007 — L 18 B 1194/06 AS ER —,

b) den Beschluss des Sozialgerichts Berlin
vom 25. Oktober 2006 — S 101 AS 8862/06 ER —

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs-
gerichts durch den Präsidenten P.
und die Richter S.‚
G.

gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung
der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl 1 S. 1473)
am 30. März 2007 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht
zur Entscheidung angenommen.

- 2 -

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung an-
genommen, weil die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 2 des Bun-
desverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) nicht vorliegen. Die
Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

Der Beschwerdeführer hat die Verfassungsbeschwerde nicht
den gesetzlichen Anforderungen entsprechend (§ 23 Abs. 1
Satz 2, § 92 BVerfGG) begründet. Eine Verletzung von Art. 19
Abs. 4 GG ist nicht hinreichend dargetan. Insbesondere ist
nicht ersichtlich, dass mit dem Abwarten der Hauptsacheent-
ischeidung nicht mehr rückgängig zu machende Nachteile verbun-
den sind. § 22 Abs. 5 Satz 1 und 2 und Abs. 6 Zweites Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) enthält eine Regelung zur Sicherung
der Unterkunft gerade im Fall einer Räumungsklage. Der vor-
rangige Einsatz von geschütztem Vermögen oder nicht anrechen-
barem Einkommen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit kann
nach einer zusprechenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren
ausgeglichen werden.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1
Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

P. S. G.

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BVerfG, 1 BVR 3250/13 und 1 BVR 3251/13 vom 05.12.2013, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

-1 BVR 3250/13 -

-1 BVR 3251/13 -

In den Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerden

des Herrn W...,

1. gegen a) den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg
vom 25. Oktober 2013 - S 19 AS 3294/13 RG —,

b) den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg
vom 16. September 2013 - S 19 AS 2594/13 ER -

u n d Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

u n d Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

- 1 BVR 3250/13 -,

2. gegen a) den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg
vom 25. Oktober 2013 - S 19 AS 3265/13 RG -‚

b) den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg
vom 20. September 2013 - S 19 AS 2665/13 ER —

u n d Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

u n d Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten K.,
den Richter M.
und die Richterin Baer

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekannt-
machung vom 11. August 1993 (BGBI I S. 1473)
am 5. Dezember 2013 einstimmig beschlossen:

Die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wer-
den abgelehnt, weil die Verfassungsbeschwerden keine
hinreichende Aussicht auf Erfolg bieten.

Die rechtzeitig eingelegten Verfassungsbeschwerden
werden nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie
mangels hinreichender Begründung gemäß § 23 Abs. 1
Satz 2, § 92 BVerfGG unzulässig sind; von einer weiteren
Begründung wird insoweit nach § 93d Abs. 1. Satz 3
BVerfGG abgesehen.

Die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
sind gegenstandslos.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

K. M. B.

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BVerfG, 1 BvR 2471/12 vom 27.12.2012
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

-1 BvR 2471/12 -

In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde

der Frau H ...,
gegen das Urteil des Bundessozialgerichts
vom 12. Juli 2012 - B 14 AS 189/11 R -
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines
Rechtsanwalts

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten K.,
den Richter S.
und die Richterin B.
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekannt-
machung vom 11. August 1993 (BGB! I S. 1473)
am 27. Dezember 2012 einstimmig beschlossen:

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und
Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abgelehnt, da die
beabsichtigte Rechtsverfolgung ohne Aussicht auf Erfolg
ist.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung
angenommen, da sie mangels Rechtswegerschöpfung
(§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) unzulässig ist.

- 2-

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BverfGG
abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

K. S. B.

Faksimile 1 2


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BVerfG, 1 BvR 2203/12, 1 BvR 2233/12 und 1 BvR 2234/12 vom 12.07.2012, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2203/12 -

- 1 BvR 2233/12 -

- 1 BvR 2234/12 -

In den Verfahren
über die Verfassungsbeschwerden
der Frau H...,

I.

1. unmittelbar gegen das Urteil des Bundessozialgerichts

vom 12. Juli 2012 - B 14 AS 153/11 R -,

2. mittelbar gegen
a) § 20 SGB II n. F.,
b) die neue Regelbedarfsverordnung
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

und Beiordnung eines Rechtsanwalts

- 1 BvR 2203/12 -,

II.
1. unmittelbar gegen
den Beschluss des Bundessozialgerichts

vom 13. September 2012 - B 14 AS 78/12 B -,

2. mittelbar gegen
a) § 20 SGB II,
b) die neue Regelbedarfsverordnung
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

und Beiordnung eines Rechtsanwalts

- 1 BvR 2233/12 -,

- 2 -

III.
gegen
den Beschluss des Bundessozialgerichts

vom 13. September 2012 - B 14 AS 79/12 B -,
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

und Beiordnung eines Rechtsanwalts

- 1 BvR 2234/12 –

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

den Vizepräsidenten K.,
den Richter S.
und die Richterin B.

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekannt-
machung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 20. November 2012
einstimmig beschlossen:

Die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und
Beiordnung eines Rechtsanwalts werden abgelehnt, da
die beabsichtigten Rechtsverfolgungen ohne Aussicht auf
Erfolg sind.

Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entschei-
dung angenommen.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG
abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

K. S. B.

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BVerfG, 1 BVR 1686/93 vom 20.10.1993, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

— 1 BVR 1686/93 —

In dem Verfahren
über

den Antrag

des Herrn

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Ulrich Zimmer,
Südwall 3, Celle -

auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe zur Erhebung einer
Verfassungsbeschwerde

gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs
vom 16. Juli 1993 - III ZR 60/92 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs—
gerichts durch die Richter Henschel,
Seidl‚
Grimm

am 20. Oktober 1993 einstimmig beschlossen:

Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe
wird abgelehnt.

G r ü n d e :

Dem Antragsteller kann keine Prozeßkostenhilfe gewährt wer-
den, weil die beabsichtigte Verfassungsbeschwerde keine hin-
reichende Aussicht auf Erfolg bietet. Eine Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand wegen Versäumung der Monatsfrist gemäß § 93
Abs. 2 Satz 1 BVerfGG kommt nicht in Betracht. Im Falle der
Mittellosigkeit kann Wiedereinsetzung nach Gewährung von Pro-
zeßkostenhilfe nur dann gewährt werden, wenn die mittellose
Partei alles Zumutbare getan hat, um das bestehende Hindernis
alsbald zu beheben. Die Fristversäumung ist daher grundsätz-
lich nur dann unverschuldet‚ wenn der Antragsteller innerhalb
der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG alle für die Ent-
scheidung über das Prozeßkostenhilfegesuch wesentlichen Anga-
ben und Unterlagen verlegt. Dazu gehört auch, daß er ent—
sprechend § 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO wenigstens im Kern deutlich
macht‚ welche verfassungsrechtliche Beanstandung er gegen das
angegriffene Urteil erheben will. Dieser Darlegungspflicht ist
der Antragsteller nicht in zumutbarer Weise nachgekommen. Er
hat sich vielmehr auf die formelhafte Angabe beschränkt, daß
die Verletzung von Grundrechten und sonstigen verfassungs-
rechtlichen Rechten gerügt werden solle‚ und ausdrücklich
erklärt, daß eine weitergehende Begründung des Prozeßkosten-
hilfeantrags nicht beabsichtigt sei.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Henschel Seidl Grimm

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BVerfG, 1 BvR 1601/08 vom 04.02.2009, Bundesverfassungsgericht

Instanz 1: S 14 KR 69/08 ER

Instanz 2: L 5 B 314/08 KR ER

Bundesverfassungsgericht

1 BvR 1601/08

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des

gegen den Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts

vom 3. Juni 2008 – L 5 B 314/08 KR ER -

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

die Richterin H.-D.
und die Richter G.
K.

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11.August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 4. Februar 2009 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

- 2 -

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahme-
gründe im Sinne von § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbe-
schwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, denn sie ist unzulässig.

Die Verfasssungsbeschwerde genügt den Begründungsanforderungen des § 23
Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht.

Der Beschwerdeführer rügt, ihm würden durch die Entscheidung des Landesso-
zialgerichts lebensnotwendige Leistungen vorenthalten bzw. die Nichterstattung
von Fahrkosten führe zu einem Unterschreiten des Existenzminimums. Seinen Ausfüh-
rungen ist jedoch schon nicht zu entnehmen, wie oft er neben der Dialyse-Behandlung zusätzliche
ambulante Behandlungen benötigt, wo diese im Einzelnen stattfinden und
welche Kosten hierdurch entstehen. Ebenso wenig legt der Beschwerdeführer dar,
dass die Nichterstattung dieser Kosten dazu führt, dass das Existenzminimum nicht
mehr gewährleistet ist. Angaben zu seiner konkreten Einkommens- und Vermögens-
situation als auch zu den persönlichen Lebensumständen fehlen ebenso wie Darle-
gungen zu den tatsächlichen finanziellen Belastungen, die durch Fahrten zu am-
bulanten ärztlichen Behandlungen entstehen. Der Beschwerdeführer legt auch nicht
dar, dass er sich wegen der Übernahme von Fahrtkosten an das Sozialamt gewandt
hätte. Zwar wird nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB XII der Bedarf des notwendigen Le-
bensunterhalts mit Ausnahme der Leistungen für Unterkunft und Heizung und der
Sonderbedarfe nach Regelsätzen erbracht, jedoch werden die Bedarfe abweichend
festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf unabweisbar seiner Höhe nach erheblich
vom einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII), diese
Öffnungsklausel erlaubt auch die Übernahme erhöhter Fahrkosten, die über das hin-
ausgehen, was an Fahrtkosten durch die Regelsätze abgegolten sind (vgl.
Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 28 Rn. 13)

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BverfGG
abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Faksimile 1 2

später Instanz 2: L 5 B 748/08 KR ER C

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BVerfg, 1 BvR 1411/91 vom 09.08.1991, Bundesverfassungsgericht
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 1411/91 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn

- Bevollmächtigter Rechtsanwalt M.,

gegen den Beschluß des Bundessozialgerichts
vom 9 August 1991 - 2 BU 15/9 -
und Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs-
gerichts durch den Präsidenten H.
und die Richter G.,
S.

am 18 Dezember 1991 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht
zur Entscheidung angenommen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozeß-
kostenhilfe wird abgelehnt.

- 2 -

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sich der
Beschwerdeführer gegen die Ablehnung der Bewilligung von
Prozeßkostenhilfe wendet und soweit er hinsichtlich der Ver-
werfung der Nichtzulassungsbeschwerde die Verletzung des
Art. 11 GG rügt. Im übrigen bietet die Verfassungsbeschwerde
keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 93b Abs. 1 Satz 1
r. 2 BVerfGG ).

1. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verlangt
nach § 92 BVerfGG, daß der Beschwerdeführer innerhalb der
Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG die Möglichkeit einer Grund-
rechtsverletzung hinreichend deutlich darlegt (vgl. BVerfGE
81, 347 [355]). Dies ist hier hinsichtlich der Ablehnung der
Bewilligung von Prozeßkostenhilfe nicht der Fall. Es ist
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Gewährung
von Prozeßkostenhilfe davon abhängig gemacht wird, daß die
beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf
Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfGE 81,
347 [357]). Es ist aufgrund des Vorbringens des Beschwerde-
führers nicht erkennbar, daß das Bundessozialgericht bei der
ihm obliegenden Auslegung und Anwendung des § 114 Satz 1 ZPO
die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten
Rechtsverfolgung und damit den Zweck der Prozeßkostenhilfe,
dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht
zu ermöglichen, deutlich verfehlt haben könnte (vgl. BVerfGE
81, 347 [359]). Es ist dem Beschwerdeführer durch die Ableh-
nung der Bewilligung von Prozeßkostenhilfe auch nicht der
Zugang zu den Gerichten verwehrt worden, denn er hatte mit
dem Prozeßkostenhilfeantrag seine Nichtzulassungsbeschwerde
bereits eingelegt und begründet. Auch soweit der Beschwerde-
führer einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG hinsichtlich
der Ablehnung der Bewilligung von Prozeßkostenhilfe rügt,
fehlt es an einer ausreichenden Begründung der Verfassungsbe-
schwerde.

- 3 -

2. a) Soweit der Beschwerdeführer hinsichtlich der Verwer-
fung der Nichtzulassungsbeschwerde wegen der Nichtgewährung
der nach seiner Ansicht vorrangigen Sozialversicherungslei-
stungen vor den nur subsidiären Sozialhilfeleistungen eine
Verletzung des Art. 11 GG rügt, fehlt es ebenfalls an einer
hinreichenden Darlegung der Möglichkeit einer solchen Grund-
rechtsverletzung. Das Bundessozialgericht hat über den An-
spruch auf Pflegegeld aus der gesetzlichen Unfallversicherung
in der Sache nicht entschieden. Es hat vielmehr festgestellt,
daß der Beschwerdeführer die formalen Voraussetzungen der
§§ 160, 160 a SGG für eine zulässige Nichtzulassungsbeschwer-
de nicht erfüllt hat.

b) Soweit der Beschwerdeführer in der Verwerfung seiner
Nichtzulassungsbeschwerde eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1
GG sowie des "Grundsatzes des sozialen Rechtsstaates (Art. 20
GG )" erblickt, bietet die Verfassungsbeschwerde keine hinrei-
chende Aussicht auf Erfolg.

aa) Gegen den Vertretungszwang nach § 166 SGG bestehen
keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Bundesverfassungs-
gericht hat wiederholt ausgesprochen, daß die Anrufung der
Gerichte von der Erfüllung bestimmter formaler Voraussetzun-
gen abhängig gemacht werden darf, zu denen auch die ordnungs-
gemäße Vertretung durch einen zugelassenen Prozeßbevollmäch-
tigten gehören kann (vgl. BVerfGE 9, 194 [199 f.]; 10, 264
[267 f.]). Auch folgt aus dem Sozialstaatsprinzip bei dem
durch einen Rechtsanwalt vertretenen Beschwerdeführer hin-
sichtlich der Anwendung des § 166 SGG keine gesteigerte Für-
sorgepflicht. Es war von Verfassungs wegen nicht geboten, den
Beschwerdeführer auf die fehlende Erfüllung der formalen
Voraussetzungen für eine zulässige Nichtzulassungsbeschwerde
hinzuweisen, zumal aus Art. 103 Abs. 1 GG keine allgemeine
Frage- und Aufklärungspflicht in bezug auf die Rechtsansicht
des Gerichts folgt (vgl. BVerfGE 74, 1 [5]).

- 4 -

bb) Im übrigen kann das Bundesverfassungsgericht, da das
Bundessozialgericht lediglich anhand der §§ 160, 160 a SGG
über die Nichtzulassung der Revision wegen formaler Begrün-
dungsmängel entschieden hat, den Beschluß des Bundessozialge-
richts nur daraufhin überprüfen, ob das Revisionsgericht bei
der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Zulas-
sung der Revision, die den Fachgerichten obliegt, Verfas-
sungsrecht verletzt hat. Verfassungsrecht ist aber nicht
schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen
Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muß gera-
de in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen. Verfas-
sungsrecht ist nur dann verletzt, wenn Auslegungsfehler
sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere
vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer
materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von eini-
gem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 [92 f.]). Derartige
Fehler im Hinblick auf die vom Beschwerdeführer als verletzt
gerügten Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte enthält
der angegriffene Beschluß nicht.

Mit Art. 19 Abs. 4 GG ist es vereinbar, wenn das Bundesso-
zialgericht seine wesentliche Aufgabe in der Wahrung und
Fortentwicklung des Rechts sieht und daher die Zulassung der
Revision aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde von be-
stimmten formalen Voraussetzungen abhängig macht, wie von
Begründungs-, Darlegungs- und Bezeichnungserfordernissen
innerhalb der Begründungsfrist von zwei Monaten nach Zustel-
lung des Urteils gemäß § 160 a Abs 2 Satz 1 und 3 SGG . Da-
nach ist es nicht zu beanstanden, wenn das Bundessozialge-
richt feststellt, eine Abweichung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 2
SGG habe der Beschwerdeführer nicht schlüssig bezeich-
net, weil er die Entscheidung des Bundessozialgerichts, von
der das Urteil des Berufungsgerichts abgewichen sein solle,
nicht mit Datum und Aktenzeichen genau bezeichnet habe und
auch die Angabe fehle, mit welchem tragenden Rechtssatz der
angefochtenen Entscheidung das Landessozialgericht von wel-

- 5 -

cher genau bezeichneten tragenden rechtlichen Aussage einer
Entscheidung des Bundessozialgerichts abgewichen sein solle.

Es ist nachvollziehbar, daß es das Bundessozialgericht
nicht genügen läßt, wenn der Gegner des Beschwerdeführers im
Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren oder der Beschwerdeführer
selbst erst nach Ablauf der Begründungsfrist dasjenige Ur-
teil, von dem das Berufungsgericht abgewichen sein soll, mit
Datum und Aktenzeichen bezeichnet hat. Weiter ist es nach-
vollziehbar, wenn das Bundessozialgericht den Darlegungen des
Beschwerdeführers in seiner Nichtzulassungsbeschwerdeschrift
nicht die Angabe zu entnehmen vermochte, mit welchem tragen-
den Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung des Berufungs-
gerichts von welcher genau bezeichneten tragenden rechtlichen
Aussage einer Entscheidung des Bundessozialgerichts abgewi-
chen sein soll.

Von Verfassungs wegen ist es ferner nicht zu beanstanden,
wenn das Bundessozialgericht im Hinblick auf die Begründung
der Grundsätzlichkeit der Rechtssache im Sinne des § 160
Abs. 2 Nr. 1 SGG die Erläuterung verlangt, daß und warum in
dem angestrebten Revisionsverfahren eine Rechtssache erheb-
lich sein würde, die über den Einzelfall hinaus allgemein
Bedeutung habe, und wenn es vorliegend in der Begründung der
Nichtzulassungsbeschwerde sowohl die konkrete Formulierung
einer Rechtsfrage als auch die schlüssige Darlegung, warum
das angedeutete Rechtsproblem klärungsbedürftig sei, vermißt.

Schließlich ist es nachvollziehbar, daß das Bundessozialge-
richt davon ausgeht, der Beschwerdeführer habe in seiner Be-
gründung keinen Verfahrensmangel geltend gemacht, auf dem die
angefochtene Entscheidung beruhen könne. Wenn das Bundessozi-
algericht den "Grundsatz der Subsidiarität sozialhilferecht-
licher Leistungen" in durchaus naheliegender Weise als ein
materiell-rechtliches, nicht aber als ein verfahrensrechtli-
ches Problem wertet, so liegt darin auch keine Verletzung des
Art. 103 Abs. 1 GG , denn diese Norm verpflichtet das Gericht
nicht, der Rechtsansicht einer Partei zu folgen (vgl. BVerfGE
64, 1 [12]).

- 6 -

Da das Bundessozialgericht danach in verfassungsrechtlich
nicht zu beanstandender Weise zur Annahme der Unzulässigkeit
der Nichtzulassungsbeschwerde gelangt ist, hat es auch nicht
dadurch gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, daß es aus Grün-
den des formellen Rechts auf weiteres Vorbringen des Be-
schwerdeführers, insbesondere dazu, daß das Berufungsgericht
grundlegend fehlerhaft entschieden habe, nicht eingegangen
ist.

3. Da die Verfassungsbeschwerde teilweise unzulässig ist
und im übrigen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat,
ist der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe abzuleh-
nen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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BVerfG, 1 BvR 1301/86 vom 15.06.1988, Bundesverfassungsgericht
- 1 BvR 1301/86 -

Beschluß des Ersten Senats vom 15. Juni 1988
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau Z. - Bevoll-
mächtigter: Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Philipp, Viktoriastraße 12, Mann-
heim - gegen das Urteil des Bundessozialgerichts vorn 24. September 1986

- 8 RK 8/85 -

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

GRÜNDE:

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Entscheidung
des Bundessozialgerichts, mit der die Revision der Beschwerdefüh-
rerin gegen das Urteil eines Sozialgerichts zurückgewiesen wurde.

Dieses hat die Klage der Beschwerdeführerin gegen ihre gesetzliche
Krankenversicherung auf Unterlassung der Finanzierung von
„rechtswidrigen“ Abtreibungen als unzulässige Popularklage abge-
wiesen.

I.

Das nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Fe-
bruar 1975 (BVerfGE 39, 1 - Fristenregelung) verkündete Fünf-
zehnte Strafrechtsänderungsgesetz vom 18. Mai 1976 (BGBl. I
S. 1213) hat §218a StGB neu gefaßt. Danach ist ein mit Einwilli-
gung der Schwangeren durch einen Arzt vorgenornmener Abbruch
der Schwangerschaft nicht nach §218 StGB strafbar, wenn nach
ärztlichen Erkenntnissen eine medizinische, eine eugenische, eine
ethische oder eine soziale Indikation vorliegt.

Durch § 1 Nr. 2 des Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum
fünften Strafrechtsrefonngesetz (Strafrechtsreform-Ergänzungsge-
setz - StREG) vom 28. August 1975 (BGB1. I S. 2289) wurde in den
zweiten Abschnitt des Zweiten Buches der Reichsversicherungs-
ordnung ein neuer Unterabschnitt ,,IIIa. Sonstige Hilfen" einge-
fügt. Danach haben Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse
oder einer ihnen nach § 507 Abs. 4 RVO gleichgestellten Ersatzkas-
se bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der Schwangerschaft
Anspruch auf Krankenkassenleistungen. Für die Leistungsgewäh-
rung gelten grundsätzlich die für die Krankenhilfe maßgeblichen
Vorschriften. Im einzelnen lauten die Bestimmungen:

§ 200f RVO

Versicherte haben Anspruch auf Leistungen bei einer nicht rechtswid-
rigen Sterilisation und bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der
Schwangerschaft durch einen Arzt. Es werden ärztliche Beratung über
die Erhaltung und den Abbruch der Schwangerschaft, ärztliche Untersu-
chung und Begutachtung zur Feststellung der Voraussetzungen für eine
nicht rechtswidrige Sterilisation oder für einen nicht rechtswidrigen
Schwangerschaftsabbruch, ärztliche Behandlung, Versorgung mit Arz-
nei-, Verband- und Heilmitteln sowie Krankenhauspflege gewährt. An-
spruch auf Krankengeld besteht, wenn Versicherte wegen einer nicht
rechtswidrigen Sterilisation oder wegen eines nicht rechtswidrigen Ab-
bruchs der Schwangerschaft durch einen Arzt arbeitsunfähig werden, es
sei denn, es besteht Anspruch nach § 182 Abs. 1 Nr. 2.
§ 200 g RVO

Die für die Krankenhilfe geltenden Vorschriften gelten für die Lei-
stungsgewährung nach den §§200e und 200f entsprechend, soweit
nichts Abweichendes bestimmt ist. …

Der in §200f Satz 1 RVO verwendete Begriff des „nicht rechts-
widrigen“ Abbruchs der Schwangerschaft wird von der im sozial-
rechtlichen Schrifttum herrschenden Auffassung mit der in §218a
Abs. 1 Satz 1 StGB gebrauchten Formulierung „nicht strafbar“
gleichgesetzt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung,
Bd. I/2, S. 284 k, 285, 286; Peters, Handbuch der Krankenversiche-
rung, Teil II, Band 2, Anm. 4 zu §200f RVO; Schroeder-Printzen
in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Kommentar, 2. Aufl.,
Anm. 3 zu §200f RVO; Aye/Göbelsmann/Müller/Schieckel/
Schroeter, RVO-Gesamtkommentar, Anm. 5 zu §200 f, S. 248).

Dem folgend gewähren die gesetzlichen Krankenkassen ihren Mit-
gliedern bei nach § 218 a StGB nicht strafbaren Schwangerschafts-
abbrüchen die nach den Vorschriften über die Krankenhilfe vorge-
sehenen Leistungen.

II.

1. Nach §54 Abs. 5 SGG kann mit der Klage vor den Sozialge-
richten die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsan-
spruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungs-
akt nicht zu ergehen hatte.

Die Beschwerdeführerin erhob unter Berufung auf diese Vor-
chrift Klage beim Sozialgericht und beantragte:

1. die Beklagte zu verurteilen, solange sie Mitglied der Beklag-
ten ist, Leistungen nach §§ 200 f und 200 g RVO, § 17a Abs. 2
bis 4 der Versicherungsbedingungen der Beklagten an Versi-
cherte oder mitgeschützte Personen ausschließlich für solche
Schwangerschaftsabbrüche zu erbringen, die wegen nach-
weislichen Vorliegens der Indikation nach § 218 a Abs. 1 StGB
nicht rechtswidrig sind, und für jeden Fall der Zuwiderhand-
lung ein Ordnungsgeld anzudrohen, dessen Höhe in das Er-
messen des Gerichts gestellt wird,

2. hilfsweise, die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen,
solange die Klägerin Mitglied der Beklagten ist, für Schwan-
gerschaftsabbrüche Leistungen nach §§ 200f und 200g RVO, 4
§ 17 a Abs. 2 bis 4 der Versicherungsbedingungen der Beklag-
ten an Versicherte oder mitgeschützte Personen zu erbringen,
ohne daß sie

a) die Nichtrechtswidrigkeit,

b) hilfsweise die Nichtstrafbarkeit des Schwangerschaftsab-
bruches in angemessener Weise selbst überprüft hat, sowie für
jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld anzudro-
hen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird.

Das Sozialgericht war anfänglich der Auffassung, die Klage sei
nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig. Das Begehren der Beschwerdefüh-
rerin sei nicht auf die abstrakte Feststellung der Ungültigkeit einer
Norm, sondern darauf gerichtet, die beklagte Krankenkasse zu
verpflichten, konkretes Verwaltungshandeln einzustellen.

Das Gericht setzte das Verfahren aus und legte dem Bundesver-
fassungsgericht die Frage vor, ob die §§ 200 f, 200g RVO insoweit
mit Art. 2 Abs. 1, ferner mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3
Abs. 1 sowie mit Art.4 Abs. 1 GG vereinbar seien, als in diesen
Vorschriften Kassenleistungen für solche Schwangerschaftsabbrü-
che vorgeschrieben seien, die aus anderen Gründen als dem Vorlie-
gen einer lndikation nach § 218 a Abs. 1 StGB rechtmäßig seien.

Das Bundesverfassungsgericht sah die Vorlage als unzulässig an.

Grundsätzlich sei eine auf § 54 Abs. 5 SGG gestützte vorbeugende
Unterlassungsklage eines Mitglieds gegen seine gesetzliche Kran-
kenkasse statthaft. Die von der Beschwerdeführerin erhobene Kla-
ge sei jedoch als Popularklage unzulässig. §54 Abs. 5 SGG eröffne
nicht die Möglichkeit einer abstrakten Normenkontrolle. Hinsicht-
lich der Begründung der Entscheidung im einzelnen wird auf den
Beschluß des Ersten Senats vom 18.April 1984 - 1BvL 43/81 -
(BVerfGE 67, 26) verwiesen.

2. Auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
verfolgte die Beschwerdeführerin ihr Klagebegehren weiter.

Das Sozialgericht wies die Klage ab. Sie sei unzulässig, weil es der
Beschwerdeführerin an der erforderlichen Klagebefugnis fehle.

Diese könne nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-
gerichts zur Klagebefugnis von Zwangsmitgliedern öffentlich-
rechtlicher Verbände begründet werden; denn diese Rechtspre-
chung lasse sich nicht auf Zwangsmitgliedschaften im Bereich des
Sozialversicherungsrechts übertragen. Bei der Erfüllung staatlicher
Aufgaben durch die Träger der Sozialversicherung gehe es nicht um
die Interessenvertretung bestimmter Bevölkerungsgruppen, son-
dern um die Wahrnehmung von Gemeinwohlinteressen. Mitglieder
des Zwangsverbandes hätten keinen Anspruch auf Leistungen an
einen Dritten. Entsprechend gebe es keinen Rechtsanspruch eines
Mitglieds darauf, daß die Leistung gegenüber einem Dritten einge-
stellt werde. Die Kontrolle über die Mittelverwendung obliege den
Selbstverwaltungsorganen und den Aufsichtsbehörden.

Das Bundessozialgericht hat die Sprungrevision der Beschwerde-
führerin zurückgewiesen. Auch für die reine Leistungsklage nach
§54 Abs.5 SGG sei ein Rechtsschutzbedürfnis erforderlich. Die
Beschwerdeführerin sei durch die beanstandeten Leistungen der
Beklagten nicht in ihren eigenen Rechten verletzt, weil diese sich
nicht unmittelbar gegen ihren Rechtskreis richteten.

Auf Art. 2 Abs. 1 GG könne die Beschwerdeführerin ihr Verlan-
gen auf Einstellung der nach ihrer Ansicht rechtswidrigen Verwal-
tungspraxis der Beklagten nicht stützen. Wollte man jedem Mit-
glied wegen seiner versicherungsrechtlichen Zwangsmitgliedschaft
das Recht zugestehen, von ihm mißbilligte Leistungen an andere
Mitglieder gerichtlich überprüfen zu lassen, so würde dies zu einer
gesetzlich nicht vorgesehenen abstrakten Rechtskontrolle führen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Urteil des
Bundessozialgerichts. Die Beschwerdeführerin rügt Verletzung
von Art. 2 Abs. 1, von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1,
von Art.4 Abs. 1 und Art. 19 Abs.4 GG durch die angegriffene
Entscheidung, wobei sie nur Ausführungen zu Art. 2 Abs. 1 und
Art. 19 Abs. 4 GG macht und im übrigen auf den gesamten bisheri-
gen Vortrag, insbesondere auf die Revisionsbegründung nebst
nachfolgenden Schriftsätzen an das Bundessozialgericht verweist.

Sie trägt vor:

Während des ganzen Verfahrens habe sie die Auffassung vertre-
ten, daß §§ 200 f, 200 g RVO mit der Verfassung vereinbar seien, die
Beklagte diese Bestimmungen jedoch durch gesetzesüberschreiten-
des und rechtswidriges Verwaltungshandeln mißachte und sie da-
durch in ihren Rechten als Zwangsmitglied verletze. Nur hilfsweise
habe sie sich auf die Verfassungswidrigkeit der §§ 200 f, 200 g RVO
berufen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
18. April 1984 (BVerfGE 67, 27) beziehe sich daher nicht auf ihren
Antrag, die Beklagte des Ausgangsverfahrens möge sich auf die
Wahrnehmung der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben be-
schränken.

Sie habe ausschließlich vorgetragen und nachgewiesen, daß die
Beklagte das Tatbestandsmerkmal „nicht rechtswidrig“ in zehntau-
senden von Fällen vernachlässigt und auch mit ihren Beiträgen
rechtswidrige Schwangerschaftsabbrüche finanziert habe. Das
Bundessozialgericht habe ihren Anspruch nicht berücksichtigt, daß
die Beklagte nur die ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben erfüllen
dürfe. Dies habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Entschei-
dung als selbstverständlich vorausgesetzt. Gegenstand der Verfas-
sungsbeschwerde sei mithin keine Normenkontrolle, sondern die
Frage, ob ihr als Mitglied einer Zwangskörperschaft gegen allgemei-
nes gesetzwidriges Verwaltungshandeln des Vorstands der Rechts-
weg offenstehe, weil sie behaupte, in ihren eigenen Rechten ver-
letzt zu sein. Diese Rechtsfrage sei im übrigen weit über den Bereich
der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus von grundsätzlicher
verfassungsrechtlicher Bedeutung.

Die Krankenkassen seien unter Erweiterung ihres Arbeitsgebiets
zu „Abtreibungskassen“ geworden. Diese Ausdehnung des Aufga-
benbereichs einer Zwangskörperschaft stehe im Verhältnis zu den
Pflichtrnitgliedern einer Neugründung gleich. Für das Bundesver-
fassungsgericht sei nie zweifelhaft gewesen, daß der Bürger unter
Berufung auf Art.2 Abs. 1 GG seine Inpflichtnahrne durch eine
neue oder erweiterte Zwangskörperschaft mit Beitragsverpflich-
tung nachprüfen lassen könne. Aus der bisherigen Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts sei nicht zu schließen, daß der
Bürger sich selbst dann nicht auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen könne,
wenn die Ausweitung der Tätigkeit des Zwangsverbandes nicht
vom Gesetzgeber angeordnet worden sei. Sie habe daher nach
Art. 2 Abs. 1 GG das Recht, eine Nachprüfung des Verwaltungs-
handelns der Beklagten zu verlangen, sonst müßten sich die Mit-
glieder einer Zwangskörperschaft über ihre Beitragsleistungen an
rechtswidrigen oder sogar kriminellen Handlungen beteiligen, oh-
ne daß ihnen ein gerichtliches Verfahren zur Nachprüfung solcher
Übergriffe eröffnet sei. Das beitragszahlende Mitglied einer
Zwangskörperschaft stehe zu dieser in einem wesentlich engeren
Verhältnis als der Steuerzahler zum Staat, da die Zusammenfas-
sung von Bürgern zu einer Zwangskörperschaft nach ständiger
Rechtsprechung jeweils gesonderter und nachprüfbarer Legitima-
tion bedürfe.

Danach sei die Frage, ob sie durch die beanstandeten Leistun-
gen der Beklagten „in ihren eigenen Rechten“ verletzt sei, bei
der Begründetheit der Klage zu überprüfen. Das Bundessozialge-
richt verkenne, wie tief die Beschwerdeführerin sich durch die
Inanspruchnahme ihrer Person für Tötungshandlungen in ihren
Rechten betroffen fühle. Wenn es aus dem Hinweis des Bundes-
verfassungsgerichts, § 54 Abs. 5 SGG eröffne nicht die Möglich-
keit einer abstrakten Normenkontrolle, folgere, das einzelne Mit-
glied habe keine Möglichkeit, die rechtswidrige Ausgabenver-
wendung im Klagewege zu verhindern, stelle es die Fälle einer
zwar gesetzmäßigen, aber verfassungswidrigen Mittelverwen-
dung einerseits und einer schlechthin gesetzwidrigen Mittelver-
wendung durch den eigenmächtig handelnden Vorstand anderer-
seits gleich. Es sei unverständlich, wenn das Bundessozialgericht
feststelle, die Beschwerdeführerin habe nicht berücksichtigt, daß
das Bundesverwaltungsgericht Mitgliedern öffentlich-rechtlicher
Zwangsverbände ein Abwehrrecht nur gegen die Wahrnehmung
,,nicht legitimer Aufgaben" eingeräumt habe; gerade dies habe
sie vorgetragen. Offenbar sei das Bundessozialgericht der Auffas-
sung, die allgemein für Zwangskörperschaften bestehenden
Grundsätze sollten für Krankenkassen nicht gelten; eine solche
Differenzierung zwischen verschiedenen Zwangskörperschaften
sei jedoch sachlich nicht vertretbar.

Es gehe ihr nicht um einzelne Fehlentscheidungen, sondern um
die prinzipielle, eigenmächtige Erweiterung des Tätigkeitsbereichs
der Zwangskörperschaft durch Nichtbeachtung oder Falschausle-
gung von Rechtsvorschriften, welche in die Rechtssphäre der Mit-
glieder eingreife. Die erforderliche Abgrenzung dieser Fallgestal-
tungen habe das Bundessozialgericht nicht vorgenommen und den
klaren Vortrag der Beschwerdeführerin überhaupt nicht gewürdigt.

Der Hinweis des Gerichts, daß die Rechtskontrolle über eine rechts-
widrige Ausgabenverwendung allein den Selbstverwaltungsorga-
nen und Aufsichtsbehörden der Versicherungsträger obliege, sei
eine bloße Leerformel. In Wirklichkeit finde im Bereich des Lebens-
schutzes überhaupt keine Überwachung der Krankenkassen mehr
statt. Dies ergebe sich aus einem Schreiben des Bundesministers für
Arbeit und Sozialordnung, wonach dieser keine Befugnis habe,
Krankenkassen in dem von der Beschwerdeführerin gewünschten
Sinne anzuweisen. Im übrigen lehne die Bundesregierung generell
jede Überprüfung der gegenwärtigen Rechtspraxis der Kran-
kenkassen ab, wie sich aus der Beantwortung einer entsprechenden
parlamentarischen Anfrage ergebe.

Durch die Revisionsentscheidung des Bundessozialgerichts wer-
de ihr schließlich der Rechtsweg in verfassungswidriger Weise ab-
geschnitten (Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG).

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit unzulässig, als die Ver-
letzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 und von
Art. 4 Abs. 1 GG gerügt wird. Nimmt die Verfassungsbeschwerde-
schrift auf Ausführungen in der Revisionsbegründung und anderen
Schriftsätzen Bezug, ist den Formerfordernissen des § 92 BverfGG
nur genügt, wenn die Schriftsätze der Verfassungsbeschwerde als
Anlagen beigefügt werden (vgl. BVerfGE 47, 182 [187]). Das ist
hier nicht geschehen.

Im übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.

I.

1. Den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommt
wie denen anderer Gerichte Rechtskraftwirkung zu. Dabei bezieht
sich die materielle Rechtskraft allein auf die Entscheidungsformel,
nicht aber auf die in den Entscheidungsgründen enthaltenen Urteils-
elemente, wenngleich die Entscheidungsgründe zur Ermittlung des
Sinnes der Entscheidungsformel herangezogen werden können. Sie
bindet in einem späteren Verfahren das Gericht nur dann, wenn es
sich um denselben Streitgegenstand zwischen denselben Parteien
handelt (vgl. BVerfGE 4, 31 [38f.]).

Danach entfaltet der Beschluß vom 18. April 1984 (BVerfGE 67,
26) keine Rechtskraftwirkung im Hinblick auf die vorliegende Ver-
fassungsbeschwerde; denn der Streitgegenstand des Vorlageverfah-
rens ist nicht identisch mit dem Streitgegenstand der vorliegenden
Verfassungsbeschwerde. Das Vorlageverfahren betraf die Verfas-
sungsmäßigkeit der §§ 200 f, 200 g RVO; Streitgegenstand des Ver-
fassungsbeschwerdeverfahrens ist hingegen die behauptete Grund-
rechtsverletzung der Beschwerdeführerin durch das angegriffene
Urteil des Bundessozialgerichts. Die Beschwerdeführerin war auch
nicht „Beteiligte“ des Vorlageverfahrens. Im Verfahren der konkre-
ten Normenkontrolle haben die Beteiligten des Ausgangsverfahrens
zwar das Recht, sich zu äußern (§ 82 Abs. 3 BVerfGG); sie werden
dadurch aber nicht im engeren Sinne Beteiligte dieses Verfahrens
(vgl. BVerfGE. 42, 90 [91]; Ulsamer in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/
Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 82 Rdnr. 17 m. w. N.),

2. Eine Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG kommt-
abgesehen davon, daß diese nicht für das Bundesverfassungsgericht
selbst besteht (vgl. BVerfGE 4, 31 [38 f.]; 20, 56 [87]) - schon deshalb
nicht in Betracht, weil der die Vorlage verwerfende Beschluß keine
Sach-, sondern lediglich eine Prozeßentscheidung darstellt (vgl.
Maunz in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, a.a.O., §31,
Rdnr. 18). Die Bindungswirkung erstreckt sich nicht auf die zu
lnzidentfragen entwickelten Rechtsansichten, die das Bundesverfas-
sungsgericht zur Abweisung eines Antrages aus prozessualen Grün-
den bestimmt haben.

II.

§ 92 BVerfGG verlangt, daß in der Begründung der Beschwerde
das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlas-
sung des Organs oder der Behörde, durch die die Beschwerdeführe-
rin sich verletzt fühlt, bezeichnet werden. Zur Zulässigkeit einer
Verfassungsbeschwerde ist es danach erforderlich, daß sich aus dem
Vortrag der Beschwerdeführerin mit hinreichender Deutlichkeit
die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergibt (Vgl. BverfGE
65, 227 [232 f.]).

Die Beschwerdeführerin hat ausgeführt, das Urteil des Bundesso-
zialgerichts, mit dem die Entscheidung des Sozialgerichts über die
Unzulässigkeit ihrer Klage bestätigt wurde, verletze sie in ihren
Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG, weil sie als
Zwangsmitglied der Beklagten einen Anspruch auf gesetzmäßige
Verwendung ihrer Beiträge habe, für den ihr der Klageweg eröffnet
werden müsse. Damit ist den Anforderungen des §92 BverfGG
genügt.

C.

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die Beschwerde-
führerin hat keinen Anspruch aus Art. 2 Abs. 1 oder Art. 19 Abs. 4
GG, daß ihr Klagebegehren durch die Gerichte der Sozialgerichts-
barkeit materiell beschieden wird.

I.

Die Frage der verfassungsrechtlichen Schranken einer Zwangs-
rnitgliedschaft in einem öffentlich-rechtlichen Verband hat das Bun-
desverfassungsgericht am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG geprüft
und entschieden, daß eine solche Zwangsmitgliedschaft nur im
Rahmen der verfassungsmäßigen Crdnung möglich ist. Danach darf
der Staat öffentlich-rechtliche Verbände nur schaffen, um legitime
öffentliche Aufgaben wahrnehmen zu lassen (vgl. BVerfGE 10, 89
[102]; 10, 354 [363]; 38, 281 [299]). Diese Rechtsprechung bezieht
sich ausschließlich auf die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen
für die Errichtung von öffentlichen Verbänden mit Zwangsmitglied-
schaft und betrifft nicht die Einwirkungsmöglichkeit des Mitglieds
eines verfassungsmäßig errichteten Zwangsverbandes auf die Si-
cherung der legitimen Aufgabenerfüllung.

Die Beschwerdeführerin macht in diesem Zusammenhang gel-
tend, daß die Krankenkassen nach Einführung der §§200f, 200g
RVO ihr Arbeitsgebiet in einer Weise erweitert hätten, die einer
Neugründung gleichkomme. Mit dieser Argumentation will sie aus
der oben angegebenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts ableiten, daß das Sozialgericht über den gesetzlichen Umfang
der sozialversicherungsrechtlichen Leistungen bei Schwanger-
schaftsabbrüchen zu entscheiden hat. Dem kann nicht gefolgt wer-
den. Durch die Übertragung zusätzlicher Aufgabenbereiche auf
einen Zwangsverband wird die Verfassungsmäßigkeit seiner Er-
richtung und seines Bestandes nicht berührt, wenn es - wie hier -
bei der Erfüllung der ursprünglichen, verfassungsrechtlich unbe-
denklichen Aufgaben verbleibt und die neuen Aufgaben den Cha-
rakter des Zwangsverbands nicht wesentlich verändern.

II.

Allerdings können die Mitglieder öffentlich-rechtlicher Zwangs-
Verbände nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
von dem Verband die Einhaltung derjenigen Grenzen verlangen,
die seiner Tätigkeit durch die gesetzlich festgelegte Aufgabenstel-
lung gezogen sind. Das ergebe sich insbesondere aus Art. 2 Abs. 1
GG, der dem einzelnen Mitglied ein Abwehrrecht gegen solche
Eingriffe des Verbandes einräume, die sich nicht im Wirkungskreis
legitimer öffentlicher Aufgaben hielten oder bei deren Wahrneh-
mung nicht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprochen werde
(vgl. BVerwGE 59, 231).

Diese unter anderem für die Tätigkeit der verfaßten Studenten-
schaft entwickelte Rechtsprechung kann aber nicht ohne weiteres
auf alle anderen öffentlich-rechtlichen Zwangsverbände übertra-
gen werden. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Verbürgung
einer solchen Klagemöglichkeit des Mitglieds gegen den Zwangs
verband läßt sich nicht einheitlich beantworten. Wenn die Tätigkeit
des Verbandes über die Beitragspflicht hinaus in eigene Grundrech-
te des Mitglieds eingreift, liegt es nahe, eine solche Klagemöglich-
keit von Verfassungs wegen anzunehmen (vgl. BVerwG, a.a.O.).

Im vorliegenden Falle wird die Beschwerdeführerin dagegen ver-
fassungsrechtlich nur in ihrem Vermögen als Beitragspflichtige be-
troffen. Aus den Grundrechten folgt kein Anspruch auf generelle
Unterlassung einer bestimmten Verwendung öffentlicher Mittel
(vgl. BVerfGE 67, 26 [37]).

III.

Da sich eine Klagebefugnis der Beschwerdeführerin nicht aus der
Verfassung ergibt, ist hier die Auslegung und Anwendung des § 54
Abs. 5 SGG allein Sache der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit und
ist der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen.

(gez.) Herzog Niemeyer Henschel
Seidl Grimm Söllner
Dieterich

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